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Max Brod
Ausgewählte Werke

Herausgegeben von Hans-Gerd Koch
und Hans Dieter Zimmermann
in Zusammenarbeit mit Barbora Šramková
und Norbert Miller

Max Brod

Prager Tagblatt

Roman einer Redaktion

Mit einem Vorwort von
Thomas Steinfeld

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Gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung Köln und unterstützt vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sowie dem deutschen Auswärtigen Amt

Inhalt

Vorwort (Thomas Steinfeld)

Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion

Das »Prager Tagblatt«

Doktor Simta

Der Kronprinz

Einige Originale und ihr Sagenkreis

Der getreue Eckart

Lebensraum – zwischen zwei Stühlen

Nachtleben

Karly

Fliegibus

»Gefall ich dir net?«

Auf großer Fahrt

Gespräche am Mühlwehr

Telephonist Altmann

Tausend Nadelstiche oder ein Dolchstoß

Ich bekomme ein Schrapnell

Die Kinder in der Spornergasse

Der Demütige

Die Zentaurin

»Scharfangeschlossnem Kettenschmerz«

Unempfindsame Reise

Das elfte Gebot

Nachwort (Helmuth Nürnberger)

Editorische Notiz

Über den Autor

Vorwort

Das Buch, das nun Prager Tagblatt heißt, trug ursprünglich einen anderen Namen. Bei seinem ersten Erscheinen im Jahr 1957 stand Rebellische Herzen in roter Flammenschrift auf dem Umschlag, auf dem außerdem, schematisch dahingetuscht, die Köpfe eines jungen Paars vor der Silhouette Prags zu sehen waren. Als der Roman 1968, in dem Jahr, in dem Max Brod starb, als Taschenbuch veröffentlicht wurde, hatte der Verlag auf Wunsch des Autors den Titel verändert, und anstelle einer Liebesgeschichte wurde nun ein eher dokumentarisches Werk versprochen: Denn das Prager Tagblatt war bis 1939 nicht nur die bekannteste deutschsprachige Prager Zeitung, sondern eines der wichtigsten deutschsprachigen Blätter überhaupt gewesen, und zwar vor allem wegen seines Feuilletons. Die Veränderung des Titels entspricht dabei gleichsam einer Verkehrung der Leserichtung: Denn das Buch beginnt als »Roman einer Redaktion«, um dann, mit immer schmaler werdender Perspektive, in die Geschichte einer fatalen Liebe zu führen. Diese muß Max Brod zuletzt als das minder Wichtige erschienen sein.

Zwischen den Ereignissen, die der Roman schildert, und der Niederschrift des Buches liegen gut zwanzig Jahre: Dazwischen liegen nicht nur der Zweite Weltkrieg, die Vernichtung der europäischen Juden, die Teilung Europas in zwei politische Blöcke und die Wiedererstehung der Tschechoslowakei als Vasallenstaat des sowjetischen Imperiums. Dazwischen liegt auch ein radikaler Schnitt im Leben Max Brods, der im März 1939, mit dem letzten Zug, der die polnische Grenze überquerte, das nun ganz von der Wehrmacht besetzte Land verließ, nach Palästina ging und dort erst mühsam wieder zu seinem Beruf, zum Schreiben zurückfand. Erst Ende der vierziger Jahre veröffentlichte er wieder Romane, und dann arbeitete er auch wieder als Journalist, als Musikkritiker vor allem, für die deutschsprachige Tageszeitung Neueste Nachrichten in Tel Aviv. Man muß diese doppelte Distanz, die räumliche und die zeitliche, im Sinn behalten, um diesem Roman gerecht zu werden, der eigenartig changiert: zwischen allegorischem Genrestück (»der Heilige und die Hure«) und historischer Dokumentation, zwischen Zeitungsroman und politischem Panorama.

Es gibt ein Motto in diesem Roman vom Prager Tagblatt, einen Satz, der von einem verqueren Heiligen ausgesprochen wird und der immer wieder erscheint: »Ja, ja, die Menschen haben es nicht leicht«, lautet er. Vielleicht ist er nach einem Satz in August Strindbergs Traumspiel aus dem Jahr 1901 modelliert, in dem die Göttertochter Agnes voller Mitleid durch die Welt zieht und mit der Formel »Es ist schade um die Menschen« leidvoll zur Kenntnis nimmt, daß alle Lebensentwürfe zum Scheitern verurteilt seien und am Ende nichts zurückbleibe als eine Wand trauriger, verzweifelter Gesichter. »Man würde übrigens irren«, schreibt Max Brod am Ende dieses Romans, an dem er zu einer philosophischen Weltbetrachtung ausholt, »wenn man meinte, daß es Heimweh nach Prag ist, was mich veranlaßt hat, all diese Begebenheiten niederzuschreiben.« Seitdem er Prag verlassen habe, habe er »nie auch nur einen Augenblick lang Heimweh gehabt. Heimweh? Dieses alte Prag ist versunken.« Hier, auf den letzten Seiten des Buches, ist es, als schaue auch dieser Autor auf eine Wand aus traurigen Gesichtern. Es sind vor allem die Gesichter der ehemaligen Kollegen aus der Zeitung, von denen nur wenige Krieg und Holocaust überlebten.

Das Prager Tagblatt, gegründet im Jahr 1876, war schon vor der Ausrufung der Ersten Tschechoslowakischen Republik die führende liberale Zeitung Böhmens, und sie blieb es bis zu deren Auflösung, allerdings unter veränderten Voraussetzungen. Denn von der Selbstverständlichkeit, mit der die deutschsprachige Bevölkerung des Landes kulturell beherrschend war, war nach diesem Datum ebensowenig geblieben wie von der Selbstverständlichkeit, mit der sie sich als Teil einer deutschsprachigen Ökumene betrachtete, die sich vom Baltikum bis nach Siebenbürgen oder Lothringen erstreckte. Die deutschsprachige Bevölkerung bildete nunmehr in der Tschechoslowakei nur noch eine Minderheit, und sie war zudem gespalten: in einen weitaus größeren Teil, der sich um seine Souveränität betrogen glaubte und sie wiederzuerlangen trachtete, und in eine Minderheit innerhalb dieser Minderheit, eben den Liberalen, denen es mit den bürgerlichen Idealen von Bildung, Toleranz und Weltläufigkeit in diesem doppelten Gegenüber um so ernster war. Das Prager Tagblatt, das in der Darstellung von Max Brod wie eine wunderbare Einheit aus künstlerischem Eigensinn und journalistischem Ethos erscheint, ist Ausdruck einer solchen Minorität des Allgemeinen – einer Minorität übrigens, in der jüdische Autoren, weil deutschsprachig und meist zumindest liberal, wenn nicht sozialistisch gesonnen, eine besonders große Rolle spielten.

Max Brod, der von 1924 bis 1939 Redakteur dieser Zeitung war, ist mit seiner Beschreibung der Redaktion nicht allein: »Nie wieder ist mir auf so kleinem Raum eine so große Zahl von Käuzen und Originalen begegnet wie im alten ›Prager Tagblatt‹«, heißt es in Die Tante Jolesch von Friedrich Torberg, der dort ebenso Redakteur war wie Max Brod, »nie wieder eine so einzigartig aus Witz und Wachheit, aus Begabung und Können gemischte Atmosphäre.« Und Max Brod gibt sich große Mühe mit diesen Käuzen: Während der gesamten ersten Hälfte des Buches liegt das Augenmerk weitaus mehr auf dem schieren Ineinander des redaktionellen Betriebs als auf der sich erst allmählich entwickelnden Intrige, auf deren einer Seite sich das genialisch sinnlich-erotische Wesen Karly mit ihrem hemmungslosen Egoismus befindet, auf dessen anderer sich Doktor Fliegibus, der Philosoph der Demut und der Nächstenliebe, mit seiner Philanthropie einrichtet. Und wenn dem zuweilen fast erratischen Charakter dieser Redaktion eine so große Bedeutung zugemessen wird, so spiegeln sich auch darin die besonderen Voraussetzungen dieser Zeitung. Denn gewiß: noch Mitte der dreißiger Jahre besaß eine Tageszeitung, ohne das Gegenüber von Rundfunk und Fernsehen, eine wesentlich herausgehobenere Bedeutung, als dies heute der Fall sein könnte. Und gewiß auch: wenn das Feuilleton darin besonders wichtig war, dann weil es mit literarischen Mitteln allein die Anschauung lieferte, die dann auch, in einem komplizierten Wechselspiel, ab den zwanziger Jahren zur Sache der Bildmedien wurde.

Zu diesem Feuilleton gehören nicht nur Egon Erwin Kisch, Franz Werfel oder Max Brod selbst (in der dritten Person auftretend, einmal sogar im Doppelpack mit Franz Kafka), die – neben vielen anderen Schriftstellern – alle in diesem Roman ihre Rolle spielen, sondern auch für das praktische Künstlertum, für eine seltsam pünktlich liefernde und sorgfältig redigierende Bohème, die Max Brod als Eigenart des Prager Tagblatts beschreibt und die offenbar vom Chefredakteur bis zum Büroboten gereicht haben muß. Die andere Seite dieses Feuilletons war indessen die politische Loyalität der Zeitung zu Tomáš Garrigue Masaryk, dem späthumanistischen Philosophen und Präsidenten der Republik, der sich im Streit zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen radikalem Nationalismus und alle möglichen Revanchismen erstaunlich lange, nämlich zwischen 1918 und 1935 in diesem Posten und als wichtigster Politiker des Landes halten konnte. Die Zeitung muß, unter instabilen politischen Voraussetzungen, in prekären Abhängigkeiten und bei durchaus zweifelhaften Aussichten für die Zukunft der Nation, eine Art öffentliches Widerlager dieses Präsidenten gewesen sein, zum Vorteil beider Seiten.

Es mag eines der letzte Male gewesen sein, daß das literarische Feuilleton eine solche Bedeutung erreichte, und sie dokumentiert sich auch im Umgang mit der deutschen Sprache: An der Peripherie der auseinanderfallenden deutschsprachigen Ökumene scheint es noch in den dreißiger Jahren ein erkennbar an den Klassikern geschultes, gelenkiges, freies und überaus plastisches Deutsch gegeben zu haben, das zumindest einer ganzen Gruppe von Autoren eine Selbstverständlichkeit war. »Jeder, der mitarbeitete, setzte seinen Ehrgeiz darein, seine Sache möglichst perfekt zu leisten, knapp, ohne Phrasen, mit Einsatz aller Nerven«, schreibt Max Brod über die Redaktion, und seine eigene Sprache ist von diesem Ideal nicht weit entfernt – auch wenn es darin dann größere Virtuosen gibt, Leo Perutz zum Beispiel und dann vor allem Franz Kafka. Die tschechische Sprache – wie überhaupt: die tschechische Majorität – scheint übrigens in der Welt dieses Romans ganz selbstverständlich neben der deutschen zu existieren, in einer zumindest lange Zeit gutmütigen Gemeinsamkeit, bei der man sich vorstellen kann, daß die in einer solchen Situation notwendigen Übersetzungsleistungen nicht zuletzt das Bewußtsein für die eigenen, auch für die eigenen sprachlichen Möglichkeiten schärfte.

»So viel Düsternis – und über alles hin die gute Laune gestrichen wie ein Honigbrei. Das war das Prager Tagblatt«, heißt es zu Beginn des Kapitels, mit dem der Roman allmählich aus dem engeren Kreis der Redaktion heraustritt, um es zunächst einmal mit dem Prager Nachtleben, mit dem zweiten Dasein der Redakteure und Autoren in Cafés, Bars, Jazzclubs und Bordellen aufzunehmen. Was damit beginnt, ist weniger der Zerfall dieses Ideals von bürgerlicher Öffentlichkeit, als vielmehr eine Art allmähliche Rückführung auf ihre materiellen, persönlichen und politischen Voraussetzungen. Dann erweist sich nicht nur, wieviel die Liberalität der Republik Tschechoslowakei angesichts eines übermächtigen Nachbarn, nämlich des »Dritten Reiches«, tatsächlich wert ist (und mit ihm die Utopie, zu einer zweiten Schweiz zu werden), sondern auch, wie divergent, ja, wie ganz und gar nicht künstlerisch, gebildet oder freisinnig die Interessen vieler Beteiligter wirklich beschaffen sind. Irgendwann verschlägt es dann den Protagonisten, in einem wilden Durcheinander aus finalem Liebeswahn und desaströser politischer Aufklärung, auf einen »antifaschistischen Kongreß der Schriftsteller und Künstler« in Paris – das Modell lieferte wohl der »Erste Internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur« im Juni 1935. Was er dort sieht, ist ein »Chor von Ehrgeizigen, von Selbstsüchtigen«, dem nichts zuzutrauen ist, schon gar nicht die Rettung einer liberalen Zeitung in der Provinz.

»Ihr werdet sterben, Kameraden, ihr werdet sterben in diesem Krieg«, zitiert der Erzähler den Auftritt des französischen Schriftstellers und Politikers André Malraux auf diesem Kongreß. Der Satz und das Pathos, mit dem er vorgetragen wird, imponieren ihm. Daß eben dieser André Malraux nach dem Krieg zum »Adjutanten« Charles de Gaulles wurde, erwähnt er in einer Klammer, daß Malraux in jenem Jahr noch strenger Parteigänger der Sowjetunion war, hätte er hinzufügen können. Und doch kann daran, daß Malraux recht behielt, fürchterlich recht, kein Zweifel sein. Das weiß auch der Erzähler, und Max Brod, sein Autor, weiß es natürlich auch, denn er hat diesen Roman aus der Perspektive eines Überlebenden geschrieben. Rebellische Herzen wäre deswegen vielleicht doch auch ein guter Titel gewesen: Denn dieser Titel steht für die Täuschung, es gäbe so etwas wie ein glückliche Enklave in einer schon verlorenen Welt – und es ist diese Täuschung, die Max Brod in diesem Roman erst liebevoll umhegt und dann langsam der Zerstörung preisgibt.

Thomas Steinfeld

Wer sagt uns, ob wir selbst
So grund-verböste Zeiten
Verbösern, oder ob
Die Zeiten uns verleiten.

Friedrich von Logau

Prager Tagblatt

Roman einer Redaktion

Das »Prager Tagblatt«

Als Edith starb, meine Frau, die ich über alles geliebt hatte, zerfiel mir die Welt.

Mit keinem Menschen hatte ich mich je so gut verständigen können wie mit Edith. Durch ihren Tod wurde ich aus einem Leben gerissen, das ich nicht etwa glücklich nennen möchte. »Glücklich« ist ein zu kühles, zu unwürdiges Wort. Es wäre eine Herabsetzung für diese Art von Leben, wie ich es mit Edith geführt hatte. Es war mehr als glücklich: es war ein richtiges Leben. Ein Leben voll von Begeisterung, von Liebe, Natürlichkeit, Kunst und Kraft. Nicht ganz friedlich war dieses Leben; es gab Zeiten, kurze Spannen, in denen wir auseinanderkamen. Doch alles, was sich zwischen uns abspielte, auch die Mißverständnisse, alles war in eine Schicht von Gelingen, Fröhlichkeit und gutem Willen eingebettet. Der Glanz der Schönheit und des gegenseitigen Helfenwollens lag auf allem. Dann verlosch der Glanz. Ich hatte niemanden mehr, mich zu stützen, mir zu raten.

Nach Ediths Tod wollte ich auch nicht mehr Maler bleiben. Was sollte ich denn malen, wenn es keine Welt mehr gab!

Das Leben in Prag wurde überdies zusehends unerfreulicher. Die freie tschechoslowakische Republik war von Hitler bedroht, einem übermächtigen Gegner. Man konnte um ihre Existenz bangen, denn auch im Innern des Staates gab es in einem Teil der sudetendeutschen Bevölkerung Kräfte, die in wachsendem Maße auf Hitler und seinen inländischen Platzhalter, Herrn Henlein, schworen. Das »Prager Tagblatt«, in das ich damals eintrat, war allerdings von diesen extremen Gruppen, einer Minorität vorläufig, sehr weit entfernt. Es war deutsch, aber dem tschechoslowakischen Staat treu, ohne unkritisch gegen manches zu sein, in dem er versagte. – In diesem Blatt also wurde ich Kunstkritiker, als ich die Lust verloren hatte, den Beruf der Malerei weiterhin auszuüben. Es war ein Akt der Verzweiflung, dieser Eintritt in eine Redaktion – erwies sich aber später als der Anfang eines neuen Lebens, wenn auch nicht des bestmöglichen. Ich hatte kaum eine andere Wahl. Meine Erbschaft war durch die langjährigen Krankheiten meiner Frau fast ganz aufgebraucht. Weiterhin als Künstler tätig zu sein – dazu fühlte ich nicht die Kraft in mir. »Statt meiner Bilder … hängte ich nun meine ganze Malerei an den Nagel.« So habe ich es später ausgedrückt, in dem skeptischen Stil, der zum Umgangston im Prager Tagblatt gehörte. An die Wand über meinem Schreibtisch klebte ich einen Zettel, auf den ich die Verse von Goethe geschrieben hatte:

Wer uns am strengsten kritisiert?

Ein Dilettant, der sich resigniert.

Ein Dilettant bin ich freilich nie gewesen, habe in der Malkunst eine tüchtige Schule durchgemacht, nicht nur an der Prager Malerakademie, auch in einigen Pariser Ateliers, bei guten Meistern – ich habe mich recht bemüht, und man sagte, daß ich einiges hervorgebracht hätte, was wahr und kühn sei. Eines war jedenfalls richtig: Ich hatte damals »mich resigniert«, wie Goethe sagt, und somit stimmte sein Spruch für mich zumindest zur Hälfte.

Man lachte beifällig im Prager Tagblatt über meine Selbstpersiflage. Derlei liebte man dort. Und man fand, daß ich mit meinem programmatischen Zettel den »Stil des Blattes« schon ganz gut getroffen habe. Übrigens hatte ich mir nur ein Beispiel an all den andern Motti genommen, mit denen jeder meiner neuen Kollegen sein Zimmer schmückte. Manche wechselten diese Aufschriften von Zeit zu Zeit. Nur im Büro des Chefredakteurs Doktor Simta konnte man immer die abschreckende und in ihrer Nutzanwendbarkeit viele lange Debatten ersparende Devise – die Paraphrase eines Werfelschen Buchtitels – lesen, sie lautete: »Nicht der Streicher, der Gestrichene ist schuldig.«

Es war eine übermütige Redaktion, dies Prager Tagblatt, die lustigste, die ich je gesehen habe, und dabei war ich während meiner Mal-Bohème-Zeit als Gast in Pariser, Berliner und Wiener Redaktionen viel herumgekommen. Welch verbissener Berufsernst überall! Etwas Frische und Witz flackerte freilich in jeder dieser Nachrichtenbuden auf, das gehörte ja gewissermaßen zum Métier; doch anderwärts flackerten die Irrlichter nur geduldeterweise und nebenher. Hier dagegen, im Prager Tagblatt, wurden sie angebaut und gepflegt. Es war eine Irrlichter-Plantage. – Jene großen Zeitungen in Paris usw. hielten auf Fassade. Im Prager Tagblatt lehnte man alles ab, was ans Fassadenhaft-Imposante oder »Tierisch-Ernste« (so nannte man es hier) auch nur von fern erinnerte. Das Prager Tagblatt wurde nach ganz anderen Prinzipien redigiert. Es war ein europäisches Kuriosum – als solches in Berufskreisen und weit über sie hinaus bekannt. Eine Sehenswürdigkeit, die nirgends ihresgleichen hatte.

Die sorglose, ja frivole Beiläufigkeit galt allerdings nur für den inneren Betrieb. Wenn das Blatt jede Nacht um ein Uhr herauskam, war es ein ausgezeichnet informierendes, verläßlich gemachtes Blatt, gescheit und temperamentvoll, freiheitlich, ohne gerade Sturmglocken zu läuten, farbig-interessant, in einigen Beiträgen von gutem literarischem Niveau und fast ohne Kitsch. Jeder, der mitarbeitete, setzte seinen Ehrgeiz darein, seine Sache möglichst perfekt zu leisten, knapp, ohne Phrasen, mit Einsatz aller Nerven. Aber dabei gab man sich den Anschein, als ob alles mühelos, nur wie zum Spaß vor sich ginge. Es gehörte zum guten Ton, gelegentlich seine Verwunderung darüber auszusprechen, daß in all dem Trubel, in all der Unordnung das Blatt überhaupt erschien und obendrein zur festgesetzten Stunde. »Ist doch nichts Besonderes«, pflegten die Redakteure unter sich zu sagen, »im Notfall macht eben der Nowotny das Blatt.« Nowotny war der älteste der Redaktionsdiener, die nachts aus benachbarten Gaststätten Bier, Kaffee, Butterbrote und Wiener Schnitzel brachten oder mit den Korrekturen in die Setzerei flitzten.

Indem ich in diese Redaktion eintrat, in der ich mich anfangs überhaupt nicht zurechtfand, führte ich übrigens gleichsam ein Vermächtnis meiner Frau aus, die derselben Familie entstammte wie Chefredakteur Simta. Sie hatte mir öfters den klugen Rat gegeben, mich um einen sicheren Posten zu bemühen, da meine künstlerische Begabung nur periodenweise sprudelte, dann allerdings üppig und in Fülle. »Als Maler bist du ein Quartalsäufer«, pflegte Edith zu sagen. Sie machte mich wiederholt auf die Zuneigung aufmerksam, die mir ihr Verwandter vom Anfang unserer Bekanntschaft an entgegengebracht hatte. Seltsam genug, denn er war dem Charakter nach mir entgegengesetzt, war fast ebenso leicht, wie ich schwerfällig. Dennoch meinte er, daß ich als »origineller Kopf« in das Prager Tagblatt gehöre. – Da ich nach dem Tode meiner Frau nichts tat, was nicht irgendeine Beziehung zu ihr und ihrem Willen aufwies, bewarb ich mich bald nachher um die in seinem Organ gerade frei gewordene Stelle.

Ich muß gestehen, daß ich zuerst den Eindruck hatte, unter Verrückte gefallen zu sein.

Gleich am ersten Tag erlebte ich ein tolles Rennen durch die Korridore, Lachen, Trampeln, Toben und Johlen, das mir zunächst völlig rätselhaft blieb und sich erst im Laufe von Stunden durch freundlich gewährte Auskünfte aufklärte. Zuletzt, auf dem Gipfel meines Verständnisses, ließen sich die Vorgänge etwa in die folgende Ordnung bringen: Es drehte sich alles um einen jungen, besonders leichtblütigen Kollegen, um Herrn Plachy. Plachy war Illustrationschef, er hatte besonders für die Bebilderung der Nachmittagsausgabe zu sorgen. Diese Aufgabe hatte er nie sehr ernst genommen. Konnte das Photo eines Raubmörders nicht leicht beschafft werden, griff er in seine reiche Sammlung gleichgültiger, zumeist undeutlicher Aufnahmen irgendwelcher Privatpersonen, die er seit Jahren zusammengebracht hatte.

Dieses Mal nun hatte eine Frau in Wrschowitz ihren Mann vergiftet; man wußte, daß unser Photomann wieder einmal ein beliebiges Bild eingerückt hatte, und beschloß, ihm einen Streich zu spielen. Sporenklirrend erschien in der Redaktion ein Rittmeister und verlangte Sühne. »Du, der hat in dem Bild seine Braut erkannt, er fühlt sich von dir beleidigt, will dich fordern, er erschießt dich.« Der Schuldige versteckte sich, man jagte ihn von Zimmer zu Zimmer, zuletzt in das kleinste, wenn auch nicht unwichtigste, wo er sich einsperrte. Der Rittmeister, der natürlich ein Freund der lustigen Brüder, ein Schauspieler war, führte die Rolle mit Poltern und Schimpfen im Korridor vor besagtem Örtchen so hingebend und ausdrucksvoll zu Ende, daß der entsetzte Kollege durch das enge Fenster über eine Leiter in den Hof flüchtete.

Und Doktor Simta, der ernste respekteinflößende Chefredakteur – was sagte er dazu, wenn sich alle Ordnung in den Redaktionszimmern für ein, zwei Stunden auflöste ? – Er war vielleicht nicht sehr entzückt, namentlich in späteren Jahren nicht. Aber als ich noch Anfänger in der Redaktion war, tat er bei manchem ähnlichen Schabernack vergnügt mit. Man erzählte gern von dem Streich, den er einem der »Kiebitze« gespielt hatte, die aus irgendeinem weithergeholten Grund Besuchsrechte im Blatt erlangt hatten, sich dort seit Jahr und Tag höchst angeregt und behaglich zuhause fühlten, den werkenden Redakteuren vor die Beine liefen und die Arbeit störten. Dieser spezielle Freund nun, den Simta sich vornahm, war durch seine Schwärmerei für unsere Fortsetzungsromane allmählich lästig geworden. Er war so eingenommen von ihnen, daß er schon am Nachmittag ins Blatt kam, um die Fortsetzung des nächsten Tages im Korrekturabzug zu lesen. Simta ließ nun für Herrn Redlich, so hieß der nassauernde Enthusiast, eine fingierte Fortsetzung in Satz geben, die normal begann, dann aber in die wüstesten Zoten überging. Redlich erscheint, macht von seinem Privileg Gebrauch, indem er sich in die Setzerei begibt, liest, zuerst mit Befriedigung – dann verdüstert sich seine Miene: »Der Leutnant ergriff eine Schere, die im Boudoir der angebeteten Sängerin auf dem Toilettentischchen lag. Glühend vor Brunst schnitt er den Rock der Diva auf und riß ihr die Stücke vom Leib. ›Ich kann nicht länger warten‹, röhrte er, entblößte die schöngerundeten Beine der holden Dame …« In diesem Stil geht es weiter. Herr Redlich staunt, er macht den Chef-Metteur auf diese »Schweinerei« aufmerksam. »Das kann unmöglich erscheinen. Hören Sie mal.« Und er liest die Aretino-Stelle dem Mann vor, der instruiert war und sich gelangweilt abwendet. »Na und? – Warum nicht?« – »Aber das geht doch nicht. Ich flehe Sie an. Haben Sie denn nicht zugehört? Eine solche Szene –? Unter den Abonnenten sind doch unschuldige Mädchen.« – Redlich stößt auf völliges Unverständnis. Es ist ihm unfaßbar. Er rennt in die Redaktion hinauf, um ein Unglück abzuwenden, das seiner Meinung nach am nächsten Tag die Existenz des Blattes bedroht. Er eilt zum literarischen Redakteur. Der hört ihn gar nicht an. »Lassen Sie mich in Ruh, Sie Gschaftlhuber, ich hab anderes zu tun.« – »Aber es ist ja undenkbar –« Redlich rauft sich die Haare. Bestürmt Rheintaler, den stellvertretenden Chef, der ihn hinausschmeißt. Mit immer größerem Lärm, von wachsender Eskorte fröhlicher Helden begleitet, stürmt er zu Simta, der behauptet, er verstehe gar nicht, was da anstößig sein solle. Redlich verliert den Atem: »Das ist aber schon das Höchste …« Nochmalige Vorlesung der pornographischen Begebnisse vor vollversammeltem Personal. Redlich liest mit todernstem Gesicht, vom Feuer seiner sittlichen Mission beflügelt, merkt immer noch nichts. Da man tut, als sei alles in Ordnung, will er in die unbetretbaren Räume des Direktoriums eindringen, bis er endlich am schallenden Gelächter erkennt, daß man ihn auf den Leim geführt hatte.

Doktor Simta

Es gibt wohl kaum einen Menschen, den ich in dieser Zeit so herzlich bewundert habe wie diesen Doktor Simta. Er war immer gut aufgelegt, sprühte von Einfällen – er erschien mir als der bedeutendste Anreger, dem ich je begegnet bin. Er wollte auch nie etwas anderes sein als ein Anreger; und ein tüchtiger Organisator dazu, der dafür sorgte, daß zumindest die wichtigsten seiner Anregungen auch wirklich ausgeführt wurden. Pedantisch zu überwachen, daß alles geschah, was er wünschte – das lehnte er ab. Was er am meisten haßte, war der »Vollständigkeitswahn« – so nannte er es. »Ich muß nicht alles im Blatt haben«, pflegte er zu sagen, »die andern Blätter sollen auch was kriegen« – und das war ein großes Wort in Doktor Simtas Munde, denn er war unter den »Blattfanatikern« der stürmischste.

Alles kreiste bei ihm um das Wohl des Prager Tagblattes, andere Interessen traten bei ihm, so hatte es den Anschein, völlig in den Hintergrund. Daß das Prager Tagblatt immer besser unterrichtet, immer anziehender geschrieben und fesselnder »aufgemacht« sein müsse als alle Konkurrenzzeitungen im Umkreis Prags, ja der Tschechoslowakei –, dafür lebte und starb er. Dieser Grundsatz leitete ihn im Wachen und bedrängte ihn gewiß auch noch in seinen Träumen. Andere Grundsätze schien er überhaupt nicht zu kennen – mit Ausnahme der Wegrichtung einer hochnoblen, persönlichen Anständigkeit, die nicht als eigentliches Prinzip, sondern als etwas Selbstverständliches bei ihm auftrat und die man ihm bei seinem zur Schau getragenen Zynismus nie zugetraut hätte; aber sie kam bei den mannigfaltigsten Angelegenheiten auf warmherzige, überraschende Art zu Tage und band seine Mitarbeiter (oder doch jene unter ihnen, die ähnlich gutwillig waren wie er) mit starken Sympathien an ihn. Daß sich in seinem Privatleben außerdem noch eine große Liebesleidenschaft abspielte, die sich in jahrelanger Entfaltung steigerte, das wußten nur wenige. Sie schien auch seine mit ungebrochenen Kräften dem Tagblatt gewidmete Tätigkeit nicht im geringsten zu beeinflussen. Ein Muster an Selbstzucht und Selbstbeherrschung, so bleibt er ein heller Stern an meinem Himmel, bleibt es bei allen Einschränkungen, die ich schließlich einem ganz auf öffentliches Wirken, auf Erfolg und Publizität berufsmäßig eingestellten Mann gegenüber machen muß.

Den »Vollständigkeitswahn« also lehnte er ab; und erleichterte auf diese Art sich selber und seinen Helfern das Leben. »Man kann nicht alles wissen, man kann nicht alles sagen«, – lehrte er, war aber auch darin nicht pedantisch, nicht konsequent. Denn von seiner volkswirtschaftlichen Abteilung (beispielsweise) verlangte er äußerste Präzision; in dieser »Sparte« gehörte eben Genauigkeit, Lückenlosigkeit mit zum Handwerk. Auch jede politische und lokale Nachricht mußte erst »verifiziert«, das heißt möglichst durch eigene Arbeit der Redakteure überprüft und ergänzt werden, ehe sie ins Blatt kam. Es war nicht leicht zu wissen, wann Doktor Simta Exaktheit von seinen Mitarbeitern verlangte und wann wieder künstlerische Ungebundenheit. Es war überhaupt nicht ganz einfach, seine Intentionen zu erraten. Servile Mitarbeiter lehnte er unbedingt ab, doch die Nicht-Anschmiegsamen hatten auch nicht die besten Tage – sie klagten, es sei mit ihm nicht gut Kirschen essen.

In die Spezialsphäre der von Simta geduldeten, ja geförderten Unexaktheit gehörte, daß er den Untertitel der Zeitung, der »Böhmische Post« lautete, nicht antasten ließ. Dieser Titel war, ebenso wie der Titel des radikalen deutschen Prager Konkurrenzblattes »Bohemia«, eingestandenermaßen antiquiert, stammte aus dem alten Österreich, hätte eher zur Zeit Grillparzers Sinn gehabt. Doch in dieser Hinsicht war Simta eben konservativ, wiewohl er sich sonst, mit vielleicht unberechtigtem Stolz, einen »Mann des Fortschritts« nannte. Dies einer der vielen Widersprüche seines Innern, über die er sich nicht weiter den Kopf zerbrach. – Mit dem Wort »böhmisch« aber stand es so, daß die Deutschen gern von Böhmen sprachen, um die deutsche Drittelminorität des Landes von den jetzt im neuen Staatswesen allein regierenden Tschechen zu unterscheiden. Es gab eben in Böhmen seit alters her Tschechen und Deutsche. In der tschechischen Sprache aber hieß Böhmen »Tschechy«, der Böhme und der Tscheche waren hier daher identisch und für den Satz »Die Bewohner von Böhmen heißen Böhmen, aber nicht alle Böhmen sind Tschechen«, für diesen zweifellos richtigen Satz gab es in der tschechischen Sprache keine adäquat richtige Übersetzung. Die Tschechen hielten dies für einen Vorzug, die Deutschen natürlich für einen Mangel der tschechischen Sprache, die überdies, um die Verwirrung vollzumachen, gelegentlich auch noch, in alten Schriften, als »böhmische Sprache« figurierte. Daß in den Sprachsinn des Wortes »Bohème« auch noch Zigeuner und Künstler einbezogen wurden, bleibe hier als Assoziation zweiten Grades außer acht. Die Tschechen hielten jedenfalls den deutschen Sprachgebrauch für einen Ausdruck deutschen Eroberungswillens; die Deutschen sahen im tschechischen Vokabular eine Besitzergreifung des ganzen Landes. Beide Deutungen waren abstrus, erhielten aber, weil ja heute nur das Abstruse geschieht, durch die späteren Ereignisse sogar eine Art Rechtfertigung.

Zu meiner Redaktionszeit nun war der Name Böhmische Post in den Augen vieler Tschechen eine Herausforderung. »Nennt euch ›Deutsche Post‹, so seid ihr aufrichtiger.« – »Vielleicht ›Deutschböhmische Post‹?« – »Noch ärger«, erwiderten die Tschechen, »es gibt ja kein Deutschböhmen, das ist eure Erfindung. Es gibt nur ein germanisiertes Gebiet.« – »Germanisiert seit vielen hundert Jahren.« – Kurz, man kam da auf Fragen, in denen (so hatte es einmal ein österreichischer Ministerpräsident ausgedrückt) nur ein »gelernter Deutschböhm« sich auskannte. Nichts lag Simta ferner, als die Tschechen zu provozieren. Er wollte Frieden, Ruhe, Wohlstand – die Redaktion durchaus mit ihm. Übrigens gehörte ja Prag mit seiner sehr kleinen deutschen Minorität gar nicht zu Deutschböhmen. Man hätte schließlich nur, wie es in den trüben Lüften auf Erden üblich ist, eine Unexaktheit durch eine andere ersetzt. Grund genug, alles beim alten zu lassen. Wir brauchen nicht aufzufallen, erklärte er, wir sind keine Pedanten. Pedanterie ist praktizierender Vollständigkeitswahn.

Doch genaugenommen machte er nur jener Pedanterie den Krieg, die um der Pedanterie willen, nicht aus sachlichen Motiven beflissen tut, die im Grunde (und das war sein schlimmstes Verdikt) langweilig ist oder auf persönlicher Eitelkeit basiert, meist beides zugleich. Wir brauchten nicht sämtliche Vorlesungsankündigungen der Universität zu bringen, nicht alle Rezitationsabende zu rezensieren, hundertjährige Gedenktage wurden prinzipiell nicht berücksichtigt, obwohl es eine Sorte ausländischer Mitarbeiter gab, die uns für solche Anlässe mit einem Schwall von Einsendungen bedachten.

Wen interessierte das schon, von einem kleinen Kreis abgesehen. Kleine Kreise aber zählten nicht. Der Eitelkeit einzelner zu dienen, das verabscheute Simta ganz besonders – der Eitelkeit vieler zu dienen: halt Bauer, das ist was anderes! Wieder einer der zahllosen Widersprüche in Simtas Natur und Wirken. Ihn einfach durch Hinweis auf die allenfalls steigende Abonnentenzahl zu deuten: das wäre gewiß zu einfach gewesen, hätte die wirkliche Entrüstung, die in Simtas Kampf gegen jede Wichtigtuerei, gegen jedes »Geltungsbedürfnis kleiner Cliquen« mitschwang, nicht hinreichend erklärt.

»Wer braucht das?« lautete das schärfste Verdammungs- und Ablehnungsurteil, das Simta äußerte – wenn aber etwas für das Blatt selber, für die große Öffentlichkeit, wie Simta sie sah, wichtig war, dann wurden weder Kosten noch Raum gespart. Einer der vielen Witzbolde in der Redaktion ließ eine kleine Geschichte zirkulieren, die Simtas Methode ins rechte Licht stellte: In der Ahornstraße, in der das Redaktionsgebäude liegt, öffnet sich plötzlich wie einst auf dem Forum zu Rom ein mächtiger Erdschlund, der unaufhaltsam immer größer wird. Die Gasse droht über kurz oder lang in ihm zu versinken. Was tut Simta? Mittels seiner »Schrapnelle«, von denen noch die Rede sein wird, hetzt er einen der Redakteure auf die Sternwarte, die vielleicht über die kosmischen Gründe des Phänomens Auskunft geben kann, ein anderer wird zur technischen Hochschule geschickt, ein dritter: Gutachten des ersten Prager Straßen-Ingenieurs – der Historiker der Redaktion schlägt inzwischen in der Stadtgeschichte nach, ob etwas Ähnliches im Prag früherer Jahrhunderte bereits vorgekommen sei, gleichzeitig werden von unseren Lokalreportern die Ladeninhaber der Ahornstraße über den fortschreitenden Gang des Ereignisses und seinen Einfluß auf den Geschäftsgang interviewt, schon sind auch die Stilisten des Hauses an der Arbeit, aus den allmählich einlaufenden Teilberichten ein lesbares, journalistisch einwandfreies, »verifiziertes« Ganzes zu formen – und erst ganz zuletzt, während der Spalt im Pflaster immer näher rückt, denkt Simta daran, wie er sich und seine Getreuen allenfalls in Sicherheit bringen könnte.

Ein Anreger, kein Schreiber – das hob er selber immer wieder hervor. In all den Jahrzehnten seiner Zeitungsarbeit wußte man kaum von drei oder vier Leitartikeln, die er (natürlich unter bescheidenster Chiffre mit einem einzigen kleinen Buchstaben, einem neutralen –i– gezeichnet) veröffentlicht hatte. Sie waren glänzend gewesen, geradezu Muster von Leitartikeln. Er aber glaubte seine Grenzen zu kennen. »Ich bin Dirigent, ich spiele kein Orchesterinstrument.«

Jeden Morgen um halb zehn erschien er energiegeladen, rosig, elastisch, immer gut gelaunt und von leichtem Kölnischwasserduft umweht in der Redaktion und begann sofort mit seiner Hochspannungsarbeit. Die Morgenblätter hatte er bereits zu Hause studiert, den gesamten Atem der Aktualität in sich aufgenommen, nun setzte er sich vor den aufgeschichteten Haufen kleiner rechteckiger Blättchen, die der Diener für ihn zurechtgeschnitten hatte, und begann sie rasch mit knappen stenographierten Stichworten zu zieren. Auf die eine Seite kam der Name des Redakteurs, besser gesagt: eine winzige Chiffre, denn eine von Simtas leitenden Ideen war Zeitersparnis, technische Perfektion; – er interessierte sich für alle neuen technischen Erfindungen und erwog auch einmal (ernstlich oder scherzweise, ich weiß es nicht) die Konstruktion eines Doppel-Rasierpinsels, mit dem man sich beide Backen zugleich einseifen könnte. – Die andere Seite des Papierchens bekam ein gleichfalls stenographisches Zeichen, meist nur ein Wort, selten einen ganzen Satz. Und bald sah man den Diener Kudrnatsch von einem Zimmer zum anderen laufen, um den einzelnen Redakteuren die für sie bestimmten Zettel, manchmal ein halbes Dutzend für einen einzigen Mann, auf den Tisch zu legen. Da auf diese Art der Papierhaufen aus dem Chefbüro rasch in viele kleinere Bestandstücke zerfiel, gleichsam zersprang, hatte der Diener für diesen Vorgang den Namen »Schrapnell« erfunden. Simta, der eine Vorliebe für alles Charakteristische hatte, griff die Bezeichnung auf und benutzte sie selber: »Habe ich Ihnen nicht gestern ein Schrapnell geschickt?« – Ebenso wie auch Kudrnatsch in die Tür des Mitarbeiters mit den immer gleichen Worten singenden Tonfalls eintrat: »Bitt schön, Herr Redakteur, da wär ein Schrapnell.«

Diese Zettel wurden den ganzen Tag über versendet, so oft dem Chefredakteur etwas einfiel – und es fiel ihm sehr oft, zuzeiten ununterbrochen etwas ein. Der Hauptschub erfolgte allerdings am Morgen gleich nach dem Einlangen Simtas, denn schon zu Hause und auf dem Spazierweg ins Büro hatte der Meister der Anregungen seine Pläne erwogen. Kam man gegen elf oder noch später zur Arbeit, so lagen schon einige Zettel, zu verschiedenen Zeitpunkten ausgefertigt, manchmal schichtweise auf dem Tisch. Diese Zettel waren als Einladungen zu verstehen, gelegentlich (es mußte nicht gleich sein, wenn nicht ein dr., »dringend«, mitverzeichnet war) im Laufe des Tages zum Chef hinüberzukommen. Man brachte die Schrapnelle mit, die sich im Laufe der Stunden gesammelt hatten – und nun ergab sich ein heiteres Gespräch. »Möchten Sie nicht zum Theatervereinsball gehen?« – »Sollte man nicht …« – »Pallenberg kommt nach Prag. Man könnte aus der Kartothek ein paar Anekdoten über ihn …« – »Es gibt ein wundervolles neues Buch über Goethe, das müssen wir uns gleich kommen lassen.« – »Über den Segelflug, was ist da Neues zu sagen? Eine Ausstellung ist geplant.« – »Wäre nicht anzufragen, ob es schon frische Blumen gibt und welche?« – Es gab kein Gebiet, auf das sich die Schrapnelle nicht bezogen hätten, Inserate und Verwaltung nicht ausgeschlossen. Und es waren nie Aufträge, immer nur Vorschläge, die mit der kurzen Chiffre angedeutet waren. Manchmal waren es ganz private oder nebensächliche Mitteilungen, der Chef hatte einen Witz vergessen, ob man sich vielleicht erinnere – oder er wollte einem durch einen schrägen Strich, ein stenographisches – ei – bedeuten, daß ihm der gestrige Artikel »ausgezeichnet« gefallen habe – oder er fragte an, ob das Kind, das am ersten Zahn laborierte, ihn schon gekriegt habe. Denn Simta war auch in das Familienleben jedes einzelnen Mitarbeiters eingeweiht, an allem nahm er Anteil, alles ließ er sich erzählen, überraschte einen allerdings hie und da mit dem Zwischenruf: »Das wär eine nette Glosse. Möchten Sie das nicht aufschreiben? So was liest man gern.«

Lehnte man ab, so bestand er nie darauf. Das Gleiche galt von allen Schrapnellen. Brachte man ihm den Zettel, erfuhr, was der rätselhafte Schnörkel bedeuten sollte, und sagte man dann, die Sache liege einem nicht sehr, so nahm er einem mit einer Geste unnachahmlich salopper Eleganz das Papierchen aus der Hand und ließ es sofort, zusammengeknüllt, in den Papierkorb fallen. Auch wenn er seine eigene Abkürzung nicht entziffern konnte, was öfters vorkam, besann er sich nicht lang, lachte auf, – fort damit! Er bedauerte nie, machte keine langen Geschichten, das unerschöpfliche Sprudeln seiner Gedanken ging ja weiter, dabei nicht etwa überstürzt, sondern in aller Behaglichkeit, recht bequem und liebenswürdig, – wie dies auch in seinem runden, nicht unangenehm-vollmondhaften, stets sorgsam rasierten Gesicht ausgedrückt stand. Ein kleines Gesicht, frisch und jungenhaft, trotz seiner mehr als fünfzig Jahre. Es war ganz glatt, gut durchblutet, straff – und nur die vielen kleinen Fältchen in den Augenwinkeln deuteten ein wenig das Alter an, wenn man genau hinsah. Beim Lachen und Lächeln, das dem tätig-fröhlichen Mann wohl anstand, vervielfältigten sich diese Fächerstrahlen, störten aber nie. Die Haare kohlschwarz, ein niedriger Kranz rund um eine angedeutete Glatze – und die gleichfalls schwarzen Augen funkelten lustig, lebensfroh in die Welt. Kleine Augen; größer und etwas weniger nah beisammen, hätten sie seiner Miene zweifellos einen bedeutenden Ausdruck gegeben.

Ein Mensch mitten in seiner Arbeit, erfüllt von ihr, beglückt von ihrem kräftigen Durch-ihn-Hindurchströmen, – ohne sie dabei zu überschätzen, ja mit einem zuzeiten merkbaren, ironischen Gefühl für die Nichtigkeit des ganzen wilden Treibens rund um ihn jahrein, jahraus. Er blieb der weiteren Prager Öffentlichkeit gegenüber anonym, nur wenige kannten ihn, während die von ihm »angeregten« Feuilletonisten, Politiker, Kritiker des Blattes populäre Leute wurden.

Die betonte Formlosigkeit, mit der er seine Herrschaft ausübte, gehörte mit in sein Instrumentarium des blendend jonglierenden, vollendet sicheren Arbeitskünstlers. »Nur keine Wichtigtuerei, bitte, morgen sind wir Klosettpapier«, so hieß es öfters bei ihm – aber das Blatt, dieses zugegebenermaßen unbeträchtliche, ja niedrige Ziel verlangte den ganzen Menschen und erfüllte ihn. Dem Blatt diente sein konziliantes heiteres Wesen, das im gegebenen Moment doch auch unerbittliche Härte zeigte – äußerlich merkte man dieses immer bereite Nein kaum, alles ging flott her. »Für das Neinsagen werde ich bezahlt«, lachte er, wenn er den vielen Schriftstellern, Projektemachern, Bittstellern ihre mit Elan vorgebrachten Wünsche abschlug, keiner Überredungskunst zugänglich. Die marineblaue Hausjoppe, die er sofort anzog, wenn er im Büro erschien, und bis zum Weggehen nicht ablegte, wirkte wie ein Plakat der zwanglosen Manieren, die er eingeführt hatte. Redaktionskonferenzen oder ähnliche »Aufgeblasenheiten« gab es nicht. Die nötige Koordinierung besorgten die Schrapnelle. Eine »Anmeldung« war nur für Nicht-Redaktionsmitglieder eingeführt. Simta hielt darauf, daß jeder interne Mitarbeiter jederzeit sofort und ohne Umstände mit ihm reden konnte. Die Tür zu seinem Vorzimmer wie die zum eigentlichen, höchst einfachen Arbeitszimmer hatte eine besondere geheime Vorrichtung in der Klinke; ohne anzuklopfen schob man den unteren Teil des Handgriffs einwärts, schon ging die versperrte Tür auf. Rasch, womöglich mit einem Scherzwort war alles abgetan.

Die Unverdrossenheit dieses Ingeniums steigerte sich manchmal so, daß in ihr etwas wie der Gegenpol des raffiniert Ausgeklügelten, des Komplizierten, das ja von der journalistischen Maschinerie nicht zu trennen ist, sichtbar wurde: eine fast kindliche Einfachheit, ja Naivität. Unvergeßlich eine kleine Szene: Wir saßen einmal nach getaner Arbeit um Mitternacht in der Setzerei, alle Korrekturen waren fertig, die umbrochenen Spalten hinter die große Glaswand weggebracht, hinter der das Tambouringerassel der Maschinen nur schwach hörbar wütete. Am nächsten Morgen sollte Simta seine längst verdiente Erholungsreise antreten. Er saß auf einem der mit Blech beschlagenen, langen Korrekturtische und ließ die kurzen Beine hinunterbaumeln, sein Blick umfaßte die Mitarbeiter, die Setzer, Korrektoren, die Journalisten, die ganze, jetzt vorübergehend ruhige Werkstatt, der Blick wurde trüb, sogar die marineblaue Joppe schien sich grau zu entfärben, ein Seufzer stieg aus der chefredaktionellen Brust, ein echtes tiefes Bedauern: »So schön ist’s hier … und da soll man morgen auf Urlaub gehn!«

Dabei war Simta nicht etwa verbohrt und alles andere als ein Fachsimpel. Kaum je ist mir ein gebildeterer Mensch begegnet, harmonisch nach mannigfaltigen Richtungen sich vervollkommnend; er las viel, hatte eine große, wohl ausgewählte Bibliothek – ein beträchtlicher Teil seiner Lektüre galt allerdings dem Bestreben, »sich auf dem laufenden zu halten«, ein eigenes fundiertes Urteil über das Schöne fehlte ihm oft, er hielt sich, was die »Neuerer« anlangte, mit geringen Ausnahmen an das, was die internationale Börse des Ruhmes von Tag zu Tag notierte, wiewohl er ja von Berufs wegen hinter die Kulissen dieses sonderbaren Theaters blicken konnte und wußte, daß die Zeitungen nur über denjenigen Schriftsteller und Komponisten etc. viel und lobend berichten lassen, über den bereits allgemein viel und lobend berichtet worden ist. Der Anfang dieser Kette ist ein ebenso undurchsichtiges Rätsel wie die Weltschöpfung. Denn selten genug findet sich ein Mutiger, der die Routine durchbricht. – Doch Simta hatte auch seine persönlichen Vorlieben für ein paar wirklich gute Autoren, kehrte auch immer gern zu den Klassikern und zu den großen Historikern der Weltgeschichte zurück. Einmal überraschte ich ihn beim Thukydides. Nie machte er ein Wesen aus seiner Gelehrsamkeit. Besonders liebte er Goethe – und unter Goethes Werken vornehmlich die Briefe, auch die sonst weniger bekannten. Er sagte oft, daß er von Goethe all das gelernt habe, was etwa als seine Fähigkeit angesehen werden könne, mit dem Leben einigermaßen fertig zu werden. (Goethe und die Bibel können ja auf die verschiedensten Arten gelesen werden; auch der Teufel legt die Bibel aus.) – Auf Goethe bezog sich denn auch das erste intimere Gespräch, das ich mit Simta hatte. Als ich wieder einmal, wie es meine leidige Gewohnheit war, die Ungunst der Zeit beklagte, in der wir lebten, verwies er mich auf einen Brief, den Goethe mitten in den Stürmen des Endkampfes gegen Napoleon und der ihm verhaßten kriegerischen Unordnung diktiert hatte: »›Ich habe keine weitere Ambition, als daß man zu mir sagen möge: you are the merriest gentleman in Europe.‹ Goethe stellt man sich meist ein wenig anders vor, nicht?« fügte Simta nicht ganz ohne Stolz hinzu. »Das Zitat geht aber nicht ganz so«, erwiderte ich. »You are the merriest undone man in Europe – der lustigste ruinierte Mann in Europa.«

»Sie kennen die Stelle?« Simta war verwundert, doch nicht im geringsten beleidigt über meine Richtigstellung. Er liebte es geradezu, eines Besseren belehrt zu werden, war eifrig dahinter her. Erfreut packte er meinen Arm, ganz fest, wie er es in seiner Lebhaftigkeit öfters tat: »Dann wissen Sie auch, daß in diesem wahrhaft mephistophelischen Brief an den Herrn von Trebra der Satz vorkommt, daß alle Männer eingerückt sind. Und dann: ›Uns Übersechzigern aber bleibt nichts übrig, als den Frauen schön zu tun, damit sie nicht gar verzweifeln. Vivat sequens.‹«

Ich lachte und tat, als sei dieser trüb-übermütige Ausdruck mir neu. Dabei hatte ich mit Edith nichts Vergnüglicheres gewußt als an langen Winterabenden einander Briefe und Memoiren aus entlegensten Winkeln von Welt und Zeit vorzulesen. Edith hatte eine Hinneigung zu allem, was in individuellen Lebensführungen an der Grenze des Komischen, kaum Verständlichen, Eigensinnigen, Nicht-Einordbaren, Skurrilen schwebte – und ich war ihr gern gefolgt, wie in so vielem. Simta gegenüber sagte ich aber lieber: Nein. Zu leicht würde man bei ihm als Spezialist für dies oder jenes abgestempelt (in diesem Fall, beispielsweise, für Goethe oder gar für alle Klassiker); und der übereifrig einregnenden »Schrapnelle« hätte man sich dann in der Folge gar nicht mehr erwehren können.

Der Kronprinz

Die Verwüstung, die der Tod meiner Frau in mir angerichtet hatte, übertraf an Kraft alles, was mir bis dahin widerfahren war. Ich hatte nur ein einzigesmal den Tod aus der Nähe zu spüren bekommen: bei einem Schul- und Malfreund. Auch das hatte mich seinerzeit umgeschmissen. Aber mit dem Wegsterben einer geliebten Frau, mit der man so lange und so vertraut ein gemeinsames Leben geführt hat, konnte das doch nicht verglichen werden. Jetzt war mein Leben wie ein Baum von einem Blitz gespalten; und die eine Hälfte abgestorben.

»Nicht als einem Unsterblichen bist du mir gestorben – und nur das ist jetzt mein ganzer Trost.« Dies war mein Hauptgefühl in jener Zeit. Es erfüllte mich, es quoll mir aus allen Poren und umgab mich, wie eine Regenwolke eine Landschaft umgibt und durchdringt. »Nicht als einem Unsterblichen bist du mir gestorben – sondern auch ich selbst bin ja sterblich und werde von hier verschwinden wie du.«

»Ich tue dir kein Unrecht, wenn ich dich überlebe, mein kleines Edithlein.« Das sagte ich mir wohl hundertmal am Tag. Immer wieder hatte ich das Bedürfnis, mir das klarzumachen, denn gleichzeitig regte sich mir irgendwo im Innersten so etwas wie eine Ahnung: Es ist ein Übervorteilen des Toten, wenn man weiterlebt. Man betrügt die Toten, benachteiligt sie. Das liegt auch in dem ironischen Satz des größten aller neueren Troubadours, den wir, Edith und ich, so oft scherzend und lachend einander zitiert hatten, in dem Satz von Jules Laforgue: »Er aber wird nicht zögern, sie zu überleben.« »Et Gaspard ne tardera pas à lui survivre« … Laforgue, der Meister der erneuerten Mythen und Legenden – wie graziös erzählt er die klassische Fabel von den »beiden Täubchen« ein zweites Mal. Das eine Täubchen, die Frau, stirbt … auf entsetzliche Art … der verliebte Mann aber »wird nicht zögern, sie zu überleben«.