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Kai Weyand

Applaus für Bronikowski

Roman

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Für Timna

 

 

 

 

 

 

 

 

Der achtzehnte März brachte die erste warme Frühlingsluft des Jahres. NC wurde an diesem Tag einunddreißig, und außer der Gewissheit, dass sein Bruder anrufen würde, um ihm zu gratulieren, hatte er keine Vorstellung, was er sich vom diesem Ereignis versprach. Sein Bruder erledigte alle Dinge gern sofort, am liebsten noch bevor sie überhaupt stattfanden, und so hatte NC schon am Vorabend gehofft, sein Bruder möge gleich frühmorgens anrufen, damit er das Gespräch mit der Begründung, er sei sehr müde, möglichst kurz halten könnte. Aber der Anruf kam erst gegen halb zwei, als Bernd, der in London in einer großen internationalen Bank arbeitete, in die Mittagspause ging. NC wusste nicht viel über seinen Bruder, außer dass er es sich leisten konnte, seine Hosen zur Reinigung zu bringen, ohne vorher die Taschen nach vergessenem Geld durchzusehen. Sie hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen, und abgesehen von den Telefonaten zu den Geburtstagen pflegten sie kaum Kontakt. Auf die Anrufe hätte er ebenso gern verzichtet wie auf die Erinnerungen, die er mit dem Bruder verband. Aber sie waren so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, auf dessen Einhaltung vor allem Bernd Wert legte, der fünf Jahre älter war als NC. Und solange das stillschweigende Abkommen nicht gebrochen wurde, die Eltern unerwähnt zu lassen, und Bernd keine Anstalten unternahm, die Anrufe durch Besuche zu ergänzen, war NC bereit, sie in Kauf zu nehmen. Obwohl auch Bernd weit davon entfernt war, die Telefonate mit seinem jüngeren Bruder als Vergnügen zu begreifen. Sie waren lediglich einem Gefühl der Verantwortung geschuldet, das ihm vor achtzehn Jahren auferlegt worden war.

 

Als NC dreizehn war, trug er noch seinen Namen Nies. Er war eine Abkürzung von Dionysos, dem griechischen Gott des Weines, und wurde übersetzt mit ›der Fröhliche‹. Seine Eltern waren bei einer Weinprobe auf den Namen gekommen. Abgesehen davon, dass er in der Schule meistens nur Hatschi genannt wurde, konnte er angesichts späterer Entscheidungen seiner Eltern froh sein, dass sie ihn nicht Riesling oder Müller-Thurgau genannt hatten. Immerhin war sein Name ein Zeichen dafür, dass seine Eltern ihn für etwas Besonderes hielten, dachte er. Warum sollte sich jemand einen außergewöhnlichen Namen für sein Kind suchen, wenn es ihm eigentlich egal war? Außerdem war er nicht unfröhlich.

 

Aber dann kam eines Tages im November das Abendessen, das zwar wie immer genau neunzehn Uhr begann, aber nicht wie sonst mit leeren Tellern, gefüllten Bäuchen und mittlerer Laune endete. Nies hatte sich schon am Nachmittag gewundert, dass seine Mutter in der Küche laut mit Geschirr hantierte. Ein Römertopf stand bereit, und die ganze Küchenablage war vollgestellt mit Schüsseln, Raspeln, Gewürzen und anderen Dingen, die deutlich machten, dass dem Tag das Alltägliche genommen werden sollte. Es musste etwas Außerordentliches vorgefallen sein, wenn es nicht wie sonst Brot und Aufschnitt geben sollte.

NC hatte noch immer das Lächeln seines Vaters deutlich vor Augen, wie er sich voller Vorfreude an den Tisch setzte und seiner Frau verschworene Blicke zuwarf, als sei er sich der Überraschung bewusst, die es hervorrufen würde, wenn sich gleich das Geheimnis lüftete. Nies spürte ein Kribbeln im Bauch, das ihn sonst nur zu Weihnachten und Geburtstagen befiel, wenn sein Vater ebenso geheimnisvoll tat und auch seine Mutter geschäftig die Besonderheit der Tage unterstrich.

Nies und Bernd sollten raten. Nies tippte auf einen Familienurlaub in Übersee, Bernd auf ein neues Auto.

Übersee ist nicht falsch und neues Auto ist auch nicht falsch, sagte ihr Vater, aber ganz richtig ist es auch nicht.

Nies und Bernd schauten sich fragend an. Mehr?, fragte Bernd.

Die Mutter fing an zu lachen, und der Vater hob die Schultern, als sei er ahnungslos.

Nies strahlte. Ein Haus!, rief er und schlug sich die Hände vors Gesicht, als sei er selbst erschrocken über das Ausmaß an Neuigkeiten, das sich da vor ihm auftat.

Auch nicht falsch, sagte der Vater, und die Mutter forderte ihn lachend auf, die Kinder nicht länger auf die Folter zu spannen.

Schließlich nannte der Vater sechs Zahlen, die ihnen einen hohen fünfstelligen Gewinn bei einer Lotterie beschert hätten. Wahnsinn, oder?, rief er erregt, einmal im Leben Glück, und grad, wenn’s passt.

So sehr sich Nies gerade noch gefreut hatte, so ratlos war er auf einmal. Einmal im Leben Glück. War sein Vater bisher unglücklich gewesen?

Das Geld reicht für einen Neuanfang, sagte der Vater. Er legte seine rechte Hand auf die seiner Frau, drückte sie, zwinkerte seinen Söhnen zu und sagte: Auch für euch.

Nies konnte das Lächeln seines Vaters nicht erwidern. Er senkte seinen Blick. Warum hatte er auch für euch gesagt und nicht für uns? Sprachen sie nicht sonst immer von wir und meinten alle vier, die ganze Familie?

Wozu brauchen wir einen Neuanfang?, fragte er. Nies ahnte plötzlich, dass seine Eltern und er die Vergangenheit unterschiedlich wahrgenommen haben mussten. Es fiel ihm schwer, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten.

Jeder Mensch hat einen Lebenstraum, sagte sein Vater, und wenn die Chance da ist, ihn zu leben, muss man das tun.

Genau so ist es, stimmte Bernd zu, sein Vater lächelte, und die Mutter fuhr ihm mit der Hand zärtlich über die Wange. Nies spürte einen Stich ins Herz.

Was ist denn euer Lebenstraum?, fragte er schließlich und ärgerte sich, dass seine Stimme in die Höhe sprang, als hätte er Angst vor etwas.

Kanada, sagten seine Eltern wie aus einem Mund.

Cool. Bernd nickte anerkennend, und Nies spürte wieder, wie fremd ihm sein Bruder war. Kanada, hatte er jemals seine Eltern von Kanada sprechen hören? Er konnte sich nicht erinnern. Es dauerte eine Weile, bis Nies verstand, dass er und sein Bruder in dem Lebenstraum Kanada nicht vorkamen, das heißt, sie kamen schon vor, aber nicht in Kanada. Bernd war bereits achtzehn, hatte im Sommer die Realschule mit dem besten Jahrgangsergebnis abgeschlossen und im Herbst eine Banklehre begonnen. Die Eltern sahen in der Straightness, wie sie seine Art der Lebensführung bezeichneten, nicht nur, dass er willens und könnens war, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, sondern auch das Potenzial, für seinen Bruder zu sorgen, bis der die Volljährigkeit erreicht und die Schule abgeschlossen hätte.

 

Ein echter Männerhaushalt, nur ihr zwei, das ist doch super, sagte der Vater.

Ihr könnt so viel Tiefkühlpizza essen, wie ihr wollt, stimmte die Mutter lachend zu.

Nies beschlich das Gefühl, dass sie alle zusammen ein Spiel mit ihm trieben. Ihr meint das nicht ernst, oder?, fragte er.

Seine Eltern schwiegen und schauten ihn an. Sein Bruder Bernd verdrehte die Augen.

Hör mal, sagte sein Vater schließlich, es ist doch nicht so, dass wir euch verlassen. Aber solange ihr in der Schule und der Ausbildung seid, ist es besser, wenn ihr erst mal hier bleibt.

Ihr kommt uns natürlich besuchen. Die Mutter nickte Nies zu, der ihren Blick missmutig erwiderte. In Kanada kann man super angeln, sagte sie, du isst doch so gerne Fisch.

Kanada, geil. Bernd ballte vor Freude seine Faust, so wie er es immer tat, wenn ihm etwas geglückt war.

Kanada, geil, äffte Nies ihn nach.

Bernd schlug ihm mit der Hand auf den Hinterkopf. Du Idiot.

Der Vater schob seinen Teller beiseite und stützte beide Ellbogen auf der Tischplatte ab, so dass seine Arme ein Dreieck auf der Platte bildeten. Nies kannte diese Geste. Sie war immer der Beginn einer Aufzählung. Der Vater beugte sich über den Tisch zu Nies und zog mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand den Daumen der rechten nach oben: Erstens; das deutsche Bildungssystem ist besser, das sagen alle Studien, es ist sinnvoller, hier den Abschluss zu machen.

Der Zeigefinger kam hinzu: Es ist gut, möglichst früh zu lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Das macht dich selbstbewusst, und du wirst dich später von Krisen nicht so leicht umwerfen lassen.

Jetzt streckte der Vater den Mittelfinger in die Höhe: Was glaubst du, was für eine starke Bindung zwischen dir und deinem Bruder entstehen wird. Ein Pakt fürs Leben sozusagen.

Es ist so wichtig, dass man jemanden hat, auf den man sich verlassen kann, fügte die Mutter hinzu.

Falls seine Eltern doch einen heimlichen Wettkampf führten, wer zu größerer Ironie fähig war, wollte Nies seine Mutter zur Siegerin erklären: Jemanden zu verlassen und im selben Moment zu betonen, wie wichtig es ist, jemanden zu haben, auf den man sich verlassen kann, war ein Achttausender unter den Ironiegipfeln. Und doch blieben beide ernst und schauten Nies erwartungsvoll an, als warteten sie darauf, dass er ihren Argumenten zustimmte. Nies schluckte, er wusste nichts zu sagen. Er und sein Bruder waren so unterschiedlich, schon immer gewesen, er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals miteinander gespielt hätten, ohne sich nach kürzester Zeit zu streiten. Natürlich waren da auch die fünf Jahre Altersunterschied, außerdem es gab keine Interessen, die sie teilten, und wenn es jemals darum gegangen war, von seinem Bruder Unterstützung zu bekommen, um länger fortbleiben oder fernsehen zu dürfen, war jede Hoffnung umsonst gewesen.

Das alles mussten seine Eltern doch wissen. Sie konnten nicht vergessen haben, dass die Unterschiedlichkeit der Grund gewesen war, das Arbeitszimmer des Vaters in ein Kinderzimmer umzuwandeln, um das Zusammenleben zu entspannen.

Wir machen das schon, sagte Bernd. Kein Problem, ich pass auf ihn auf.

Jetzt gibt’s erst mal Nachtisch. Die Mutter stand auf, ging zum Kühlschrank, und bevor sie die Tür öffnete, drehte sie sich um und strich Nies übers Haar. Dann holte sie ein Tiramisu und stellte es auf den Tisch.

Der Vater stupste Nies an den Arm: Ich hätte was drum gegeben, in deinem Alter alleine wohnen zu dürfen.

Er lachte. Nies nicht. Er nahm das Schälchen mit Tiramisu und warf es aus dem gegenüberliegenden Fenster. Dann rannte er in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich, schmiss sich aufs Bett und ließ seinen Tränen freien Lauf. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so fremd und einsam gefühlt. Warum konnte er nicht einfach gut finden, was alle um ihn herum gut fanden? Hinter der Tür hörte er die Stimme seines Vaters.

Er wird sich beruhigen, wenn er erst die Vorteile sieht.

Es klang, als müsste Nies nur eine Rechenaufgabe lösen und eins und eins zusammenzählen. Aber wenn er das tat, eins und eins zusammenzählte, dann ergaben sich keine lustvollen Bilder eines jugendlichen Lebens ohne Eltern, sondern Vorstellungen, die er als qualvoll empfand: Kein Mittagessen, wenn er aus der Schule kam, keine saubere Wäsche, wenn er sie brauchte, dafür einen Bruder, der darauf bestand, dass er die Toilette öfter zu putzen hatte, weil er sie naturgemäß öfter benutzen würde als sein Bruder, der erst am frühen Abend von der Arbeit nach Hause kam und dementsprechend die Toilette prozentual weniger verschmutzte. Mathematisch konnte Nies seinem Bruder nicht das Wasser reichen, und da Bernd Gerechtigkeitsfragen zu Problemen mathematischer Verhältnismäßigkeiten erklärte, konnte Nies es sich sparen, darauf hinzuweisen, dass es gerecht wäre, einfach abwechselnd zu putzen.

Wer mehr isst, bezahlt mehr, wer mehr pisst oder scheißt, putzt mehr. Man konnte diese Sicht verachten, aber es war schwer, ihr etwas zu entgegnen. Bernd sah die Welt als etwas, das sich ausrechnen ließ. Jedes Ereignis ließ sich in Zahlen ausdrücken, und Gefühle waren für ihn Ausdruck von Unsicherheit, die sich leicht beheben ließ, wenn man die zugrunde liegenden Faktoren genau betrachtete. Gefühle, Meinungen waren keine Ergebnisse von Empfindungen, sondern Rechenleistungen. Wenn das Essen nicht schmeckte, rechnete Bernd nach, ob es ihm nicht doch schmecken müsste, weil es einem super Preis-Leistungs-Verhältnis entsprach. Deswegen war er vollkommen einverstanden mit der Entscheidung seiner Eltern, nach Kanada auszuwandern. Er sah den Lottogewinn als ertragreiche Geldanlage und die Auswanderung als Investment in Lebensoptimierung.

 

Nies dagegen glaubte nicht an die Mathematik. Ihm waren mathematische Menschen suspekt, vielleicht, weil es ihm selbst schwerfiel, mit Zahlen zu hantieren. Es passierte ihm, dass er aus Versehen aus einer 6 eine 9 machte. Dass etwas, das im Handumdrehen auf den Kopf gestellt werden konnte, den Menschen hilfreich sein sollte, schien ihm ganz und gar unakzeptabel.

Während Nies die Vorstellung, mit seinem Bruder alleine leben zu müssen, als Strafe empfand, sah es Bernd als simple Gewinn- und Verlustrechnung, die er perspektivisch auf der Haben-Seite für sich verbuchte. Dem Verlust von persönlicher Freiheit stand die Gewissheit gegenüber, dass es ihm bei seiner beruflichen Entwicklung von Nutzen sein würde, wenn er zeigte, dass er belastbar war und nicht davor zurückscheute, Verantwortung zu übernehmen.

 

Nies stand vom Bett auf. Die Stimmen seiner Eltern vor der Tür hatten sich verflüchtigt. Er ging ans Fenster und sah auf die Straße. Als wäre jemand in Hundekot getreten, lag das Tiramisu verschmiert auf dem Gehsteig. Der Anblick rang ihm ein Lächeln ab. Auch wenn ihm vorhin die Worte gefehlt hatten, seine Meinung zu den Auswanderungsplänen seiner Eltern zu äußern, so hatte er doch etwas hinterlassen, was man nicht fehlinterpretieren konnte.

Vier Monate später war es so weit. Nies und Bernd zogen in eine Zweizimmerwohnung, die die Eltern für sie angemietet hatten. Sie richteten einen Dauerauftrag für Miete und Unterhalt ein und verließen Ende März Deutschland Richtung Kanada.

Beim letzten gemeinsamen Essen am Abend zuvor verkündete Nies, dass er seinen Namen ablege und sich ab sofort NC nenne. Das C werde englisch ausgesprochen.

Und was soll das bedeuten?, fragte seine Mutter.

No Canadian, antwortete NC.

Bernd verdrehte die Augen und schüttelte genervt den Kopf.

Sein Vater schaute ihn lange an. Schließlich räusperte er sich und sagte: Find ich gut, dass du kreativ mit der Situation umgehst.

Dann waren sie weg.

Kurz darauf schaffte sich NC zwei Ratten an, die er Mama und Papa nannte, und rasierte sich den Kopf. Für die Schule tat er nur das Allernötigste. Von Mitschülern und Lehrern wurde er als Sonderling betrachtet, auch weil er sich weigerte, auf seinen Namen Nies zu reagieren. Er beharrte darauf, NC zu heißen.

Bernd registrierte die Veränderung seines Bruders mit zunehmender Verärgerung. Er befürchtete, sie würde auf ihn zurückfallen, schließlich hatte er sich bereit erklärt, die Verantwortung für seinen fünf Jahre jüngeren Bruder zu übernehmen, bis dieser die Volljährigkeit erreicht und die Schule abgeschlossen hätte. Er versuchte, NC deutlich zu machen, dass jetzt die Weichen für seine Zukunft gestellt würden, und bot an, mit ihm zu lernen. Er war sogar bereit, am Abend, nach seiner Arbeit in der Bank, sich mit NC hinzusetzen. Aber NC lehnte alle Angebote ab. Er wollte nicht, dass sein Bruder sich gute Noten als Erfolg auf die Fahnen schreiben konnte. Außerdem konnte er nicht vergessen, dass Bernd sich auf die Seite der Eltern geschlagen hatte. Bernd war kein NC, er war ein C.

Bernd verzichtete sogar darauf, dass Haushaltsarbeiten prozentual erledigt würden, aber auch das brachte keine Veränderung.

In der Hoffnung, geschriebene Wörter könnten bei seinem Bruder eine andere Wirkung erzielen als das gesprochene Wort, fing Bernd an, Zettel mit Weisheiten an dessen Tür zu pinnen: Gefühle stehen einem erfolgreichen Handeln im Weg, Selbstmitleid bringt keine Rendite oder einfach: Kindern in Afrika geht es viel schlechter als dir.

 

Nachdem NC Bernd gedroht hatte, mit seinen Ratten in die Bank zu kommen und sich dort als sein Bruder vorzustellen, falls er nicht aufhöre, ihm Vorschläge zur richtigen Lebensführung zu unterbreiten, schien Bernd einzusehen, dass das Bemühen um seinen Bruder kein lohnendes Investment war. Er ließ ihn endlich in Ruhe, sie wechselten nur noch die allernötigsten Worte miteinander. Wenn NC zu Hause war, verbrachte er die meiste Zeit allein in seinem Zimmer und versuchte, das Wort Lebenstraum, das seine Eltern benutzt hatten, zu entschlüsseln.

NC hatte schon immer viel gelesen, aber nun fing er an, Bücher zu verschlingen. Nicht nur Romane, sondern auch Gedichte. Er wollte hinter das Geheimnis der Wörter kommen, wollte verstehen, was sie in ihrem Kern bedeuteten, warum manche so tief in einen eindrangen, als wären sie Messer, und manche an einem abprallten, als wären sie Gummibälle, warum ihr Klang nicht unbedingt ihre Bedeutung widerspiegelte und warum man ihnen hilflos ausgeliefert war. Vor allem aber wollte er verstehen, warum Wörter wie Glück oder Lebenstraum, die er noch vor kurzer Zeit für einfach und verständlich gehalten hatte, ihm plötzlich kompliziert und rätselhaft vorkamen, seit seine Eltern diese Worte benutzt hatten. Aber je mehr er las, desto mehr überkam ihn das Gefühl, dass die Wörter gar kein Geheimnis hatten, dass sie nichts anderes als aus Buchstaben zusammengesetzte Sklaven waren, die demjenigen dienten, der sie sich zu eigen machte. Es kam ihm vor, als wären die Wörter auch nichts anderes als Zahlen, formbar wie Schlangen. So wie man im Handumdrehen aus einer 6 eine 9 machen konnte, so stellten auch Wörter Dinge einfach auf den Kopf, wenn man nicht aufpasste.

In seinem Kopf war es ihm möglich, mit Worten zu spielen, aber sobald sie diesen geschützten Raum verlassen sollten, gesprochen oder auf Papier gebracht, kam es ihm vor, als übten sie Widerstand. Manchmal dachte er, dass er ihnen mit zu großem Misstrauen begegnete, als dass er ihnen Raum zur Entfaltung geben konnte. Immer war er von der Angst besessen, die Kontrolle über sie zu verlieren, etwas in die Welt zu setzen, von dem er eigentlich nicht wusste, wie es zu verstehen war.

 

Nach ein paar Wochen kam eine Ansichtskarte seiner Eltern, die vorn den Yukon River zeigte. NC nahm die Karte in die Hand und betrachtete sie lange.

Ein Fluss und viel Wald, sagte er schließlich und schnippte die Karte über den Tisch zu seinem Bruder.

Dann stand er auf, ging in sein Zimmer und sah eine Zeitlang seinen Ratten Mama und Papa zu, wie sie am Teppich knabberten. Schließlich packte er sie, und mit den Worten Freiheit ist ein Lebenstraum schmiss er sie in die Dunkelheit vor dem Fenster. Eine Weile stand er noch in der kühlen Abendluft, bevor er das Fenster und das Kapitel seiner Eltern schloss.

Am nächsten Morgen war noch ein Blutfleck auf dem Gehweg zu sehen, aber von den Ratten fehlte jede Spur.

NC überlegte, ob er sich wieder umbenennen sollte, aber No Canadian war für ihn inzwischen so etwas wie eine eigene Weltanschauung geworden. Es bedeutete, mit Worten das zu bezeichnen, was zu sehen war, und nicht das, was man in ihnen sehen wollte. Er wollte das nicht vergessen.

 

Als NC die Schule beendete, trennten sich die Wege der Brüder. Bernd half beim Umzug, und nachdem es nichts mehr zu tun gab, standen sie eine Weile unschlüssig nebeneinander, bevor Bernd NC die Hand reichte und erst losließ, als NC versprach, den Kontakt nicht abreißen zu lassen.

 

Mehr aus Verlegenheit denn aus wirklichem Interesse fing NC eine Ausbildung als Landschaftsgärtner an. Er lernte, Bäume zu fällen, Wurzeln zu roden, Beete anzulegen und den Boden nach Plänen zu modellieren. Er verlegte Entwässerungsrohre, pflasterte Wege und Plätze, baute Mauern und Treppen, Zäune und Pavillons, bis ihm klar wurde, dass er nichts anderes tat, als Träume zu verwirklichen. Nach achtzehn Monaten brach er die Ausbildung ab. Eine Zeitlang hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Dann begann er eine zweite Ausbildung in der Systemgastronomie. Er sah die Notwendigkeit, Geld verdienen zu müssen, und in der Gastronomie, dachte er, habe er zumindest regelmäßig zu essen. Nach vier Jahren stellte er fest, dass die Herstellung immer gleichen Essens nach immer gleichen Standards ihn seiner Phantasie beraubte. Er konnte sich mit der Zeit immer weniger vorstellen, dass Essen anders sein konnte als das, was er tagtäglich nach den immer gleichen Maßstäben fabrizierte. Für das, was er sich nicht vorstellen konnte fehlten ihm die Worte, und je mehr Worte ihm verloren gingen, weil sie nicht mehr gebraucht wurden, desto weniger konnte er sich vorstellen. Es war ein Teufelskreis.

 

Als Nächstes nahm er eine Stelle als Hausmeister in einem großen Gebäudekomplex an.

Bernd hatte derweil Karriere bei der Bank gemacht, war berufshalber jedes Jahr in eine andere Stadt gezogen und vor ein paar Jahren schließlich nach London, wo er gleich zum senior finance manager aufgestiegen war.

Übrig blieben die unvermeidlichen Telefonate an den Geburtstagen. Nachdem NC den Glückwunsch seines Bruders entgegengenommen hatte, wurde es ungewöhnlich ausführlich.

Wie geht’s?, fragte Bernd.

Okay.

Was ist mit deiner Freundin?

Was soll mit ihr sein?

Seid ihr noch zusammen?

Nein.

Warum nicht?

Schlechte emotionale Quartalsbilanz. NC lachte.

Hm, murmelte Bernd, wahrscheinlich eher Bilanzen, nehme ich an.

Die ganze Gewinn-Verlust-Rechnung war außer Balance geraten. Wieder lachte NC.

Was ist mit deinem Job als Hausmeister?, fragte Bernd.

Was soll mit ihm sein?

Hast du ihn noch?

Nein.

Eine Weile schwiegen sie durch die Leitung.

Kein Witz?, fragte Bernd schließlich.

Kein Witz, sagte NC.

Gekündigt?

NC schwieg.

Gekündigt worden? Herrgott, jetzt sag halt.

Es ist kompliziert, sagte NC.

Bernd stöhnte. Und wie soll’s jetzt weitergehen?

Mal sehen, antwortete NC.

Bernd schnaufte. Und noch mal.

NC schwieg.

Bernd räusperte sich. Dann sagte er: Neulich war meine Kaffeemaschine kaputt. Ich habe mir eine neue gekauft.

NC schwieg.

Eine Kaffeemaschine ist nicht das Wichtigste im Leben, fuhr Bernd fort, aber es ist ein Detail, und im Detail entscheidet sich Erfolg oder Misserfolg.

NC schwieg.

Auch wenn es dir nicht gefällt, aber das Leben ist ein Aktienkurs, und du bist verantwortlich dafür, ob der Kurs steigt oder sinkt, verstehst du?

Ja, sagte NC, aber was hat das mit der Kaffeemaschine zu tun?

Herrgott, rief Bernd durchs Telefon, das ist ein Beispiel, ein Vergleich. Stell dich doch nicht so blöd. Was ich sagen will, ist, wenn es Optimierungsbedarf im Leben gibt, dann muss man das gleich angehen. Nicht warten, nicht: Mal sehen. Verstehst du? Gleich.

Du hast also gleich eine neue Kaffeemaschine gekauft?, fragte NC.

Ja.

Und ich soll mir ein neues Leben kaufen?

Du sollst endlich erwachsen werden. Freundin verloren, Job verloren, da ist ja nicht mehr so viel Luft nach unten. Mal ehrlich, Hausmeister, das ist nichts, was man wird, sondern das, was einem bleibt, wenn man nichts geworden ist. Und selbst den Job hast du verloren. Mann, Mann, ich mach mir Sorgen um dich.

Du hättest probieren können, die Kaffeemaschine reparieren zu lassen, sagte NC.

Es folgte ein gemeinsames Schweigen und der stille Entschluss, das Telefonat zu beenden. Ihren Stimmen waren die Erschöpfung und Enttäuschung darüber anzumerken, dass sie es nicht schafften, sich aus dem Korsett des Großer-Bruder-Kleiner-Bruder-Spiels zu befreien.

NC überlegte, ob er etwas aus dem Fenster schmeißen sollte. Er hatte eine Kiste mit allerlei Krimskram, in die er nur hineingreifen musste und die er auf Flohmärkten immer wieder auffüllte. Und genügend Eier waren sowieso immer im Kühlschrank. Aber es war sein Geburtstag, außerdem schien ihm die Straße im Moment zu belebt zu sein.

Eine Weile saß er herum, unsicher, wie er den restlichen Tag verbringen sollte. Die Worte seines Bruders ließen ihm keine Ruhe. Er war einunddreißig, hatte keinen Job, keine Freundin und nicht genügend Geld, um die Miete für den nächsten Monat bezahlen zu können. Börsennotiert wäre der Kurs seiner Lebensaktie wohl wirklich auf Ramschniveau gesunken. Aber: Er glaubte nicht an Aktien, und er wollte nicht heute damit anfangen.

Spazierengehen war eine Möglichkeit. Spazierengehen war das Gegenteil von Lebensoptimierung, wie sie sein Bruder verstand.

Draußen herumlaufen, sich ein bisschen umgucken und Zeit vergeuden. Vielleicht noch im Kino abhängen. Er hatte keinen bestimmten Film im Kopf, den er sehen wollte, wusste nicht einmal, welche Filme überhaupt liefen. Aber die Vorstellung, in die weichen Sessel vor der mit rotem Vorhang verhüllten Leinwand zu sinken, von dem Moment, da das Licht heruntergedimmt wurde, bis schließlich nur noch die Symbole für den Notausgang grün schimmerten, machte ihm Lust. Er liebte das Kino ohne Einschränkung, und das fand er an und für sich schon großartig, dass er etwas einfach so lieben konnte. Etwas einfach um seiner selbst zu lieben erschien ihm sehr schwer. Am leichtesten gelang es ihm bei Dingen, dann bei Tieren, aber fast unmöglich fand er es, Menschen an sich zu lieben. Also Kino. Allerdings wollte er keine Entscheidung treffen, in welches Kino er gehen oder welchen Film er sehen würde. Er wollte es dem Zufall überlassen, wie sich die Aktie seines Geburtstages entwickelte. An Kreuzungen wollte er abwechselnd geradeaus gehen, dann links, dann rechts abbiegen. Falls er an keinem Kino vorbeikam, dann würde er morgen vielleicht einen neuen Versuch starten und die Reihenfolge des Abbiegens ändern.

Es war fast drei, als er seinen Mantel überzog und kurz darauf wieder auszog und sich über die Schulter hängte. Die Mandelbäume blühten und die Sonne wärmte, so wie es der blaue Himmel versprach.

Nach einer Viertelstunde wurde er das erste Mal durch eine rote Ampel aufgehalten. Während er wartete, fiel sein Blick auf ein Paar genau ihm gegenüber auf der anderen Straßenseite. Ein alter Mann mit langem weißem Vollbart und einer Baskenmütze stand neben der Ampel, neben ihm saß ein rotbrauner Hund und wartete geduldig, bis sein Herr das Signal gab, die Straße zu überqueren. Der Hund leckte sich mehrmals über die Schnauze, als hätte er soeben etwas gegessen und versuchte nun, die letzten übriggebliebenen Geruchsfetzen einzufangen. Sie ergaben ein schönes Bild, der alte Mann und der Hund. Obwohl sie unterschiedlicher Natur waren, schienen sie sich vollkommen einig zu sein im Warten vor der roten Ampel. Kein Zeichen von Ungeduld, kein Blick nach links, kein Blick nach rechts, weder von dem alten Mann noch vom Hund. Beide warteten in konzentrierter Gelassenheit, dass das stillstehende Männchen, das über NC rot leuchtete, einen Schritt ins Grüne machte. Als es schließlich so weit war, stellte NC fest, dass der Hund nur drei Beine hatte. Dennoch lief er ohne Unwucht, sondern ruhig und dicht am Fuß seines Herrn. Erstaunt blickte NC den beiden hinterher.

Nach etwa einer Stunde kam er an einem Kino vorbei. Er blieb vor dem Schaufenster stehen und starrte minutenlang auf mehrere Filmplakate. Er konnte wählen zwischen einem amerikanischen Actionfilm mit Liam Neeson, einer deutschen Komödie mit dem Titel Maria, ihm schmeckt’s nicht