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Fritz Rudolf Fries

Blaubarts Besitz

Roman

 

 

 

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Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Impressum

Erster Teil

Erstes Kapitel

Der Tod ging durch den Schlaf. Jedem Schläfer im Haus gab er einen anderen Traum. Blaubarts Schlaf war ein Boot ohne Tiefgang; er schreckte oft auf, verwechselte, was er träumte, mit den Schatten an der Zimmerwand, bedrohlich nach ihm greifende Äste, die der Mond durchs Fenster schickte mit der rätselhaften Botschaft eines Kalligraphen. Rollbilder gab es viele im Haus, aus dem alten China in diese sächsische Provinzstadt R. gebracht, dank der Sammlerwut des alten Blaubart. Blaubart der Jüngere hatte sie später zusammensuchen müssen, die Rollbilder und Tuschzeichnungen, in den Müllhalden der Enteigner gefunden, die in Zeiten der Papiernot oft die Rückseiten der Blätter benutzt hatten für die neuen Parolen: WÄHLT LISTE EINS oder SO WIE WIR HEUTE ARBEITEN WERDEN WIR MORGEN LEBEN. Die Blaubarts hatten durch drei Generationen immer nur das gewollt und gewählt, was sie am Leben erhalten hatte.

Und der Tod ging durch den Schlaf Carolines, die Blaubarts Frau war. In diesen Jahren der allgemeinen Besitzergreifung hatten sie einander verloren. Ein jeder schlief hinter verschlossener Tür in seinem eigenen Bett. Carolines Schlaf war ein tosendes Meer, sie stets eine Schiffbrüchige und froh, wenn es nur ein Traum war. Der Wecker am Morgen nahm täglich von ihr Besitz, sie liebte diese Aufforderung, sich dem neuen Tag zu stellen. Minuten vor der alarmierenden Glocke verließ sie das schmale Bett und vertauschte die Wärme der Nacht mit dem lauen Wasser im Pool, stieg im Kellergeschoss nackt ins matte Licht sparsamer Beleuchtung, so als hätte man die Glühbirnen nicht ausgetauscht, seit die Umsiedler 1945 ihre Winterkartoffeln hier gelagert hatten, benutzte die eine und andere schweißtreibende Maschine, die zur Gesundheit ihrer Käufer erfunden worden war, prüfte das Wetter durch das gewaltige Spiegelglas, das den Blick in einen Park freigab, der sich dem Betrachter entgegen wölbte wie die Brust einer Liegenden. Es war Schnee gefallen, die Brust war die einer verhüllten Göttin aus Stein.

Und der Tod, der durch den Schlaf ging, störte am wenigsten Mortons Träume in seinem Korbsessel in der Veranda. Der Kater schlief keine Minute länger als seine Herrin, kaum dass er ihre Verspätung mit einem Kratzen an der Tür bekannt gab; er hieß Morton der Rote, nach der Farbe seines Fells, und er war in seinen Ansprüchen ein Prolet mit allen Anzeichen einer unterdrückten Klasse. Seine weiße, breite Brust wölbte sich wie die Brust eines Tigers. Er liebte Caroline. Heute plagte ihn vor der Zeit Unruhe, er sah den Schatten des Todes über sich, er sprang auf, ein Zittern befiel ihn, er ließ Wasser, ohne es zu merken, die Angst vor dem Schatten war größer, er musste Schutz suchen, er kratzte an der Tür, er rief mit seiner altklugen Kinderstimme, er zitterte, es drückte ihn etwas zur Seite, er fiel um, sein Herz blieb stehen.

Caroline fand ihn und schrie auf. Ihr linker Arm, der das seltsam steife Tier berührte, empfand einen stechenden Schmerz, sie schrie noch einmal und meinte die Ohnmacht, die sie bedrohte und die so lange nicht eintreten würde, wie sie den stechenden Schmerz in der Herzgrube wahrnahm und aus dem weit geöffneten Mund entlassen konnte. Sie öffnete den Bademantel und suchte nach dem Telefon in der Tasche des Mantels. Sie fand es nicht.

Ich sterbe, sagte sie zu dem alten Mann, der sich ihr näherte und ein Gesicht machte, als könne er diese Ausrede am wenigsten dulden, die sie aus jeder Verantwortung für den Tag befreite. Also auch aus der Verantwortung für ihn.

Ich sterbe, hilf mir, bitte … Ruf den Krankenwagen.

Blaubart nickte und sog sich an ihrer Gestalt fest. Wie lange hatte er sie nicht gesehen, nicht so gesehen, in dieser verhüllten Nacktheit. Wie alt war sie eigentlich? Ihre Brüste hatten weder an Größe noch an Farbe verloren, ihr Bauch, den sie mit ausgesuchter Trenn- und Diätkost fütterte, war flach, und was ihn noch näher zu ihr hinzog, war ihre Wärme, dieser Hauch eines duftenden Leibes, der sich anbot wie eine Speise dem Hungrigen, und Blaubart war ein hungriger Mann, der diese Speise sah und nach Jahren noch immer begehrte.

Komm, sagte er, ich bring dich in mein Zimmer und rufe den Krankenwagen an. Ein kleiner Anfall, es geht vorüber.

Nicht in dein Zimmer, sagte sie, ich will nicht. Ich will …

Blaubart nickte und spürte, wie sie in seinen Armen erschlaffte und eine Ohnmacht sie ihm entführte und zugleich willig machte. Der Schweiß brach ihm aus, da er sie die letzten Meter zu seinem Bett mehr zog denn trug. Da sie endlich auf dem Rücken lag, die Augen noch immer geschlossen, bedeckte er ihre Nacktheit mit dem Bademantel, der ihr von der Schulter gerutscht war; er bedeckte sie, ohne der Versuchung widerstehen zu können, sie ein wenig zu drapieren, als legte er sie in ein Schaufenster, dessen Betrachter und möglicher Kunde er allein war.

Dann wischte er sich mit dem wenigen Grauhaar auf seiner Stirn den Schweiß weg und besann sich. Einen Krankenwagen würde er nicht alarmieren; er konnte die professionelle Eile dieser rot gewandeten Helfer, die der Hölle entsprungen schienen, wenn auch der nicht weniger apodiktischen Hölle der Samariter, nicht leiden. Die würden hier wie eine Besatzungsmacht die Weihe des Hauses zerstören, den zertrampelten Schnee an ihren Schuhen über die Teppiche verteilen, und Caroline wie eine Beute in eine Tuchbahre packen, und sie ihm auf Nimmerwiedersehen entführen.

Nein, nein. Wozu hatte man in all den Jahren ein System von Freunden aufgebaut, die einander halfen und nützlich waren wie die Freimaurer, zu denen sein Großvater noch gehört hatte. Er nickte dem Alten zu, der, von Liebermann gemalt, als protziger Ölschinken an der Wand hing. Der Alte nickte zurück. Sicher war ihm der Enkel lieber als der eigene Sohn, der im Dritten Reich, so glaubte er, den schlechten Ruf der Familie hatte verbessern wollen, indem er sich Nickel B. Bart nannte und als Lebensmittelchemiker auf seine Art ein Kriegsgewinnler wurde.

Er rief den Dr. Krappke an, der um diese Morgenstunde seine Praxis an der vom Hochwasser verschonten Stadtmauer öffnen und mangels Klientel für eine Ablenkung dankbar sein würde. Woher und seit wann kannten die Herren sich? Blaubart wollte dieser Frage jetzt nicht nachgehen, es hatte mit Dankbarkeit zu tun, nur wer hatte wem einen Gefallen getan in den Zeiten, da man gezwungen wurde, ein Doppelleben zu führen? Bei Lichte gesehen, ging das Doppelleben weiter. Denn etwas wurde immer verheimlicht, wenn es mit der jüngsten Vergangenheit zu tun hatte.

Krappke kam, als hätte er schon an der Straßenecke gewartet. Er kam nicht zu Fuß, das tat keiner, der es in der neuen Zeit in R. zu etwas gebracht hatte. Er kam in einem schwarzen Mercedes L, ein Auto groß und breit genug für eine große und breite Erscheinung wie Dr. Krappke. Blaubart öffnete ihm die Tür; das Hausmädchen kam nicht vor zehn Uhr, und an einem Schneetag wie heute musste man fürchten, dass sie mit ihrem Fahrrad stecken blieb. Sie war eine altmodische Person; von denen gab es viele in R., die aufgrund mangelnder geographischer Kenntnisse sich nicht trauten, über den Tellerrand der eigenen Provinz zu schauen, die ja eine schöne Provinz war, wo die schönen Mädchen, wie gesungen wurde, auf den Bäumen wuchsen; mit Wäldern und Auen, Flüssen und historischen Ruinen, mit Weinanbau und Manufakturen, mit einer Textilindustrie, die einst den alten Blaubart reich gemacht hatte. Mit der Textilindustrie kamen aus ganz Deutschland die Arbeiter in den Ort; auch Krappkes Großvater, der dem Enkel den Wuchs und die Unbekümmertheit vermacht hatte. Darin waren sie Gegensätze, Blaubart und er. Blaubart geigte und spielte Klavier und sammelte alles, was auf dem Musikmarkt von Mozart erschien; Krappke hatte für Musik das empfindliche Ohr eines Hundes, weshalb er ständig etwas pfiff, das er auf Offenbach und Puccini bezog, worüber Blaubart freundschaftlich hinweghörte.

Jemand gestorben? polterte Krappke, als er durch die Tür kam und seine Hebammentasche (es war tatsächlich eine) auf den Chippendale-Tisch knallte.

Blaubart legte einen Finger auf die Lippen und dirigierte den Arzt in sein Zimmer.

Mann, sagte Krappke, das verbotene dreizehnte Zimmer! Nichts Gutes kann einem Christenmenschen hier begegnen.

Dann sah er Caroline und pfiff durch die Zähne. Da konnte heißen: Sie, hier in deinem Bett? Ihr habt euch ausgesöhnt und es ist ihr nicht bekommen? Hätte eher vermutet, es hätte dich überfordert, mein Gudster …

Das Herz, sagte Blaubart und ließ es zu, dass der Arzt Carolines Oberkörper freilegte und seine Apparate an-brachte, um sie abzuhören.

Schwach, sagte er, aber nur vorübergehend. Ein gestörter Rhythmus, zu viel atonale Musik, vermutlich, die du ihr zugemutet hast. Ein paar Tage Bettruhe, zwei Scheiben Brahms pro Tag, und sie springt dir davon. Er gab ihr eine Spritze, die Carolines Schlaf verlängern würde.

Dr. Krappke schrieb ein Rezept aus. Eine Mitgliedskarte bei einer der Krankenkassen verlangte er nicht, er war ein altmodischer Arzt, Freunde bekamen eine Rechnung, zahlbar bis Ultimo.

Übrigens, sagte er, als er sich in der Küche die Hände wusch, hast du gewusst, dass im Kreise D., dem anzugehören R. die Ehre hat, die Frauen laut Statistik 79 Jahre alt werden? Etwa sechs Jahre mehr als die übliche Lebenserwartung von uns Männern. Wie alt bist du?

Blaubart schüttelte den Kopf, was alles heißen konnte.

Noch länger leben die Weiber im Landkreis Leipzig, sagte der Arzt. Da kann man sehen, dass alles das mit der schlechten Luft Propaganda des Klassenfeindes war. In zehn Jahren werden wir vermutlich eine andere Statistik haben.

Verträgst du einen Schnaps? fragte Blaubart und lud ein, am Küchentisch Platz zu nehmen.

Immer, sagte der Arzt, der stets von einer kleinen parfümierten Wolke umgeben war, die aus Duftessenzen und Alkohol gemischt war. Er sah ich um und sagte: Erinnere mich. Neunzehnfünfundvierzig, als die Russen kamen und euch auf die Straße setzten. Eine Weile zog die erste Poliklinik hier ein, und ich hatte meine erste Assistentenstelle, ich glaube, ich saß in deinem Geheimzimmer.

Du irrst, sagte Blaubart. Das hier wurde der Kindergarten. Frag Caroline, sie erinnert sich.

Wie auch immer. Sie nahmen deinen Großvater von der Wand und hingen ihren Stalin auf, der den kleinen Mädchen beim Pinkeln und Kacken zusah. Die Perversion der Diktatoren. Macht sie übrigens menschlich.

Des Doktors Handy klingelte: Eine Patientin, sagte er. Du erinnerst dich, die Sekretärin vom Bürgermeister. Früher, meine ich. Kann ich nicht nein sagen.

Was fehlt ihr denn ?

Nichts weiter. Nur ein wenig Nachlassen der Erinnerung.

Die Herren verabschiedeten sich mit Händedruck. Der tote Morton lag noch immer in der Veranda. Blaubart rief den polnischen Hausmeister an, der sich um Haus und Garten kümmerte und in der Nachbarschaft wohnte. Das tote Tier brauchte ein Begräbnis. Er unterdrückt den Wunsch, den steifen Kadaver zu berühren. Mortons blaue Augen starrten glasig in den Schnee. Ein schöner Tag, dachte Blaubart, er würde in der Bibliothek einige japanische Gedichte lesen und etwas von Stockhausen oder Ligeti auflegen und später nach Caroline sehen. Da er den Kochkünsten des Hausmädchens nicht traute (alles was sie konnte waren Knödel und Palatschinken), würde er ein Essen beim Chinesen bestellen. Und er musste in Carolines Bücherstube anrufen, dass die Prinzipalin heute wegen Krankheit nicht erscheinen konnte.

Zweites Kapitel

Hasemicke ging gern in den Kindergarten. Weder Oma Puschi noch Mutter Traudel mussten sie dazu überreden. Sie war Traudels Lieblingskind, auch wenn sie ihr bei der Geburt lieber einen anderen Namen gegeben hätte. Etwa Christa, Helga, Gisela, Uschi, oder Namen, wie man sie jetzt manchmal im Radio hörte, wie Schackliehn, Manuela oder Ella. Aber beim vierten Kind passt man nicht mehr so auf, und außerdem sollte diesmal der Papa das Sagen haben; der war gerade von den Russen entlassen worden, aus Gefangenschaft, und dem fiel nicht anderes ein als Caroline, und ich frage Sie, woher der Mann so einen ausländischen Namen wohl kannte. In Paris war der nicht gewesen als Soldat und ins Kino brachte den auch keiner rein. In Gottes Namen, denn: Caroline. So recht konnte unsereins mit dem Namen nicht umgehen, er blieb steif wie ein trocken gebügeltes Wäschestück. Und davon verstand sie was, seit Oma Puschi ihr Land verkauft hatte und sie wie Ausgebombte oder wie diese armen Flüchtlinge aus’m Osten in die Stadt gezogen waren. Sie hatte wohl der halben deutschen Armee die Unterhosen gewaschen, und ob die Russen ihr nun die Arbeit verlängern würden, das hing von Anton, ihrem Mann, ab, und ob der sich weigerte, an der, wie sie’s nannten, Wiedergutmachung teilzuhaben und bei den Russen in der Wismut zu arbeiten. Im Stollen, als Bergmann, der er ja war, aber Wismut war keine Kohle. Was war es denn dann? Ihr sagte ja keiner etwas, sie galt als zu dumm, Antons Traudel, zum Kinderkriegen aber hat es allemal gereicht.

Caroline verstand nichts von dem, was ihre Mutter vor sich hin erzählte. Sie ertrug die Haarbürste und die morgendliche Tortur, das störrische Blondhaar zu bändigen, zu einer Tolle auf dem Scheitelpunkt des Kopfes zu rollen und mit einer Schleife aus Oma Puschis Sammlungen zu krönen. Sie ertrug es mit dem Stolz und der Eitelkeit einer Dreijährigen, die sich, was keiner wissen durfte, mit dem Drachen im Schloss verabredet hatte, denn das Schloss war nur scheinbar ein Kindergarten, und der Drache scheinbar ein Kinderfresser, weil er auf die kleine Caroline hörte und den anderen Kindern nichts tat. Das Schloss war wie in den Märchenbüchern, die sie in einem Zimmer gefunden hatte, das sonst keiner kannte und betrat. Aus dem Dach ragten lauter kleine Türme, von denen einige Rauch pusten konnten, wovon die Augen am Dach dieses blinde Aussehen hatten. Es war ein Riesenspielzeug, das ganze Gebäude auf seinem Hang und aus sandbraunem Stein wie aus dem Ankerbaukasten gebaut, und eines Tages, so hatte der Drache versprochen, würde alles ihr gehören. Der Drache sah alles, er schaute von den Wänden und hatte seine Untergebenen um sich, die hießen Lena, Wilhelm, Otto und sahen aus, wie die Brüder ihres Vaters, an den sie nie dachte, einmal aussehen würden, wenn sie ganz alt wären.

Caroline war die Kleinste in ihrer Gruppe, sie galt als flink und aufgeschlossen und sie schämte sich, ihr Geschäft mit den anderen Kindern in einer Reihe zu machen. Sie zog den kleinen Unterrock, den Oma Puschi genäht hatte, tief über die dicken Knie, sie zog einen Flunsch, wie um Anstrengung anzudeuten, sie wartete und war die Letzte. Wer nichts zustande brachte, bekam die Semmeln vom Vortag; die lagen ganz oben, um zu täuschen; wer Bescheid wusste, grub tiefer in dem Korb und zog ein knackfrisches Ofenbrötchen hervor, noch warm und zum Aufessen zu schade. Ein Blick des Drachens von seiner Wand herunter genügte, um Disziplin zu zeigen. Disziplin war das erste Fremdwort, das Caroline lernte und zu Hause Traudel, ihrer Mutter, erklärte. Freilich durfte ihr Vater nicht dabei sein. Der hätte sie beide ausgelacht.

In der Malstunde wurde auch gesungen, je nach Jahreszeit von Osterhasen oder Tannenbäumen, und das Jahr über das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube oder die Nationalhymne, die schließlich jedes Kind kennen musste. Als sie mit dem Text endlich klarkamen und keiner mehr auferstanden aus Urinen (statt Ruinen) sang, wurde der Text gestrichen und es durfte nur noch die Melodie gesungen werden. Der Drache wird es so angeordnet haben, dachte sie, jeden Tag dieselben Worte, das war wie jeden Tag Eberzähne – sprich du hochdeutsch, also: Graupen essen müssen … Dann kamen schönere Lieder wie das vom Sandmännchen, das manche Kinder persönlich kannten, weil ihre Eltern etwas hatten, was man einen Fernseher nannte. Caroline brauchte das alles nicht, ihr Sandmann, in der Malstunde, geriet so prächtig, er hätte der Ritter des Drachens sein können. Nur stand in den Märchen, dass Ritter den Drachen besiegen, indem sie ihm eine Lanze tief in den Schlund bohren. Es musste ein Tod sein wie der von Oma Puschi, die eines Tages an einem Hühnerknochen erstickte, obschon sie mit Hühnern Erfahrung hatte. Aber es war das erste Suppenhuhn, das auf den Tisch gekommen war. Es galt, ständig auf der Hut zu sein und was man wusste und kannte nicht zu vergessen und zu verlernen. Caroline malte sich selber, um sich nie zu vergessen: etwas längere Beine hätte sie sich gerne gemalt, aber sie wollte ehrlich sein, und so glichen die Mädchen, denn sie malte sich im Plural, dicken kleinen Hühnern mit schwarz gesprenkelten Federn. Seitdem nannte sie die Tante, die vor Jahren aus Frankreich nach R. gekommen und geblieben war, weil sie keine Angst vor den Russen hatte, ma petite Boulotte. Ein Name, der kaum die Runde machte und die anderen Kinder nicht interessierte.

Traudel vergoss ein paar Tränen beim Anblick der Hühnchen. War es wegen Oma Puschi oder weil man Hühnern allgemein keine große Lebenserwartung einräumt? Ich dachte, du bist meine Hasemicke?

 

* * *

 

Die Kranke öffnete die Augen. Wo war sie? Noch immer im Kindergarten. Hier in diesem Zimmer stand die große Schiefertafel, an der sie das große C ihres Namens geübt hatte, ein Buchstabe, der sie immer geärgert hatte, seiner Unvollkommenheit wegen. Ein offener Buchstabe, wie eine offene Tür. Wer würde hereinkommen?

Sie sah nach der Tür. Ein Mensch, ganz in weiß gekleidet, ein Arzt also, kam herein und trat an ihr Bett. Sie erkannte ihn, es war Dr. Krappke.

Na, sagte er und nahm ihre beiden Hände in seine Pranken, heute schauen wir doch schon ganz anders aus der Wäsche. Caroline betrachtete ihn mit ihrem ausdruckslosen blauen Blick. Der Mann fühlte ihren Puls und legte sein Stethoskop an, und er gab der Frau, die er mitgebracht und die seine als Krankenschwester gekleidete Sprechstundenhilfe war, ein paar Anweisungen. Die Frau sah sich nach Waschlappen und Seife um und fand alles in dem blau gekachelten Nebenraum, der Blaubart als Privatbadezimmer diente.

Alles bestens, sagte Krappke und korrigierte sogleich seinen Optimismus: Ein paar Tage halte ich Sie hier noch in meiner Privatklinik fest, im Einvernehmen mit Ihrem Gatten, dann sehen wir weiter.

Hier? fragte Caroline und entzog sich wie eine Katze den Waschungen der Assistentin. Ihre Privatklinik? Aber bald überkam sie der Schlaf.

Hier, wiederholte Dr. Krappke, mein bestes Zimmer. Übrigens wird Ihr Gatte Sie heute besuchen, Besuchszeit ist hier immer, und Schwester Ingrid – er verbeugte sich in Richtung seiner Gehilfin – bringt Ihnen, was immer Magen und Kehle begehren.

Das war ein Komplott, dachte Caroline, was hatten die mit ihr vor, sie würde sofort aufstehen und sich überzeugen, dass sie sich noch immer in Blaubarts Villa befand, und ihm erklären, dass sie seine Gefangene nicht sein wollte.

Dr. Krappke zog eine Spritze auf, die Schwester beeilte sich, die Einstichstelle zu desinfizieren und ein Pflaster bereitzuhalten. Wie viele Spritzen hatten sie im Kindergarten über sich ergehen lassen, das französische Fräulein litt mit ihnen, wenn sie gegen Keuchhusten, Diphtherie, Masern und was sonst noch geimpft wurden und der ganze Saal zu jammern und zu heulen anfing und gegen die verschlossenen Türen anzurennen versuchte. Und was waren das für Türen. Gewaltige Doppeltüren, die, aus edlen Hölzern gefügt, sich so weit öffnen ließen, dass der Drache samt Gefolge an edlen Damen und Lakaien hindurchschreiten konnte wie ein zur Parade ausziehender Fürst.

Das französische Fräulein kannte furchtbare Geschichten über den Drachen, den sie meinte (und der höchstens ein Verwandter des Drachens sein konnte, den Caroline meinte). Ah, ma petite Boulotte, er sei ganz zu Recht aus diesem schönen Haus hinausgeworfen worden, als die Befreier kamen, er habe hier auf seinen Schätzen gehockt und niemandem etwas abgegeben, als die armen Leute aus dem Osten vertrieben hier ankamen und kein Bett zum Schlafen hatten. Und er habe sie mit vergiftetem Essen umbringen wollen, denn er war ein Meisterkoch, aber einer von denen, die aus Ratten und Mäusen eine Hasenpastete zu machen verstünden und schlimmer noch, in seinen Retorten und Tiegeln habe er Bonbons gekocht, die einen Tag satt machten, falls man ihre Wirkung überlebte. Doch da kamen die Genossen von der Roten Armee und nahmen ihn fest, und weil sie eben noch an der Mulde, sur le pont d’Avignon sozusagen, sich mit den Amerikanern getroffen, mit ihnen gegessen, gesoffen und getanzt hatten, kamen sie auf die verrückte Idee, ihren Gefangenen gegen einige Stangen Chesterfield, etliche Büchsen Spam, Trockenmilch und etliche Kartons Whisky, Kaugummi und Hearshey Milchschokolade zu verkaufen und ihnen das Geheimnis seiner alchimistischen Künste ins Ohr zu flüstern. Und die Amerikaner, die auf ihre Art genauso große und dumme Kinder sind wie die Russen, glaubten, einen guten Fang gemacht zu haben, und gaben den Mann weiter an ihre rückwärtigen Dienste und immer weiter zurück, bis er in lowa oder hinter den Appalachen die richtigen Leute fand, die ihm abkauften, was er konnte, und er seine Patente also in die amerikanische Food Industry stecken konnte, zunächst ins Fach Konservierung, weshalb die Amerikaner dem nächsten Krieg getrost ins Auge schauen können, denn sie hatten bald so viele Spambüchsen und K-Rationen, die haltbarer waren als ihre Raketen und besser zu hüten als die Geheimnisse ihrer Atombombe, wie man an den pauvres Rosenbergs sehen kann, die sich auf ihre Art bei den Russen bedankt haben, weil die alle Juden und Antifaschisten aus den deutschen Lagern gerettet haben, und also gaben sie ihnen die amerikanischen Geheimnisse. Aber noch, liebe Kinder, tanzen sie auf der Brücke über der Mulde, spielen Balalaika, Ziehharmonika und Grammophon, und die Russen öffnen weit die Flügeltüren und bitten die armen Leute herein, um es sich in Blaubart seniors Himmelbetten und Chaiselongues bequem zu machen. Sie selber haben es ihnen vorgemacht, den armen Leuten, und ein wenig die im Krieg abgewetzte Garderobe aufgefrischt und sich neue Mäntel geschneidert aus den Vorhängen und Teppichen des bösen Drachens. Und nicht entdeckt haben sie die Vorräte des ersten Drachens dieser Dynastie, der in R. die Textilindustrie groß gemacht hat und immer den Zehnten an gewebten Stoffen, gesäumten Laken und Spitzendecken für sich behielt und in diese in die nach Kampfer und Lavendel duftenden Truhen packen ließ. Und ein Glück! Denn als unsere Deutsche Demokratische Republik ausgerufen wurde, Kinder das Datum bitte …! Ja, danke. Hatten die russischen Freunde, die es endlich gefunden hatten, ein Geschenk, und Boulottes, ich meine Carolines Omi Puschi musste Tag und Nacht Kinderkleidung nähen, und die Volkssolidarität verteilte alles kostenlos auf dem Markt unter den wachsamen Augen der Vopos und den Pirouetten drehenden, Rad fahrenden Rotarmisten …

Caroline schlief unter der Wirkung der Injektion langsam ein. Es konnte nicht sein, dass dieser Tag so lang war, so kein Ende fand. Gleich wird das französische Fräulein das Zeichen zum Aufräumen und Anziehen geben, und gleich werden aus dem Nebenzimmer, wo die größere Gruppe randaliert, ihre Brüder Albrecht und Anton hereinstürmen, dass sie kaum Zeit hat, die langen Strümpfe richtig ans Leibchen zu knöpfen und den Muff umzuhängen, und dabei vergessen, die Stiefel zuzuschnüren, und dann werden sie in den Schnee stürmen, die nicht zu unterscheidenden älteren Brüder an ihrer Seite, denn sie sind Zwillinge, wenn auch zweieiige, von ihrem Vater nach der Schlacht von Stalingrad gezeugt, im Jubel gezeugt, mit dem Leben davongekommen zu sein und ausgeflogen zu werden wegen eines erfrorenen Fußes (den in der Heimat Traudel so lange in ihren Waschbottich steckte, bis er auftaute und er wieder mit all seinen und ihren Zehen spielen konnte), und sie stoßen Caroline in den Schnee, die, die Händchen im Hasenmuff, keine Balance halten kann, aber sie weint nicht. Schlimmer wäre, den Heimweg allein im Dunkeln machen zu müssen.

Drittes Kapitel

Blaubart – nennen wir ihn korrekterweise Blaubart III. – hatte für den Krankenbesuch lange vor seinem begehbaren Kleiderschrank gestanden. Der graue Zweireiher mit Weste? Zu ernst, um einer Kranken Hoffnung zu suggerieren. Andererseits durfte nicht der Eindruck entstehen, er käme aus dem Nebenzimmer. Nein, nein, er war soeben aus seinem Daimler gestiegen, ein gut durchlüftetes, gut beheiztes Automobil, darin man auch an diesem Wintertag getrost ohne Überzieher fahren konnte. Und so wählte er zu einem fein gestreiften Oberhemd mit dunkler Krawatte die weinrote Strickjacke, die Caroline ihm einmal geschenkt hatte. Die Blumen nicht vergessen. Die in der Vase sahen nicht mehr frisch genug aus; er würde also doch ins Auto steigen und zu Blumen-Hanisch am Markt fahren müssen. Er sah auf die Uhr: nun, ihn würden sie auch in der Mittagspause bedienen. Der Blick in den Spiegel behagte ihm. Von seinem Großvater hieß es, er habe sein Konterfei nie im Spiegel erblicken können – eine dumme Legende aus dem Märchenland, wo der Böse, im Pakt mit dem Teufel, sein Spiegelbild verkaufen muss. Er hingegen erkannte sich sehr genau, einen alten, in den Gesichtszügen gut konservierten Mann, eher sportlich als korpulent, eine Strähne weißer Haare kokett in die gebräunte Stirn geschnitten. Er rieb sich die Hände mit einem Duftwasser ein, das er aus England bezog, und führte die so angefeuchteten Handflächen an die grauen Schläfen. Vom Scheitel bis zur Sohle ein Gentleman, un homme a femmes, a womanizer, wie die Amerikaner ihm zu sagen beigebracht hatten, als sie sich aus Sachsen verabschiedeten und den Russen das Feld überließen.

Die weichen Stiefel schwebten über gefegte Wege, der polnische Hausmeister hatte wie immer ganze Arbeit getan; der Wagen sprang an wie ein Dornröschen, das darauf gewartet hat, endlich geweckt zu werden. Er fuhr in den Ort, das heißt der Weg führte ihn abwärts, als käme er aus einem Schloss in der Höhe. Aus Furcht vor Hochwasser hatte sein Großvater damals hoch oben, am Rande der Wolken, wie er sagte, gebaut, oder war es aus der Absicht geschehen, um wie ein Adler auf seinen Ort herabspähen zu können?

Blumen-Hanisch hatte geschlossen, doch auf ein Klopfzeichen öffnete die Chefin persönlich, und auch das war das Gute an der neuen Zeit: der Kunde war wieder König, wenn er das Zeug dazu hatte. Blaubart III. schob einen zusammengerollten Geldschein in die einer Vogelkralle ähnelnden Rechte der Chefin und nannte seine Wünsche. Nein, eintreten wolle er nicht, er habe es eilig.

Die Auslage faszinierte ihn. In dieser grauen Schneeluft, im von einem schmalen Schneestreifen gerahmten Schaufenster eine andere Jahreszeit zu erblicken, diese Blumen mit den Mädchennamen anderer Länder und Klimazonen, diese mittelmeerischen Mimosen und afrikanischen Lilien, auch wenn sie künstlich hochgezogen waren und den Schaufensterpuppen nebenan glichen, künstliche Produkte und keinesfalls eingeflogen. R. war keine Hauptstadt dieser Welt, R. war die perfekte Imitation einer solchen Stadt. Blaubart III. liebte die Imitation und die Künstlichkeit. Sein Leben mit Caroline hatte der Absicht gedient, aus ihr ein künstliches, sein künstlerisches Produkt zu machen.