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Sound der Zeit

Geräusche, Töne, Stimmen
1889 bis heute

Herausgegeben von
Gerhard Paul und Ralph Schock

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2014

www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Aldus und der Frutiger

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, SG-Image

unter Verwendung folgender Fotografie: Die Ethnologin Frances Densmore nimmt die Stimme des Piegan-Häuptlings mit einem Phonographen am 2. Februar 1916 im Smithsonian auf

© Slg. G. Paul – Library of Congress

Druck und Verarbeitung: Pustet, Regensburg

Lithografie: Schwab Scantechnik GmbH, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1568-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2688-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2689-7

Inhalt

Einleitung

1889 bis 1919

Soundgeschichtliche Gründerzeit. Klanglandschaften der Jahrhundertwende und des Ersten Weltkrieges

JAN-FRIEDRICH MISSFELDER

Verklungenes und Unerhörtes. Klangkulturen des 19. Jahrhunderts

STEFAN GAUSS

Der Sound aus dem Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons

PETER PAYER

Signum des Urbanen. Geräusch und Lärm der Großstadt um 1900

MARTIN KOHLRAUSCH

Kaiser-Sound. Wilhelm II. auf frühen Tondokumenten

TOBIAS WIDMAIER

Heil dir im Siegerkranz. Patriotisches Liedgut im Deutschen Kaiserreich

PETER PAYER

Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen! Lärmschutz im frühen 20. Jahrhundert

HEINZ HIEBLER

Caruso auf Platte. Die Geschichte der Tonspeicherung und der Tonträger

MELANIE UNSELD

Le Sacre du Printemps. Ein Schlüsselwerk der musikalischen Moderne

GERHARD PAUL

Trommelfeuer aufs Trommelfell. Der Erste Weltkrieg als akustischer Ausnahmezustand und die Grenzen der Reproduktion

RALPH SCHOCK

gadji beri bimba / glandridi lauli lonni cadori. Lautpoesie von Hugo Ball bis Bas Böttcher

1919 bis 1933

Klangwelten der Moderne. Die Roaring Twenties

WOLFGANG RATHERT

Fabriksirenen, Nebelhörner, Dampfbootpfeifen. Die Klangwelt der Moderne und das Geräusch

HANS-ULRICH WAGNER

Achtung, Aufnahme! Mikrofonberufe in der Geschichte des Rundfunks

CLAUDIA BULLERJAHN

The Jazz Singer. Der neue Klang des Tonfilms

CLAUDIA SCHMÖLDERS

Frauen sprechen hören. Aufstieg einer Klanggestalt

RALPH SCHOCK

Rumm rumm haut die Dampframme. Großstadtlärm im Spiegel der Literatur

CAROLIN STAHRENBERG

Roaring Twenties. Die populäre Musik der 1920er Jahre

DANIEL MORAT

Die Sinfonie der Großstadt. Berlin und New York

HANNS-WERNER HEISTER

Vorwärts und nicht vergessen. Politische Kampflieder

1933 bis 1945

(Zwangs-)Beschallung und Stille. Klanglandschaften der 1930er und 1940er Jahre

CORNELIA EPPING-JÄGER

LautSprecher Hitler. Über eine Form der Massenkommunikation im Nationalsozialismus

JULIANE BRAUER

… so machtvoll ist der Heimatlieder Klang. Musik im Konzentrationslager

LUTZ NEITZERT

Muzak. Funktionelle Musik, Klangtapeten und Zwangsberieselung im öffentlichen Raum

SIGRID FALTIN

La Paloma. Die Grande Dame der Popmusik

MARTINA HESSLER

Oh the humanity. Herbert Morrisons Radioreportage vom Absturz der Hindenburg in Lakehurst

INGE MARSZOLEK

Schienenklänge – Lokgesänge. Soundkosmos Eisenbahn

HANNS-WERNER HEISTER

»Entartete Musik«. Die Verfolgung moderner, jüdischer und linker Musik

CONRAD PÜTTER

Hier ist England. Der Ätherkrieg gegen das »Dritte Reich«

DIETMAR SÜSS

Warnsignale des Todes. Fliegeralarm und Luftschutzsirenen

BERND ULRICH

Der Krieg – ein rücksichtsloses Geräusch. Der Lärm des Zweiten Weltkriegs

CLAUDIA HELMS

Tönende Wochenschau. Die Musik der Deutschen Wochenschau

ANNELIES JACOBS / KARIN BIJSTERVELD

Der Klang der Besatzungszeit. Amsterdam 1940 bis 1945

GERHARD PAUL

Wagners Walkürenritt. Aus dem Orchestergraben auf das Schlachtfeld des (post-)modernen Krieges

RALPH SCHOCK

Sinnlos verlorene Liebesmüh für Deutschland. Thomas Manns BBC-Reden: Deutsche Hörer!

JÖRG KOCH

Davon geht die Welt nicht unter. Die musikalische Ertüchtigung der »Volksgenossen«

BERND POLSTER

Sound der Freiheit. Swing und »Swingjugend« im Nationalsozialismus

KARL-HEINZ GÖTTERT

Wollt ihr den totalen Krieg? Der Lautsprecher und die Medialisierung der Stimme des Politikers

CLAUDIA SCHMÖLDERS

Freislers Stimme. Vernichtungsrhetorik vor dem Volksgerichtshof 1944

1945 bis 1949

Nachhall und neuer Sound. Klanglandschaften der Nachkriegszeit

HANNS-WERNER HEISTER

Neue Musik nach dem Zweiten Weltkrieg. Ordnung oder Auflösung der Elemente und Engagement

WOLFGANG RUMPF

Music in the Air. AFN: neue Musik, neue Radiokultur, neues Lebensgefühl

HANS-ULRICH WAGNER

Radiomeldungen. Von Seewetterberichten, Suchmeldungen und Verkehrsnachrichten

1949 bis 1989

Soundrevolutionen und Ätherkrieg. Klanglandschaften einer gespaltenen Welt

ADA BIEBER / GÜNTER HELMES

Von Trizonesiern, Konjunkturrittern und Herzensbrechern. Der Schlagersound der 1950er Jahre

THOMAS GOLL

Die Partei, die Partei hat immer recht! Das politische Lied in der DDR

HANS-ULRICH WAGNER

Träume. Die Geschichte des Hörspiels

OLAF STIEGLITZ

Tor, Toor, Toor, Tooooor. Sportreportagen im Radio

HERMANN KURZKE

Deutschland, Deutschland – aus Ruinen. Zwei deutsche Hymnen

STEFAN FRICKE

John Cage. Die Stille und die Ewigkeit

KARIN HARTEWIG

Von toten Punkten und der wilden Frische von Limonen. Der Klang der Marken

MATTHIAS S. FIFKA

Rock around the clock. Die Eroberung Europas durch die Rockmusik

KARIN HARTEWIG

Klack, klack, klack. Der erotische Klang der Stöckelschuhe

HANS-HERMANN HERTLE

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten! O-Töne und Reportagen zum Mauerbau

ECKART D. STRATENSCHULTE

Lasst euch nicht verhetzen! Der Lautsprecherkrieg in Berlin

MARK BRINK

Düsentrieb und Überschall. Der Himmel als Kloake und die Entstehung des Bürgerprotests gegen Fluglärm

ANDREAS W. DAUM

Ich bin ein Berliner. John F. Kennedys Ansprache vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin

SIBYLLE MACHAT

I have a dream. Martin Luther Kings Rede vom 28. August 1963 in Washington

WOLFGANG BIEDERSTÄDT

We shall overcome. Die Lieder der Bürgerrechtsbewegung von Joan Baez und Bob Dylan

DETLEF SIEGFRIED

Wild Thing. Der Sound der Revolte um 1968 451

KATHRIN FAHLENBRACH

Ho Ho Ho Chi Minh! Die Kampfschreie der Studentenbewegung

GERHARD PAUL

In einem stillen Land. Soundscape DDR

HANS-JOACHIM ERWE

Je t’aime. Soundtrack der »sexuellen Revolution«?

GERHARD PAUL

Taa-taa, ta-ta-ta-taaa – Tatü tata. Sound-Logos des Fernsehens

DIETRICH HELMS

Thriller. Das erfolgreichste Album »aller Zeiten«

INGO GRABOWSKY

Sonderzug nach Pankow. Udo Lindenberg und die deutsch-deutsche Sehnsucht

AXEL DOSSMANN

Wir sind das Volk! Von der Stimmgewalt im Herbst 1989 – und von Volker

1990 bis heute

Geräuschkulissen – digitaler Sound – Loudness War. Klanglandschaften des digitalen Zeitalters

ROLF GÖSSNER

Abhören und Lauschen. Zur Entwicklung der akustischen Überwachung

KAI BRONNER

Audio Branding. Von tönenden Werbebotschaften, klingenden Logos und Markensounds

HEINER STAHL

Klanginseln – Hintergrundrauschen – Selbstmischungen. Der Sound der postmodernen Großstadt

STEPHAN WEICHERT

Oh, my god! Klanglandschaft 9 / 11

M. J. GRANT

Rein, schön, furchtbar. Musik als Folter

FRAUKE BEHRENDT

Klingeling … klingeling … klingeling … Telefon! Zur Kulturgeschichte des Klingeltons

KARSTEN LICHAU

… währenddessen auf zwei Minuten jeder Ton und jede Bewegung aussetzt. Die Schweigeminute als akustische Inszenierung politischer Einheit

SIEGLINDE GEISEL

Unerhört. Veränderungen des Geräusch- und Lärmempfindens

Anhang

Hörbeispiele im Internet

Ausgewählte Literatur

Autorenverzeichnis

Personenregister

Ortsregister

Sound der Zeit

Einleitung

Der Teufel kam hinauf zu Gott

Und brachte ihm sein Grammophon

Und sprach zu ihm, nicht ohne Spott

Hier bring ich Dir der Sphären Ton

(Christian Morgenstern)

In seiner Vorlesung über das Wesen der Religion widmete der Philosoph Ludwig Feuerbach den Sinneseindrücken bei der Ausprägung des religiösen Gefühls eine längere Betrachtung: »Hätte der Mensch nur Augen und Hände, Geschmack und Geruch, so hätte er keine Religion, denn alle diese Sinne sind Organe der Kritik und Skepsis. Der einzige sich im Labyrinth des Ohres ins Geister- oder Gespensterreich der Vergangenheit und Zukunft verlierende, der einzige furchtsame, mystische und gläubige Sinn ist das Gehör.« Es gebe Völker, »bei welchen kein anderes Wort für Gott existiert als der Donner«; das Trommelfell sei der Resonanzboden des religiösen Gefühls, das Ohr insgesamt die »Bärmutter der Götter« und damit das »Organ der Angst«. Doch das Ohr ist nicht nur der mediale Kanal, mit dem die Götter Furcht und Schrecken verbreiteten, auch die Menschen nutzten ihn mit der gleichen Absicht. Sie schüchterten den Gegner ein durch lautes Rufen oder Schlagen der Speere auf die Schilde (wodurch sie zugleich ihre eigene Angst vertrieben). Julius Cäsar beschrieb in de bello gallico respektvoll die Schlachtgesänge der Germanen (barditus), James Fenimore Cooper das sprichwörtlich gewordene Huronengebrüll.

Lärm, dem man sich nicht entziehen kann, war für Dante eine der schlimmsten vorstellbaren Foltern überhaupt. Im Kapitel Inferno in der Göttlichen Komödie besteht eine der Strafen der Verdammten darin, ewig an eine Glocke geschmiedet zu sein, deren gewaltige Schläge dem Pönitenten unaufhörlich durch Mark und Bein dröhnen. Auch jeder Besucher eines Rockkonzerts weiß, wovon Dante schreibt. Ohrenbetäubender Lärm ist eben nicht nur Folter; es kann auch höchst mitreißend sein, das Wummern einer Bassgitarre, das Stampfen eines Schlagzeugs in jeder einzelnen Körperzelle zu spüren.

Das Ohr nimmt noch anderes auf. In seiner Vorrede zu Hölderlins Hyperion schreibt Dietrich E. Sattler: »Das Gesagte gilt einem anderen Deutschland, jenseits von Herrschaft, Gerede und Lärm.« Das Ohr also auch als nicht zu verschließendes Einfallstor läppischer Banalitäten, die vom Eigentlichen – dem Ernst, der Stille, der Konzentration – wegführen.

Der englische Mathematiker Charles Babbage kaufte alle Drehorgeln in seiner Umgebung auf, weil sie ihn beim Nachdenken störten. Schopenhauer seufzte: »Der Lärm ist der Mörder aller Gedanken«. Und: »Ich möchte wissen, wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben.« Goethe kaufte ein baufälliges Haus in der Nachbarschaft auf, um dessen – absehbar Lärm verursachende – Renovierung zu verhindern. Heine hielt die Pendel sämtlicher Uhren in seiner Wohnung an, weil ihn deren Ticken am Schreiben hinderte – und wusste doch: »Oh Grab, du bist das Paradies für pöbelscheue zarte Ohren!« Ähnlich Kafka, der in seinem Tagebuch notierte: »So viel Ruhe wie ich brauche gibt es nicht oberhalb des Erdbodens.« Richard Wagner bestreute die Straße vor seinem Haus mit Glasscherben, um spielende Kinder fernzuhalten. Wilhelm Busch hasste das Klappergeräusch von Messer und Gabel sowie das Türenschlagen. Marcel Proust ließ dicke Lagen Kork an den Wänden seines Arbeitszimmers anbringen, um alle Außengeräusche abzuhalten.

Nicht nur individuelle Strategien gegen den Lärm wurden entwickelt. In den USA gründete Mrs. Isaac L. Rice wegen der unerträglichen Dauergeräusche aus dem New Yorker Hafen 1908 den ersten Antilärmverein, die Society for the Suppression of Unnecessary Noise; ihr berühmtestes Mitglied war Mark Twain. Der Schriftsteller Ferdinand Avenarius rief im selben Jahr in der Zeitschrift Der Kunstwart zur Bildung eines internationalen Antilärmbundes auf unter dem merkwürdigen Motto non clamor sed amor (nicht das Geschrei, sondern die Liebe). Und Ende der 1920er Jahre versuchte die Wiesbadener Polizei eine »hupenlose Woche« einzuführen. All dies waren Initiativen, um die schlimmsten Auswüchse des Lärms etwas zu lindern, unterbinden konnten sie ihn nicht.

Der Mensch nimmt – mehr oder weniger bewusst – einen Großteil seiner Informationen über das Gehör auf. Es gibt Klänge, die man nicht mehr vergisst, so nachhaltig haben sie sich in das akustische Gedächtnis eingegraben. Für die, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, zählen dazu gewiss die lang anhaltenden Pfeiftöne der Luftschutzsirenen, die die anfliegenden alliierten Todesschwadronen ankündigten. Auf andere Weise unvergesslich sind aber auch immer wieder gehörte Tonfolgen aus der Werbung für eine Kaffeesahne (»Nichts geht über Bärenmarke«) oder Süßigkeiten (»Haribo macht Kinder froh«), die ebenfalls einen ganz eigenen akustischen Erinnerungskosmos evozieren. Wir haben Stimmen von Sängern bzw. Melodien wie Yesterday oder Fragmente eines akustischen Brandings abgespeichert, die wir, solange wir leben, nicht vergessen. Dazu gehören auch die vertrauten Stimmen etwa der Eltern, der Geschwister oder der Großeltern. Es gibt Verkehrsgeräusche, an die man sich gewöhnt hat und die man eventuell sogar nostalgisch verklärt wie das rhythmische Schnaufen der Dampflok. Und es gibt Geräusche, an die man sich nie gewöhnt, etwa den Lärm von Düsenflugzeugen in der Einflugschneise eines Flughafens. Warum reagieren wir so unterschiedlich auf Gehörtes?

Wie klangen Städte zur vorletzten Jahrhundertwende im Vergleich zu der Zeit vor dem Beginn von Industrialisierung? Und wie klingen Städte heute? Sind sie lauter oder leiser geworden? Ab wann begannen Menschen, den urbanen Lärm als Belastung, gar als unerträgliche Belastung wahrzunehmen? Ab wann wurde der Lärm erfasst und gemessen? Wann wurde – und gegen welche Widerstände – mit der Planung von Lärmschutzmaßnahmen begonnen? Hatte die DDR einen anderen ›Sound‹ als die Bundesrepublik? Weisen politische Gemeinwesen überhaupt so etwas wie eine akustische Kennung auf? Und worin besteht diese? Kann man sie beschreiben? Wie klang die Stimme Hitlers, die wir nur aus den Aufzeichnungen von Großveranstaltungen kennen, im privaten Umfeld? Ist es überhaupt wichtig, diesen Unterschied zu kennen? Wann und mit welchen Folgen begannen die Nazis, Mikrofon und Lautsprecher in ihrer politischen Agitation einzusetzen? Wie beschallte man das riesige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg? Wie wurde damals und wie wird heute mit Tönen und Klängen Politik gemacht? Welche Rolle spielen dabei die technischen Medien der akustischen Reproduktion? Welche Bedeutung können Lieder bei der Identitätsbildung von Individuen, Kollektiven oder gar Nationen haben?

Musik war und ist nie nur eine kulturelle Ausdrucksform oder ein passives Hörvergnügen, sie wurde und wird auch heute eingesetzt, um subtil zu beeinflussen, zu benebeln, zu schockieren, zu quälen, gar zu foltern. Eine Musikkapelle begleitete nicht nur im KZ Mauthausen Todgeweihte zur Hinrichtungsstätte. Mit Richard Wagners Walkürenritt fielen US-Truppen in irakische Städte ein. Im amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo versuchte man, die dort Festgehaltenen zu brechen, indem man sie über Kopfhörer stundenlang mit Musik aus der Serie Sesamstraße beschallte.

Mit solchen Themen oder Fragen beschäftigen sich die Beiträge in diesem Buch. Wie diese Beispiele zeigen, verwenden wir – ähnlich wie die Hamburger Medienwissenschaftlerin Joan Bleicher und der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer – einen weiten Klangbegriff, nämlich im Sinne des Englischen ›sound‹ als der »Gesamtheit von Stimmen, Tönen und Geräuschen«.

Aber wie ›klingt‹ nun eigentlich Geschichte, und warum hat die Geschichtswissenschaft in akustischer Hinsicht bislang »kaum einen Laut« von sich gegeben (Tillmann Bendikowski)? Historikerinnen und Historiker eignen sich seit jeher die Vergangenheit über das Studium von Texten und auch – in jüngerer Zeit verstärkt – durch die Analyse von bildlichen Quellen an. Dass wir nur einen verschwindend kleinen Teil der Vergangenheit ›hören‹ können – nur für die Zeit ab etwa 1900 existieren authentische akustische Quellen –, hat dazu geführt, dass die Geschichtswissenschaft bei der Recherche und Deutung der Geschichte lange Zeit fast vollständig darauf verzichtet hat, das Sinnesorgan Ohr zu berücksichtigen. Auch wenn die Geschichtswissenschaft infolge des iconic turn nun zunehmend aus ihrer Textlastigkeit herauszufinden scheint, bewegt sie sich weiterhin überwiegend in einer Sphäre der Stille und Lautlosigkeit. Töne und Geräusche werden bestenfalls dann zum Untersuchungsgegenstand, wenn sie schriftlich festgehalten, also in einen Text ›übersetzt‹ worden sind. Der eigentliche ›Sound der Geschichte‹ jedenfalls ist bislang nur selten konstitutiv in die Historiografie eingegangen, das gilt für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts wie für unserer eigene demokratische Phase.

Warum sollen wir uns nach den Bildern des Jahrhunderts nun auch noch mit seinem Sound beschäftigen? Auf diese Frage haben etwa der Bildwissenschaftler Gottfried Boehm, der Zeithistoriker Thomas Lindenberger und die Medienwissenschaftler Harro Segeberg und Frank Schätzlein Antworten gegeben. Es gebe, so Boehm, jenseits der Sprache »gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges« – also gerade keine Texte, mit denen Historiker es noch immer primär zu tun haben, und sie sind auch nicht wie diese analysierbar. Laut Lindenberger müssen die »heutigen ›Mitlebenden‹« auch »als ›Mithörende‹ und ›Mitsehende‹ konzipiert werden, um ihre Erfahrungen und Erzählungen angemessen deuten zu können. Ihre Lebenswelt war und ist bestimmt von der alltäglichen Gegenwart der Audiovision, ihre Erfahrung von Wirklichkeit auch vermittelt über die Klänge von Schallplatte und Radio, die Fotos in den Illustrierten, die bewegten (Ton-)Bilder in Wochenschauen, Spielfilmen und Fernsehen.«

Für Segeberg und Schätzlein schließlich ist die Moderne nicht nur die Moderne der Bilder, sondern auch die »der Geräusche und Töne«, die es vermögen, »einen zehnmal größeren Wahrnehmungsraum als Bilder (zu) entfalten«. Daher sei es »schon längst an der Zeit, die Medien des 20. und 21. Jahrhunderts nicht länger nur von ihren Bildobjekten, sondern mindestens ebenso sehr von ihren Klangobjekten her aufzuschlüsseln«.

In den Geisteswissenschaften, so scheint es, wird Sound zunehmend als Teil einer umfassenden Geschichte der Sinne begriffen. Wenn Geschichte in ihrer Totalität erfasst werden soll, so bedeutet dies, auch ihren Sound zu reflektieren. Für das 20. Jahrhundert kommt noch etwas hinzu. Mit den Erfindungen der technischen Akustik und damit einhergehend neuer Aufnahme-, Speicher- und Verbreitungsmedien wie Mikrofon, Schallplatte, Tonband, Lautsprecher und Radio wurden die Ausübung von Macht und die Hegemonie über den Hörsinn um ein Vielfaches verstärkt. Zugleich stellten diese Medien immer auch neue Instrumentarien der auditiven Darstellung sowie der Reflexion von Macht und Gewalt zur Verfügung. Methodisch verkompliziert sich alles, da infolge der technischen Reproduzierbarkeit der Klänge die Differenz zwischen einem (vermeintlichen) Originalklang und seiner elektroakustischen Wiedergabe zunehmend zu schwinden droht, und ›Echo-Sound‹ – ähnlich wie Bilder – zu einer zweiten Natur, zur »zweiten Natur des Akustischen« (Marcus Gammel), geworden ist.

Auch die Geschichtswissenschaft befasst sich seit einigen Jahren mit diesem Thema, allerdings immer noch eher verhalten. Die Rede ist vom acoustic turn (Petra M. Meyer), der dem pictorial oder iconic turn folge. Sound History, so scheint es, ist in der Forschung angesagt. Historische Fachzeitschriften wie die Zeitgeschichtliche(n) Forschungen, das Archiv für Sozialgeschichte, die Historische Zeitschrift, gar Geschichte und Gesellschaft haben sich inzwischen des Themas angenommen. Der Mainzer Historikertag 2012 widmete dem Thema eine eigene Sektion. Fragestellungen der Sound History gingen konstitutiv in neuere Darstellungen wie die von Axel Schildt und Detlef Siegfried zur Kulturgeschichte der Bundesrepublik ein; eine neuere Publikation von Robert Maier befasste sich mit den Spuren des Zweiten Weltkriegs im akustischen Gedächtnis.

Eine Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts unter dem Aspekt des Sounds hat indes nicht all das bloß zu bestätigen, was über diese Zeit eh schon bekannt ist. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, auf neue, nur über Klänge bzw. den Sound erfahrbare Aspekte aufmerksam zu machen, entsprechende Fragestellungen abzuleiten und neue Antworten zu finden. Dies wollen wir in unserem Buch versuchen.

Töne, Klänge und Geräusche sind uns – ähnlich wie Bilder – nicht nur Quellen für etwas; vielmehr sehen wir in ihnen eigenständige Themen der Betrachtung. Sound ist auch ein Akteur, der, vermittelt durch vielfältige mediale Formen, als nicht zu unterschätzender Faktor (manchmal auch als Waffe) in historische Prozesse eingreift und selbst Geschichte macht. Wie R. Murray Schafer überzeugend dargelegt hat, waren historische Klänge immer auch Insignien und Instrumente von Macht. Kirchenglocken etwa symbolisierten über Jahrhunderte die klerikale Hegemonie, bis sie im 19. Jahrhundert abgelöst wurden von den Fabriksirenen der Industriebarone, die die Menschen zur Arbeit riefen. Wie bestimmte Bilder als optische Ikonen gewirkt haben, so entfalteten auch Töne, Klänge und Geräusche eine eigenständige und eigensinnige Kraft, etwa die Rockmusik der 1950 /60er Jahre oder die Lieder der baltischen Revolution nach 1989, die die Verhältnisse ›zum Tanzen‹ gebracht haben.

Das Themenspektrum des Sounds der Geschichte in diesem Buch reicht von musikalischen Klängen in Gestalt von populären Ohrwürmern und den Hits des Jahrhunderts bis hin zu Hymnen und Klassikern der Neuen Musik, von akustischen Stereotypen wie Erkennungsmelodien und Jingles über den ›Wortsound‹ legendärer Reden und Ansprachen, bemerkenswerter Reportagen und historischer Ereignismeldungen bis zu den technischen Tönen und (Alltags-)Geräuschen, vom Lärm des Krieges und des modernen Verkehrs bis zum verführerischen Klacken des Stöckelschuhs. Besonders aufschlussreich fanden wir Fragestellungen zum Verhältnis von Bild und Sound, also Synästhesien: Warum und auf welche Weise vermögen bestimmte Bilder, Klang- und Geräuschvorstellungen auszulösen, oder umgekehrt: wie imaginieren Klänge bestimmte Bildvorstellungen?

Der vorliegende Band gliedert sich in drei große Themenfelder:

– Eine Medien- und Kulturgeschichte akustischer Technologien und deren Gebrauch im Zeitalter der technischen und elektronischen Reproduzierbarkeit, also die Geschichte von Phonograph, Grammophon, Schallplatte, Lautsprecher, Tonfilm und Radio bis zum iPhone. Aus der Tatsache, dass Medien Klänge nicht im Sinne einer naturgetreuen Wiedergabe reproduzieren, sondern – wie andere Medienprodukte auch – immer interessegeleitet formatieren, folgt, »dass jede Geschichte des Klangs immer auch Mediengeschichte seiner Speicherung sein muss« (Jan-Friedrich Missfelder).

– Eine Klanggeschichte des Politischen, die nach der Wirkmacht sowie der sozialen und politischen Nutzung von Klängen, Tönen und Geräuschen fragt, den Gebrauch und die Funktion von Lautsprecher und Radio in politischen Bewegungen untersucht; den Einsatz von Musik und Lärm in den Kriegen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre Nutzung als Folterinstrument nachzeichnet und nicht zuletzt die Bedeutung von Musik, Kampfrufen und Sprechchören in den großen Umbruchsituationen wie 1968 ff. und 1989 ff. herausarbeitet.

– Ein dritter Themenbereich befasst sich mit der Bedeutung des Sounds in der Erinnerungsgeschichte. Dabei gehen wir von der These aus, dass Erinnerung nicht nur durch visuelle oder olfaktorische, sondern auch durch akustische Eindrücke jedweder Art geprägt wird. Wie, warum und mit welchen Folgen verbinden sich in der Erinnerung bestimmte Ereignisse mit welchen Klängen? Welche Bedeutung kommt etwa dem ›Wortsound‹ bedeutender oder demagogischer Reden des Jahrhunderts zu? In welchem Verhältnis steht dieser erinnerte Sound zum tatsächlichen Inhalt einer solchen Rede? Die Bedeutung akustischer Eindrücke für die Erinnerung wie insgesamt die Auslotung der vielfältigen Formen unseres akustischen Gedächtnisses ist ein noch weithin unbearbeitetes Forschungsfeld.

Es geht uns, allgemeiner formuliert, um die Frage nach der Bedeutung, die vergangene Gesellschaften und ihre Akteure der akustischen Dimension ihrer jeweiligen Erfahrung zuschreiben; es geht uns um die Inventarisierung des Verklungenen und die akustische Kennung des Jahrhunderts bzw. einzelner Zeitabschnitte und Ereignisse; es geht schließlich um das kollektive Hör-Gedächtnis und um herausragende akustische Erinnerungsorte, in deren Klangspuren sich Geschichte beispielhaft verdichtet hat.

Zu diesem Zweck beschreiben und untersuchen die einzelnen Beiträge zunächst das Spezifische einzelner Töne, Klänge und Geräusche. Sie gehen sodann ihrem historischen, politischen und kulturellen Entstehungskontext nach sowie ihren Funktionen bzw. den verschiedenen sozialen und politischen Nutzungsformen. Einen besonderen Akzent legen etliche Beiträge auf den kulturellen Umgang mit dem Sound des Jahrhunderts in Musik, bildender Kunst und Literatur, also auf dessen nachträgliche kollektive Rezeption und Bearbeitung, durch die der Sound oft erst Bestandteil der Alltagskultur wurde. Schließlich wird nach der Bedeutung bestimmter Klänge und Geräusche für das kollektive Gedächtnis gefragt.

Anders als es vielleicht den Anschein haben könnte, liefert unser Buch keine in sich geschlossene Sound History des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, allenfalls einige Aspekte und Facetten. Es markiert ein Arbeits- und Forschungsfeld, das es weiterhin zu bestellen gilt. Nicht zuletzt möchte es sensibilisieren für die Bedeutung des Akustischen in der Geschichte und den Umgang mit Tönen, Klängen und Geräuschen in der Gegenwart.

Ähnlich wie eine Visual History ist auch eine Sound History nur als interdisziplinäres Projekt sinnvoll anzugehen. Es freut uns daher, Autorinnen und Autoren aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen sowie ausgewiesene Medientheoretiker und -praktiker aus dem In- und Ausland gewonnen zu haben, von denen etliche zu den Protagonisten der neuen Sound Studies bzw. der Sound History zählen. Einige der hier publizierten Aufsätze fassen umfangreiche Studien oder Forschungsergebnisse zusammen; andere sind Untersuchungen, die eigens für diesen Band geschrieben wurden. Dass die methodischen Ansätze und die Begrifflichkeit in diesen Texten nicht einheitlich sind, sollte nicht verwundern, denn das Forschungsgebiet ist neu. So verstehen wir diesen Band denn auch als einen Beitrag zu einer noch zu schreibenden Soundgeschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.

Die Auswahl der hier behandelten Töne, Klänge und Geräusche beruht vornehmlich auf unseren eigenen akustischen Erinnerungen. Wir nehmen allerdings an, dass diese große Schnittmengen mit dem kollektiven Soundgedächtnis aufweisen. Durch Vorschläge von Autoren wurden weitere Texte angeregt. Gleichwohl bleibt die getroffene Auswahl in hohem Maße subjektiv und beansprucht keinerlei Repräsentativität. Wir haben uns entschlossen, die einzelnen Aufsätze chronologisch anzuordnen, um so die historische Orientierung zu erleichtern, aber auch, um Veränderungen in der Zeit deutlich werden zu lassen. Die Auswahl der Abbildungen, die jeden Aufsatz eröffnen, besorgte Gerhard Paul. Trotz intensiver Recherchen konnten in einigen Fällen die Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Hier ist der Verlag bereit, rechtmäßige Ansprüche nach Anforderung abzugelten.

Die Idee zu diesem Buch entstand im Januar 2011 bei einem Abendessen im Saarbrücker Restaurant Zum Stiefel. Ende 2013 ist in der Bundeszentrale für politische Bildung in der Reihe »Zeitbilder« ein Broschurband dieses Buches erschienen. Aus Kostengründen konnten leider nicht alle Texte in die hier vorliegende Ausgabe übernommen werden.

Wir danken Thedel von Wallmoden und dem Wallstein Verlag, dass unsere »Soundgeschichte« – wenn auch in abgespeckter Form – nun auch im Buchhandel erworben werden kann. Wir danken Stefanie Mürbe vom Wallstein Verlag für die gute Zusammenarbeit und Lina-Sophie Jacobs, die die Register dieser Ausgabe erstellte. Die Lektorierung der auch dieser Ausgabe zugrundeliegenden Texte besorgte in bewährter Professionalität Verena Artz (Bonn).

Gerhard Paul und Ralph Schock im August 2014

Literatur

DANTE ALIGHIERI: Die Göttliche Komödie, Bd. 1: Inferno / Hölle, übersetzt von Hartmut Köhler, Stuttgart 2010.

TILLMANN BENDIKOWSKI: Öffentliches Singen als politisches Ereignis. Eine Herausforderung einer historischen Quelle für die Geschichtswissenschaft, in: ders./Sabine Gillmann / Christian Jansen / Markus Leniger / Dirk Pöppmann (Hrsg.): Die Macht der Töne – Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, S. 23-37.

JOAN BLEICHER: Zur Rolle von Musik, Ton und Sound im Internet, in: Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 366-380.

GOTTFRIED BOEHM: Jenseits der Sprache. Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Christa Maar / Hubert Burda (Hrsg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 28-43.

LUDWIG FEUERBACH: Vorlesungen über das Wesen der Religion – nebst Zusätzen und Anmerkungen, Berlin 1981. MARCUS GAMMEL: Von der Mündung zur Quelle. Zur zweiten Natur des Lautsprechers, in: kunsttexte.de 4 (2010) 1, S. 1-5, URL: urn:nbn:de:kobv:11-100178823.

RICHARD KATZ: Drei Gesichter Luzifers – Lärm, Maschine, Geschäft, Zürich / Leipzig 1934.

THOMAS LINDENBERGER: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1 (2004) 1, S. 72-85, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208148/default.aspx.

ROBERT MAIER (Hrsg.): Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg, Göttingen 2011.

PETRA M. MEYER (Hrsg.): Acoustic Turn, München 2008.

JAN-FRIEDRICH MISSFELDER: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 1, S. 21-47.

DANIEL MORAT: Der Klang der Zeitgeschichte. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011) 2, S. 172-177.

DERS.: Zur Geschichte des Hörens, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 695-716.

GERHARD PAUL (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. 2 Bde., Göttingen bzw. Bonn 2008 /09.

JÜRGEN MÜLLER: The Sound of Silence. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, Historische Zeitschrift 292 (2011) 1, S. 1-29.

R. MURRAY SCHAFER: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Berlin 2010.

AXEL SCHILDT / DETLEF SIEGFRIED: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009.

HARRO SEGEBERG / FRANK SCHÄTZLEIN (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005.

1889 bis 1919

Soundgeschichtliche Gründerzeit

Klanglandschaften der Jahrhundertwende und des Ersten Weltkrieges

In vielerlei Hinsicht waren die Jahre vor und während des Ersten Weltkrieges in Deutschland und Europa soundgeschichtlich eine Art Sattelzeit, auf der die Klangsignatur des 20. Jahrhunderts gründete.

Die akustische Umgebung der Menschen – der kanadische Klangforscher und Pionier der historischen Soundforschung R. Murray Schafer spricht von »Soundscape«, was sich am besten mit »Klanglandschaft« übersetzen lässt – war noch in der Frühen Neuzeit zu über 90 % von Natur- und Menschenlauten geprägt. Mechanische Klänge machten den Rest aus. Natürliche und mechanische Laute gliederten den Tag: der erste Hahnenschrei, das Läuten der Kirchenglocken, das Schlagen der Hämmer in den Schmieden. Manchmal erschallten Jagd- oder Posthörner oder es rollten Kutschen über Kopfsteinpflaster. Im 18. Jahrhundert drängten dann die Geräusche von Werkzeugen, Maschinen und Verkehrsmitteln immer hartnäckiger ans Ohr. Die Schallwellen der sich industrialisierenden Gesellschaften waren nun auch auf dem Land zu hören. In den Städten verdichtete sich der Lärm. Der französische Schriftsteller Stendhal hat dies in seinem Roman Rot und Schwarz 1830 so beschrieben: »Kaum hat man den Ort betreten, so zerreißt einem der laute Lärm einer dröhnenden, gar bedrohlich aussehenden Maschine die Ohren. Ein paar Dutzend wuchtiger Hämmer erschüttern mit ihrem Auf und Nieder das Straßenpflaster.«

Eine gleichmäßige Dauerbeschallung indes war noch immer unbekannt. Mit dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert durchlebten die westlichen Gesellschaften schließlich eine auditive Revolution – und dies im doppelten Sinne: Die Umweltgeräusche veränderten sich nachhaltig; mit der Erfindung neuer Tontechniken brach ein neues akustisches Zeitalter an. Es gab nur wenige Geräusche des 19. Jahrhunderts, die in dieser neuen Zeit Bestand hatten. Das schwere Schnauben der Dampflokomotiven schaffte es immerhin bis in die 1960er Jahre, bevor es vom Klang der Elektrolokomotiven und schließlich der IC- und ICE-Triebköpfe abgelöst wurde, der so gar nichts mehr zu tun hatte mit dem seiner dampfenden Vorgänger.

Die in Deutschland erst verspätet einsetzende industrielle Revolution und die sich beschleunigende Urbanisierung veränderten grundlegend die bisherigen Geräuschwelten. Die Fabriksirene eroberte ihren Platz neben der Kirchenglocke und bestimmte nun den Alltag von immer mehr Menschen. Der Lärmpegel in den Städten, die – bislang von Fußgängern dominiert – sich rasant zu (auto-)mobilen Zentren wandelten, erreichte bislang unbekannte Höhen. Dampfmaschinen erzeugten nun Laute, die schon aus großer Entfernung zu hören waren: Ab den 1830er Jahren durchpflügten Lokomotiven das Land und Schiffe die Meere. Das Getöse schwerer dampfgetriebener Dreschmaschinen war in den bis dahin vergleichweise stillen ländlichen Regionen weithin zu vernehmen. Breitbandige Lärmschwaden legten sich über ganze Landstriche. Schafer spricht von einem »akustischen Imperialismus«, der sich, von den westlichen Industrienationen ausgehend, über weite Teile des Erdballs ausbreitete. Der neue Lärm galt zunächst keineswegs als belästigend und negativ, sondern – ähnlich wie die rauchenden Fabrikschlote – als Ausdruck von Macht, Effizienz und Fortschritt.

Die Laute der neuen Techniken unterschieden sich quantitativ und qualitativ von allen bisherigen Klängen. Zunächst nahm die Zahl der Geräusche übermächtig zu. Die Töne der Natur und die traditionellen Klangwelten des 19. Jahrhunderts wurden zunehmend überlagert bzw. verdrängt. Die neuen Geräusche der Straßen- und der Eisenbahnen, der Krafträder und der Automobile vermischten sich mit dem Klang der Kirchenglocken, dem Hornsignal des Postillons, den Türglocken und den mechanischen Kassen der Kolonialwarenläden, um diese schließlich ganz zu überlagern. Zudem entstanden völlig neue technische Klänge, für welche das Echolot und der funkentelegraphische Notruf nur zwei Beispiele sind. Der Erste Weltkrieg bildete den Kulminationspunkt der bisherigen Klanggeschichte des industriellen Zeitalters. Er ist daher zu Recht als die »größte Lärmentfesselung« (Sieglinde Geisel) beschrieben worden, welche die Menschheit bis dahin zustande gebracht hatte. Die sich zum Trommelfeuer steigernden Schüsse der Artillerie sprengten in akustischer Hinsicht alles bisher Dagewesene. Über Dutzende Kilometer legte sich der Kriegslärm über das Land. Wer das Kriegsgeschehen überlebt hatte, erkrankte nicht selten an den Folgen des jahrelang ertragenen infernalisch lauten Dauerlärms, viele ehemalige Soldaten erlitten dadurch dauerhafte psychische Schäden.

Mit Industrialisierung und Weltkrieg wurde der Lärm von einer privaten zu einer öffentlichen Angelegenheit und drang ins öffentliche Bewusstsein ein. Er wurde »entdeckt«, beschrieben, verteufelt, heroisiert und schließlich seit Beginn des neuen Jahrhunderts zum Politikum. Bereits im 19. Jahrhundert hatten Ärzte bei Arbeitern, die Stahlplatten vernieteten, schwerste Gehörschäden diagnostiziert, ein Leiden, das als Kesselschmiedkrankheit bekannt wurde. Es war jedoch zunächst nicht der Lärm der Industrie, der die Gemüter erregte, sondern eher der Straßen- und Nachbarschaftslärm. Noch vor dem Ersten Weltkrieg gründete der Philosoph und Pädagoge Theodor Lessing einen Antilärm-Verein in Deutschland; in einer Kampfschrift geißelte er »all dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben«. Vereinzelt nahmen sich noch vor dem Weltkrieg Stadtverwaltungen der Lärmplage an und ersannen erste Maßnahmen zu ihrer Reduzierung. Die Industrie vermarktete schnell das neue Bedürfnis nach Stille. Ab 1907 vertrieb der Apotheker Maximilian Negwer von Berlin aus die Geräuschschützer Ohropax. Mit dem Weltkrieg wurden diese zum Massenartikel, versprachen sie den Soldaten doch Schutz gegen die Schallwirkung des Kanonendonners und verlässliche »Nervenberuhigung«.

Die Zeit um die Jahrhundertwende von 1900 war zugleich eine mediengeschichtliche »Sattelzeit«. Neue revolutionäre »Aufschreibesysteme« (Friedrich Kittler) wie die Schreibmaschine, der Phonograph und Fotografie / Film ermöglichten nun das mechanische Speichern von Schrift, Ton und Bild. Erstmals in der Menschheitsgeschichte differenzierten sich diese auseinander. Sie läuteten das Ende der durch den Buchdruck geprägten »Gutenberg-Galaxis« (Marshall McLuhan) ein. Voraussetzung hierfür waren die Erfindung des Klang- und Tonschreibers, des Phonographen, 1877 durch Thomas Alva Edison und des Grammophons zehn Jahre später durch Emile Berliner. Bis dahin waren keine Originaltöne von historischen Ereignissen oder aus dem Alltag tradiert worden. Schrift und Bild, also Literatur und Kunst, waren die einzigen Speichermedien gewesen, um akustische Erfahrungen festzuhalten, ihnen Dauer zu verleihen und in beliebigem Kontext wiederzugeben. Überliefert sind erste Tonaufnahmen von Otto von Bismarck und von Wilhelm II., die sich 1889 bzw. 1904 bereit erklärten, in einen Aufnahmetrichter zu sprechen. Mit dem Knistern und dem Rauschen des Phonographen und des Grammophons betraten zugleich qualitativ neue Geräusche die Bühne der Geschichte.

Die Unterhaltungsindustrie machte sich schnell die Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Tönen und Stimmen kommerziell zunutze. Mit der Entwicklung der Schallplatte zum Massenprodukt um die Jahrhundertwende wurden die Stimmen von bekannten Sängern wie Enrico Caruso auf Platte gepresst. Sie waren damit für ein Massenpublikum verfügbar. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann der Siegeszug der neuen Medien, welche nach und nach die Geräuschkulisse in Beruf und Alltag veränderten. Stimmen, Musik und Geräusche lösten sich von ihren Urhebern und beschallten nun Privatwohnungen und öffentliche Räume. Erstmals konnte Musik orts- und zeitunabhängig rezipiert werden. Thomas Mann hat in seinem Roman Der Zauberberg dem Grammophon ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Sängerinnen und Sänger, die Hans Castorp hörte, »sah (er) nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg – sie mochten dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, […] eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten«. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Töne und Stimmen war es möglich geworden, dass diese – sowohl aus ihren originären Zusammenhängen wie von ihren körperlichen Urhebern getrennt – frei flottierend über die Kontinente vagabundierten. Dabei wurden sie beständig in neue Zusammenhänge integriert und multifunktional verwendet – ein Vorgang, den Schafer als »Schizophonie« bezeichnet hat. Mit der Reproduzierbarkeit von Tönen und Stimmen legte sich ab 1900 Schritt für Schritt ein künstlicher Klangteppich zunächst über die westliche Hemisphäre, später über den gesamten Erdball. Zu den natürlichen Klängen und Geräuschen der Natur und der Menschen und zu den mechanischen und technischen Geräuschen von Industrialisierung und Urbanisierung gesellte sich eine zweite, künstliche Natur des Akustischen. Ihr sich beständig wandelndes Verhältnis zueinander prägte die spezifische Klangsignatur des 20. Jahrhunderts.

Die reproduzierten Töne und Stimmen drangen zunehmend auch in das kommunikative und kollektive Gedächtnis ein, überlagerten und verdrängten dabei die privaten Stimmen und Geräusche und schufen spezifische akustische Erinnerungsorte. Die neuen Geräusche und Klangwelten verlangten zugleich nach einem angemessenen kulturellen Ausdruck. In der bildenden Kunst waren es die Futuristen, die von der neuen Technik begeistert waren und den Maschinen- und Verkehrslärm als Indikator des gesellschaftlichen Fortschritts glorifizierten. Mit neuen bildnerischen Darstellungsformen, die auch grafische Elemente und Ideogramme umfassten, sowie einer neuen Geräuschkunst versuchten sie, die neuen Klangqualitäten zu thematisieren. Sie gaben damit zugleich der zeitgenössischen Kunst und Musik neue Impulse.

Die neue Qualität des Lärms verlangte auch eine neue Sprache. Vor allem der industrialisierte Schlachtenlärm des Weltkriegs provozierte Schriftsteller auf beiden Seiten der Front, ihre akustischen Erfahrungen literarisch festzuhalten und hierfür eigene Ausdrucksformen zu entwickeln. Keiner hat den Lärm des Krieges präziser und ausführlicher beschrieben als Ernst Jünger in seinen Tagebüchern. Für ihn wie für zahlreiche Frontsoldaten war die differenzierende Beschäftigung mit den spezifischen Klängen der Waffen eine Überlebensfrage: nur wer in der Lage war, die Geschosse auch akustisch zu identifizieren, besaß eine Chance, angemessen zu reagieren und sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. In der dadaistischen Lautpoesie fand die Auseinandersetzung mit den neuen Lärmwelten eine eigenständige literarische Form.

Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg brachte auch entscheidende Neuerungen und Verschiebungen in der musikalischen Geografie Europas in Richtung einer musikalischen Moderne. Mit Komponisten wie Arnold Schönberg und Gustav Mahler, vor allem aber mit Igor Strawinsky geriet das konventionelle System der Tonalität ins Wanken, wogegen sich europaweit der Protest des bildungsbürgerlichen Publikums erhob. Dies zeigte nicht zuletzt der Skandal um die Uraufführung von Strawinskys Ballett Sacre du PrintempsHeil dir im Siegerkranz