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CASTRUM PEREGRINI

Neue Folge, Band 8

Herausgegeben von
Wolfgang Braungart, Ute Oelmann
und Ernst Osterkamp

Kai Kauffmann

Stefan George

Eine Biographie

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zwischen adler und leber
gewonnen
das geschliffene

affixus sum

Inhalt

Zur George-Biographie

Herkunft:
Familie und Heimat

Adoleszenz:
Schulzeit in Bingen und Darmstadt

Liminalität:
Auf dem Weg zum Dichtertum

Verwandlung der Affekte in Form:
Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal

Positionierung und Vernetzung im literarischen Feld:
Europäische Symbolisten

Seelenfreundin und Dichtermuse:
Ida Coblenz

Dichtung als Beziehungsraum und Kommunikationsmedium:
Die Bücher und Das Jahr der Seele

Künstlerfreunde:
Albert Verwey, Karl Wolfskehl, Melchior Lechter

Mehrung des kulturellen Kapitals:
Berliner Gesellschaftskreise und Literaturkritiker

Produktion einer Aura:
Der Teppich des Lebens und die George-Fotografie

Genese einer Gemeinschaft:
Der George-Kreis als Ersatzfamilie

Dichtung als Kultstiftung und Weltanschauung:
Vom Siebenten Ring zum Stern des Bundes

Der Bruch:
Die Zeit des Ersten Weltkriegs

Der alternde Meister und der verjüngte Kreis:
Vom 51. bis zum 60. Lebensjahr

Sorge ums Erbe:
Werkpolitik der letzten Jahre

Lebensende:
1933

Zum Nachleben Georges

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweise

Zeittafel

Danksagung

Namen- und Werkregister

Zur George-Biographie

Stefan George hat über sein Leben nur in stilisierter Art berichtet. In Gesprächen und Briefen beließ er es meist bei bloßen Andeutungen oder kurzen Sentenzen. Über das, was ihn im Leben wirklich berührte und bewegte, sollte einzig die Dichtung in symbolischer Form sprechen. So beschwören Verse aus dem Siebenten Ring Vorstellungen von schweren Leiden, harten Kämpfen und rettender Liebe im Leben des Dichters herauf, die legenden- und märchenhaft gestaltet sind:

Stern der dies jahr mir regiere!

Der durch des keim-monats wehende fehde

Von einem heiteren sommer mir rede

Und auch mit blumen die ernte verziere ..

Dass sich in lächelndem schimmer verliere

Ernster beladener tage getöse •

Heimliche weisheit durch fahrvolle böse

Überfinsterte wege mich rette •

Meine schweifenden wünsche kette

Und meine ängstenden rätsel mir löse!

Lag doch in jenen schenkenden nächten

Deine wange schon auf meinen knieen

Wenn sich die zitternden melodieen

Rangen empor aus dumpf hallenden schächten!

Folgtest dem spiel von sich streitenden mächten:

Meiner geschicke vergangene gnade

Und meine leiden am fernen gestade

Bis zu der frühwolken rosigem klären ..

Wie auf der schwester verschlungene mären

Lauschte die liebliche Doniazade.

(SW VI/VII, 69)

Die Verse gehören zu einer erstmals 1901 in den Blättern für die Kunst veröffentlichten Gruppe von Gedichten, die allein der ständige Gefährte Georges in dieser Zeit, Friedrich Gundolf, auf ihr Verhältnis zurückbeziehen konnte.1 Und selbst Gundolf durfte das bloß unter Vorbehalt tun, da die Chiffren der Gedichte nicht von individualisierten Erlebnissen, sondern von typisierten ›Geschicken‹ reden. Alle anderen Leser konnten und sollten aus den hier angeführten Versen nur den Eindruck eines geheimnisvollen Dichters gewinnen, der von sich behauptet, das Seelendrama des menschlichen Daseins wie kein anderer zu durchleiden, um ihm dann eine über die eigene Biographie hinaus gültige Formgestalt zu geben.

Die biographischen Hinweise, die George seinen Freunden gelegentlich gab, lösten die poetischen Selbststilisierungen und Selbstmystifikationen nicht auf, sondern setzten sie in anderer Form fort. Im April 1905 schrieb George an Sabine Lepsius teils andeutend, teils verschweigend:

Warum soll ich meinen freunden von den gefährlichen abgründen berichten die alle meine fahrten begleiten? – und grad von den lezten besonders furchtbaren – indessen sie die freunde nichts können als in mitleidiger ferne hilflos dastehn […] Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen äussern oberherrlichkeit. was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde.2

Wenn George konkretere Auskünfte über das eigene Leben erteilte, so verfolgte er das Ziel, das in seinen Werken entworfene Selbstbild eines Dichter-Sehers und Dichter-Führers durch die Biographie abzusichern, um letztlich wieder auf die Dichtung als die eigentliche Emanationsform zu verweisen. Dies gilt nicht erst für das von ihm in Auftrag gegebene Buch von Friedrich Wolters über Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, das die ab 1928 erscheinende Gesamtausgabe der Werke als Kommentar begleitete. Die gesteuerte Information über das eigene Leben war ein Bestandteil von Georges Inszenierung seiner Dichtermission und der damit zusammenhängenden ›Werkpolitik‹.3

Mehr noch: Nachdem er zum Dichter geworden war, versuchte er sein Leben selbst so zu gestalten, als ob es vom Werk nicht abzutrennen wäre. Das vom Stilwillen durchdrungene Leben sollte wie das aus ihm hervorgegangene Werk zum ›Bild des Dichters‹ gehören. Entsprechend stark reglementierte George seine Lebensführung und wachte darüber, dass niemand abweichende Persönlichkeitszüge kennenlernen konnte. Zusammenfassend kommt Thomas Karlauf zu dem Ergebnis:

Es gibt im Leben Stefan Georges so gut wie nichts, was nicht von vornherein Inszenierung gewesen wäre oder nachträglich für die Inszenierung verwertet wurde. Spuren, die über die Entwicklung seiner Persönlichkeit, sein Privatleben oder auch nur seine persönliche Meinung zu diesem oder jenem Thema Aufschluss hätten geben können, wurden verwischt; George hat Briefe, die ihm wichtig waren, nach Lektüre verbrennen lassen, Korrespondenzen am Ende einer Beziehung zurückverlangt, Vorstufen und Varianten von Gedichten oder das sonstige Futter für die Philologen vernichtet. Was nicht Eingang ins dichterische Werk gefunden hatte, gehörte für ihn nicht ans Licht der Öffentlichkeit.4

Mit diesem hohen Grad der Inszenierung und Kontrolle machte es George späteren Biographen schwer, denen es im Unterschied zu den Hagiographen des George-Kreises nicht darum geht, das von ihm stilisierte Bild getreulich zu überliefern. Robert E. Norton, der Autor einer ersten umfangreichen Biographie,5 hat mit bewundernswerter Akribie neue Quellen in den Archiven erschlossen, Thomas Karlauf, der Verfasser einer zweiten, die vorliegenden Zeugnisse durch ein kunstvolles Arrangement zum Sprechen gebracht. Aber die ausgewerteten Texte, die größtenteils wieder aus dem George-Kreis stammen, reproduzieren weitgehend die bekannten Züge des ›Meisters‹. Um hinter die Maske zu schauen und das in den Tiefen der Persönlichkeit vermutete Geheimnis zu entdecken, haben die beiden Biographen unterschiedliche Methoden verwendet. Norton zieht Georges Werke heran und dekodiert die Gedichte als die Chiffrenschrift eines Homosexuellen. Zugleich versucht er in ihnen die Herrschaftsideologie eines Präfaschisten zu entlarven. Karlauf präpariert dagegen aus den Schilderungen der Georgianer bestimmte Schlüsselszenen heraus, in denen sich die von George verborgenen Triebkräfte seines Lebens abzeichnen sollen. So lässt er die Initiationsriten des Kreises als Indiz für die – möglicherweise auch praktizierte – Homosexualität und Pädophilie Georges erscheinen. Doch wie der Rückschluss vom Werk auf das Leben des Dichters, so ist auch das Arrangieren von suggestiven Szenen aus dem Leben in einer Biographie nicht unbedenklich. Als alternative Methode bieten sich literatur- und mediensoziologische Analysen an, die die Mechanismen und Funktionen der Selbstinszenierung Georges untersuchen. Seit der Studie Bilderdienst von Gert Mattenklott6 ist dieser Weg wiederholt beschritten worden. Aber erstens lässt sich so keine Biographie erzählen, und zweitens verstärken die Analysen noch zusätzlich den Eindruck einer durchgängigen Stilisierung des Lebens.

Die Schwierigkeiten, mit denen jede Biographie über Stefan George zu kämpfen hat, werden in diesem Buch nicht durch einen vollkommen neuen Ansatz gelöst. Sein Material verdankt sich größtenteils den kommentierten Ausgaben der Sämtlichen Werke, den Briefsammlungen und Erinnerungsbüchern aus dem Kreis, den Lebensbeschreibungen von Norton und Karlauf, der sogenannten ›Zeittafel‹7 und natürlich der umfangreichen Forschungsliteratur zu George. Als Summe der bisherigen Forschung sei das 2012 erschienene dreibändige Handbuch Stefan George und sein Kreis hervorgehoben, dessen dritter Band auch ein umfangreiches Personenlexikon enthält.8 Bei der erneuten Durcharbeitung des bereitliegenden Materials kam es dem Verfasser nicht nur darauf an, die Etappen im Leben des Dichters in kompakter und zugleich anschaulicher Form zu schildern. Vielmehr sollten verfestigte Bilder und Deutungen auf den Prüfstand gestellt, reflektiert und, wenn nötig, korrigiert werden. Der Impuls der neuen Biographie ist die Frage, ob unser Bild George gerecht wird oder aber ob wichtige Aspekte seines Lebens übersehen werden.

Das Buch bezieht die Werke des Dichters ein. Dagegen könnten Einwände erhoben werden, die, über prinzipielle Fragen der literaturwissenschaftlichen Methode hinausgehend, das spezifische Verhältnis von Leben und Werk im Fall von George betreffen. Missachtet die Verknüpfung von Leben und Werk nicht die Autonomie der Dichtung, die besonders in der frühen Phase des L’art pour l’art (Kunst für die Kunst) wesentlich ist? Und fällt sie nicht auf die spätere Inszenierung von Georges Autorschaft herein, die Leben und Werk im Bild des Dichter-Sehers und Dichter-Führers verschmilzt? Um biographische oder hagiographische Kurzschlüsse zu vermeiden, werden Georges Gedichtbände in eigenständigen Werkkapiteln charakterisiert, die in die fortlaufende Lebensbeschreibung eingeschoben sind. Innerhalb der Werkkapitel unterliegen die Gedichtbände einer doppelten Perspektive: Zum einen werden sie als Kunstwerke analysiert, die jeweils mit bestimmten Verfahren der poetischen Sprache und Techniken der ästhetischen Komposition arbeiten. Zum anderen wird gezeigt, dass in ihnen von Anfang an Seelenkonflikte und Lebensentwürfe dargestellt werden, die auf die dahinter stehende Person ihres Autors zurückdeuten und auch zurückdeuten sollen. Es ist ein Kennzeichen von Georges Dichtung, dass sich das Autorsubjekt in die Werkstrukturen einschreibt, und zwar so, dass immer wieder auf diesen Zusammenhang in den Texten selbst aufmerksam gemacht wird. Das gehört zweifellos zu Georges Inszenierung seiner Autorschaft, ist jedoch, so die These dieser Biographie, nicht auf bloße Rollenspiele oder Reklamestrategien des Künstlers zu reduzieren.

Die hier gewählte Methode der Darstellung teilt zwar Leben und Werk auf unterschiedliche Kapitel auf, lässt aber die Korrespondenzen zwischen beiden Seiten hervortreten und macht deutlich, in welcher Weise lebens- und werkgeschichtliche Entwicklungen miteinander zu tun haben. Im Fortgang des Buches nehmen die Verknüpfungen von Leben und Werk zu, was daran liegt, dass George seine dichterische Produktion immer stärker in zwischenmenschliche, kreisbildende und kulturpolitische Zusammenhänge eingebunden hat. Das muss die Darstellung gerade dann herausarbeiten, wenn Georges Anspruch, als Dichter zum geistigen ›Herrscher‹ des eigenen Kreises und ›Führer‹ der deutschen Nation berufen zu sein, kritisch betrachtet werden soll.

Da George nicht zuletzt das Medium der Fotografie zur Stilisierung seines ›Bildnisses‹ eingesetzt hat, verbietet sich ein unreflektierter Umgang mit den vorhandenen Aufnahmen zum Zwecke der Illustration. Deshalb wird die von George seit Ende der 1890er Jahre gezielt betriebene Bildpolitik, die viel zur Auratisierung des Dichter-Sehers und Dichter-Führers beitrug, im Zusammenhang mit anderen Techniken der Imageproduktion lebens- und werkgeschichtlich verortet und mediensoziologisch analysiert. Nicht alle Aufnahmen, die sich von George erhalten haben, entsprechen allerdings dem um 1900 entwickelten Bildtypus des Dichter-Hauptes mit seinen angespannten Gesichtszügen, der melancholisch gesenkten Kopfhaltung oder visiönär in die Ferne gehenden Blickrichtung. Schon in dem von Robert Boehringer herausgegebenen Band Mein Bild von Stefan George (zweite, ergänzte Auflage 1967), der mit dem von der Kindheit bis zum Tod reichenden Bildmaterial eine Biographie anderer Art erzählt, wird der von George selbst autorisierte Bildkanon des Dichters zwischen ›Lebensmitte‹ und Lebensende um ein Vielfaches erweitert.9 Selbstverständlich ist dieser neue Bildkanon, der stärker auf den Menschen George und sein Leben im Kreis von Freunden und Jüngern hinweisen will, wiederum eine Art der Stilisierung. Die von Boehringer zusammengestellten Fotografien aus verschiedenen Lebensphasen und Lebenssituationen sind mit Ausnahme von einigen wenigen Bildern auch keine spontanen Schnappschüsse. Und sogar dort, wo sie nicht inszeniert wirken, zeigt sich George in einer bestimmten Pose, etwa in der lässigen Haltung eines jungen Künstlers unter gleichgesinnten Freunden oder der gelockerten Haltung des alten Meisters unter zugewandten Jüngern.

Dieses Buch macht die Leser mit einem ebenso faszinierenden wie problematischen Autor bekannt und lädt sie zur näheren Beschäftigung mit seiner vielfältigen, von pathetischem Getöse bis zu melodischem Gesang reichenden Lyrik ein. Insofern könnte es auch als eine Einführung in Georges Leben und Werk dienen. Für die Bildauswahl hat der Verfasser mit der Hilfe von Ute Oelmann, der Leiterin des Stefan George Archivs in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, die dort lagernden Archivkästen mit Hunderten von Fotografien durchgesehen. Völlig neue Ansichten von George waren dabei nicht zu entdecken, kaum oder gar nicht bekannte Aufnahmen wohl. Die Abbildungen sollen zum einen die von George geschaffene Ikonographie des Dichters zeigen, zum anderen wichtige Lebensbezüge und Werkaspekte veranschaulichen. Immer sind sie in den Gang der Darstellung einbezogen.

Herkunft:
Familie und Heimat

George kam am 12. Juli 1868 in Büdesheim bei Bingen am Rhein als zweites Kind des Weinhändlers und Gastwirts Stephan George (1841 – 1907) und seiner Frau Eva, geborene Schmitt (1841 – 1913), zur Welt. Aus Familientradition erhielt er den Taufnamen Stephan. Als Rufname wurde aber die französische Variante Etienne verwendet, mit der George bis zu seinem 22. Lebensjahr auch private Briefe unterschrieb. Erst als er in Paris den Dichter Stéphane Mallarmé kennengelernt hatte, ging er zu seinem Taufnamen – in der modernen Schreibweise mit ›f‹ – über.

Die aus einem deutschsprachigen Teil von Lothringen stammenden Vorfahren des Vaters waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Büdesheim gezogen, hatten dort Grundbesitz erworben und sich mit eingesessenen Familien vermählt. Aus der Ehe der Eltern gingen drei Kinder hervor, George hatte eine ältere Schwester namens Anna Maria Ottilie (1866 – 1938) und einen jüngeren Bruder, Friedrich Johann Baptist George (1870 – 1925). Alle drei blieben ledig und kinderlos, sodass die Familie mit ihnen erlosch.10

Im Jahr 1873 siedelten die Georges nach Bingen am Rhein um, wo der Vater ein Weingut erworben hatte und zugleich als Weinhändler im Kommissionsgeschäft tätig war. Der Familie gehörte in der Stadt ein Anwesen mit Wohnhaus und Wirtschaftsgebäuden. Das Haus an der Unteren Grube, in dem Stefan George bis zu seinem Wechsel an das Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt aufwuchs, war der Familienwohnsitz bis zum Ableben der Mutter. Seitdem wurde es von den Geschwistern vermietet. 1932 kehrte Anna George in das Haus zurück, das der Bruder zu seinem 65. Geburtstag im Juli 1933 noch einmal besuchte. Nach dem Tod Stefan Georges und Anna Georges wurde es 1938 vom Nachlassverwalter Robert Boehringer der Stadt Bingen geschenkt; 1944 beschädigte ein Bombenangriff das Gebäude so stark, dass es abgerissen werden musste.11

Von George sind nur wenige Äußerungen über die Eltern überliefert, die, in den Jahrzehnte danach geschriebenen Erinnerungsbüchern der Freunde und Freundinnen aufgezeichnet, bis heute in der Forschungsliteratur ungeprüft wiederholt und dabei auch noch tendenziös zugespitzt werden. In einem Gespräch mit Ernst Glöckner, das 1916 stattfand, soll George sein Verhältnis zu den Eltern etwas genauer geschildert haben:

Seinem Vater ist er besonders dankbar. In seinen zwanziger Jahren wäre er […] ein Mensch gewesen, der unbedingt uns aufgefallen wäre; hätte das Haar auch lang getragen; seine Gesichtsformen den seinen ähnlich, aber viel weicher. Von Haus her die Eltern vermögend; sein Vater hätte aber nicht das Talent gehabt, in dieser günstigen geschäftlichen Konjunktur Geld zu machen. Hätte er es getan, dann wäre er nicht »George« geworden. Die tiefen Zusammenhänge. Mutter war die treibende Kraft, daß sie von Büdesheim nach Bingen zogen. In der Kindheit hätte er alles gehabt. Sein Vater hätte »Ja« zu seinem absonderlichen, außergewöhnlichen Leben gesagt, weil er so ungeheuer sparsam gewesen wäre; davor hätte sein Vater Respekt gehabt und hätte ihn gewähren lassen; dazu die Distanz: seit dem 13., 14. Jahr wäre er nur in den Ferien bei seinen Eltern gewesen; von seinen Dichtungen hätten sie erst durch sein erstes Buch erfahren.12

Die Binger Jugendfreundin Ida Coblenz erzählte (wohl in einem ihrer Gespräche mit Robert Boehringer), Georges Vater, ein lebensfroher Mensch, sei geschäftlich nicht besonders ehrgeizig und geschickt gewesen.13 Immerhin war er finanziell in der Lage, seinem Sohn den Besuch des Gymnasiums in Darmstadt, das Studium in Berlin, Wien und München sowie ausgedehnte Reisen durch Europa zu finanzieren. Dass er dazu viele Jahre hindurch ohne einen messbaren Gegenwert bereit war, zeigt eine erstaunliche Toleranz gegenüber der Lebensführung des Sohns. Ein Brief, den Stefan während seines ersten Aufenthalts in London erhielt, formuliert zwar gewisse Erwartungen: »Es ist sehr erfreulich zu hören daß du gute Fortschritte machst für das heidenmäßig viele Geld muß man auch die Zeit ausnutzen.«14 Doch scheint der Vater den Geldhahn auch dann nicht zugedreht zu haben, als deutlich wurde, dass der Sohn keinen Brotberuf anstrebte. Umgekehrt erwartete der junge George die Finanzierung durch seinen Vater, und zwar ohne den Zwang der Rechtfertigung. Aus Italien schrieb er eine Postkarte: »Da mein Kassenbestand fast auf nichts reduziert ist (in Ponte Tr. habe ich ungeheuer billig gelebt) so bitte ich um sofortige zusendung von Hülfstruppen.«15

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Abb. 1
Die Eltern Eva und Stephan George
.

Über die Mutter soll George in einem Gespräch mit Edith Landmann gesagt haben:

Sie kannte keine Sentimentalitäten, auch keine überflüssigen Liebkosungen der Kinder. Sie machte alles mit sich ab. Der Vater sagte von ihr: nun bin ich schon so viele Jahre mit dieser Frau verheiratet und weiss immer noch nicht, was hinter ihr steckt. Sie hatte keine Vertrauten. Sie sagte nie was. Sie hatte es nicht leicht, die Temperamente waren sehr verschieden.16

Friedrich Gundolf, der von George häufig zu Besuch nach Hause mitgebracht wurde, berichtet in seinem George-Buch von 1920, sie sei eine »tieffromme strenge, sachlich ernste, unermüdlich arbeitsame« Frau gewesen.17 In die gleiche Richtung gehen spätere Bemerkungen von Ida Coblenz und Sabine Lepsius, die freilich wie nachgesprochene Formeln wirken und keinerlei Interesse an der Persönlichkeit der Mutter verraten.18

Auf die so beschriebene Familienkonstellation – die harte, verschlossene Mutter und der weiche, aber meist abwesende Vater – führt der Soziologe Stefan Breuer zurück, dass sich bei Stefan George der kindliche Narzissmus zu einer pathologischen Form der Persönlichkeit verfestigt habe. Von den Eltern emotional vernachlässigt, habe sich das Kind seinerseits verschlossen und in einsame Größenphantasien der eigenen Machtvollkommenheit geflüchtet.19 Dass Stefan George als etwa Neunjähriger ein Spiel erfunden hat, in dem er sich die Rolle des Königs vorbehielt, geht aus den Erinnerungen seines damaligen Spielkameraden Julius Simon hervor.20 Als poetische Reimagination solcher Herrschaftsspiele lässt sich das Gedicht »Kindliches Königtum« aus dem Buch der Hängenden Gärten lesen, das für George eine Urszene des eigenen Dichtertums darstellt:

Du schufest fernab in den niederungen

Im rätsel dichter büsche deinen staat •

In ihrem düster ward dir vorgesungen

Die lust an fremder pracht und ferner tat.

Genossen die dein blick für dich entflammte

Bedachtest du mit sold und länderei •

Sie glaubten deinen plänen • deinem amte

Und dass es süss für dich zu sterben sei.

(SW III, 76)

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Abb. 2
Elternhaus an der Hinteren Grube in Bingen
.

Zu Breuers Analyse der Mutter-Vater-Kind-Triade passt allerdings nicht recht, dass George keineswegs die Distanz von den Eltern suchte. Klammert man die Darmstädter Gymnasialzeit aus, hielt er sich bis zum Tod der Mutter meist mehrere Wochen, ja Monate des Jahres in Bingen auf.21 Das Elternhaus, in dem er ein nach seinen Vorstellungen umgebautes und eingerichtetes Zimmer hatte, blieb sein Dauerquartier, hierhin lud er Freunde und Bekannte zu manchmal mehrtägigen Besuchen ein. Schwer vorstellbar, dass ihn allein das Pflichtgefühl gegenüber den Eltern, das Gebot der Sparsamkeit oder der Wunsch nach Bequemlichkeit leitete. Es war eine für Schriftsteller ganz ungewöhnliche Geste, dass er 1901 die Fibel, die Sammlung seiner frühen Dichtungen, den noch lebenden Eltern widmete: »Meinem Vater und meiner Mutter als schwachen Dankes-Abtrag« (SW I, [5]).

Nachdem die Schwester Anna das Elternhaus komplett vermietet und sich 1920 in Königstein / Taunus niedergelassen hatte, wo auch der Bruder Friedrich im Sommer wohnte, pflegte George bei ihr einige Wochen zu verbringen. Sein Verhältnis zu Anna war lebenslang eng und von wechselseitiger Zuneigung geprägt.22 Trotzdem ist das Interesse der Biographen an der Schwester genauso gering wie an der Mutter, der Annas Charakter angeblich sehr geähnelt haben soll. Geradezu diffamierend ist die Beschreibung bei Karlauf, die man eigentlich gar nicht zitieren möchte, um sie nicht weiter in Umlauf zu bringen: »Die Schwester Anna George, die in den Jahren, als diese Gedichte [aus dem 1897 erschienenen Jahr der Seele, K.K.] entstanden, bestenfalls Botendienste für ihren Bruder hatte verrichten dürfen, war in allem das Gegenteil der eleganten Tochter des Kommerziensrats Coblenz: bieder, frigide, bigott.«23 Für Georges Beziehung zu seiner Schwester war zweifellos nicht unwichtig, dass sie sich in Bingen und Königstein um den Haushalt kümmerte, wie sie in seiner Abwesenheit auch die Post besorgte. Doch gegen die Annahme, er habe sie lediglich als ein dienstbares Wesen behandelt und geschätzt, sprechen schon die vielen gemeinsam verbrachten Urlaube. In den 1890er Jahren fuhren die beiden Geschwister immer wieder zusammen in die Sommerferien, zwischen 1902 und 1906 begleitete Anna den Bruder auf seinen jährlichen Urlaubsreisen mit Friedrich Gundolf in die Schweiz. Auch auf andere Fahrten, etwa 1897 zur Internationalen Kunstausstellung der Secession in München, nahm George sie mit. Der bis zu Georges Tod geführte Briefwechsel zeugt von emotionaler Anteilnahme und, was Anna betrifft, von einem – angesichts ihrer beschränkteren Lebenssphäre und geringeren Schulbildung – keineswegs selbstverständlichen Interesse an den dichterischen und intellektuellen Aktivitäten Georges. Umgekehrt darf man die Widmung an Anna, die George 1897 dem Jahr der Seele voranstellte, nicht einfach auf einen Akt der Rache gegenüber Ida Coblenz reduzieren, der der Band ursprünglich zugedacht war.24 Dass George in dieser Widmung »der tröstenden Beschirmerin / auf manchem meiner Pfade« (SW IV, [5]) dankte, als er über das Zerwürfnis mit Ida Coblenz verzweifelt war, sagt etwas über die – nicht nur momentane – Rolle der Schwester in seiner Gefühlsökonomie aus. Wie glücklich Anna George ihrerseits über die Zueignung des Jahrs der Seele war, teilte sie in ihrem Brief vom 20. November 1897 mit:

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Abb. 3
Die Schwester Anna Maria Ottilie George
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Welch eine Überraschung Bruder! Dein neues Buch mit dem wunderbaren Äußeren und noch wunderbarerem Inhalte. Daran dachte ich allerdings nicht. Nun weiß ich weshalb du mir so lange nichts mitteiltest: du hast wieder ein paar sehr mühevolle Wochen hinter dir; komme recht bald heim um dich auszuruhen. Und dein Vortrag bei Herrn Lepsius wie ist das gekommen? Kaum kann ich es erwarten bis du mir alles mündlich erklärest. […] Nur diese wenigen Zeilen Bruder um dir meine Freude zu bezeigen über dein Buch und dein[e] Erfolge. Herzliche Grüße von den Eltern + Fritz. Deine Schwester25

Es wäre in der George-Forschung an der Zeit, die Familienverhältnisse genauer zu untersuchen und dafür die umfangreiche, im Stuttgarter George-Archiv zugängliche Familienkorrespondenz auszuwerten. Auf diese Weise könnte sich herausstellen, dass die Binger Familienangehörigen nicht so provinziell und religiös borniert waren, wie es auf Besucher und Betrachter aus ganz anderen soziokulturellen Milieus, etwa auf die Berliner Gelehrtentochter und Gesellschaftsmalerin Sabine Lepsius, gewirkt hat. Gleichwohl wird sich George, der über viele Jahre zwischen dem kleinstädtischen Bingen und den großstädtischen Metropolen Paris, München und Berlin pendelte, in seinem Elternhaus zuweilen beengt gefühlt haben. Doch andererseits spricht fast alles dafür, dass er die Binger Familie als eine sichere Basis seines Lebens brauchte, auf die er sich in regelmäßigem Rhythmus zurückziehen konnte. Eines ist gewiss, wie immer man es interpretieren mag: Über das Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern hat er nicht nur in Gesprächen wenig gesagt, sondern auch die Dichtung schweigen lassen. Im vierten Abschnitt der zwischen 1892 und 1894 entstandenen Prosaskizzen Sonntage auf meinem Land gedenkt er lediglich der Büdesheimer Ahnen, die das »altertümliche dorf« bewohnten, und beschwört das Bild einer Landschaft herauf, in der Kinder mitten im Fluss fischen und baden: »Wäre es möglich in dieser friedfertigen gediegenen landschaft seine seele wiederzufinden?« (SW XVII, 11 f.)

Obwohl er Bingen nach dem Ende der Kindheit und Jugend immer wieder als Dauerquartier gewählt und noch als Alterssitz erwogen hat, obwohl für ihn die »Zeit in Bingen […] immer die Zeit der Sammlung und der Ausführung von Arbeiten« war,26 hat George der Stadt in der Dichtung kein Denkmal errichtet. Doch zur rheinischen Heimat hat er sich stets bekannt:

Zur Heimat zählten für ihn nicht nur die Orte der näheren Umgebung, sondern das gesamte Gebiet von Trier bis Bamberg, von Speyer bis Köln. Sein Leben lang hatte er am liebsten mit Menschen zu tun, die aus dem mainfränkischen Raum stammten. Er war überzeugt, dass an Rhein, Main und Mosel die Wurzeln der deutschen Kultur lagen, und sprach zeitlebens Dialekt.27

Das nicht genau datierbare Prosastück Der kindliche Kalender erinnert an ganzheitliche Erlebnisse der Kindheit, in denen sich die religiösen Rituale und kulturellen Bräuche der katholischen Feiertage mit den natürlichen Rhythmen der rheinischen Landschaft verbinden. Laut den Gedichten »Ursprünge« und »Rhein: IVI« aus dem Siebenten Ring (SW VI/VII, 116 f., 174 f.) sind die antiken und die christlichen Traditionen des Abendlands in den rheinischen »fluren« und »türme[n]« (SW VI/VII, 175) als ein kulturelles Erbe aufbewahrt, das durch das ›ich‹ des hierher stammenden Dichters zu neuem Leben erweckt wird und künftig wieder eine reiche Ernte tragen soll. Vom 1907 erschienenen Siebenten Ring an bis zum letzten, 1928 veröffentlichten Gedichtband gehört die Thematisierung der rheinischen Heimat zu einer kulturhistorischen und kulturpolitischen Konstruktion, durch die George sich als der geistige Stifter eines ›Neuen Reichs‹ deutscher Nation legitimiert.28

Adoleszenz:
Schulzeit in Bingen und Darmstadt

George besuchte zwischen 1876 und 1882 die Binger Realschule. Obwohl seine Leistungen fast durchweg gut waren,29 bemängelten die Lehrer gelegentlich den »störrischen Eigensinn«30 des Knaben. Binger Schulkameraden und Altersgenossen, die zum 60. Geburtstag des Dichters nach ihren Erinnerungen gefragt wurden, zeichneten das Bild eines einsamen Sonderlings, der sich, statt an den Spielen der Kinder teilzunehmen, gern in die Dachkammer oder das Gartenhäuschen der Familie zurückgezogen habe. Weil der junge Stefan oft »unbeweglich […] in die Wolken« gestarrt habe, sei er von den Bingern als »Sternegucker« verspottet worden.31

Auch die über den Schulunterricht in Deutsch und Französisch weit hinausgehende Lektüre deutsch- und fremdsprachiger Autoren muss sonderbar angemutet haben, gerade im nicht bildungsbürgerlich geprägten Bingen. Er habe, so erinnerte sich George in späteren Gesprächen, Schiller und Heine, Jules Verne und Walter Scott regelrecht verschlungen. Autodidaktisch lernte er Italienisch, um klassisch gewordene Dichter wie etwa Boccaccio und Tasso, Manzoni und Leopardi im Original zu lesen.32 Das außergewöhnliche Interesse an Sprachen und Literaturen wird für den Vater, der ursprünglich an eine Ausbildung zum Kaufmann gedacht hatte, ein wichtiger Grund gewesen sein, seinen Sohn nicht länger auf eine Realschule gehen zu lassen.

Im Herbst 1882, also im Alter von 14 Jahren, wechselte George an das Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt. Das 1629 als evangelische Gelehrtenschule gegründete humanistische Gymnasium galt als sehr anspruchsvoll. In den ersten Monaten musste George Stoff nachholen, dann kam er jedoch so gut mit den Anforderungen zurecht, dass ihm das Zeugnis für das Sommerhalbjahr 1883 »besonders tüchtige Leistungen« bescheinigte. Später fielen die Zeugnisse eher durchschnittlich aus. Nur in Französisch, wo er der Lieblingsschüler des gleichzeitig von der Binger Realschule an das Darmstädter Gymnasium gewechselten Lehrers Dr. Gustav Lenz war, stach er hervor. Das Abiturzeugnis vom 13. März 1888 weist aus, er sei in Französisch und Religion »gut«, in Deutsch, Geschichte und Geographie »im ganzen gut«, in den anderen Fächern »genügend« gewesen.33

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Abb. 4
Stefan George zu Beginn seiner Darmstädter Gymnasialzeit
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Während der Darmstädter Schulzeit wohnte George zur Pension im Haus des Volksschullehrers Philipp Raab, wo auch die Mitschüler Johannes Gärtner, Wendelin Seebacher, Hermann Weigel und Arthur Stahl sowie Externe anderer Jahrgänge untergebracht waren. Mit diesen Auswärtigen hatte er am meisten Umgang, während er an die Einheimischen kaum Anschluss fand. Doch ist der Bericht des Mitschülers Georg Fuchs übertrieben, obwohl oder gerade weil er das von George selbst stilisierte Bild der einsamen, von der Menge getrennten Persönlichkeit so glatt bestätigt:

Niemand in der Klasse wollte etwas mit ihm zu tun haben, aber auch er mit niemand aus der Klasse. Im Hofe stand er meistens vereinsamt an der Mauer, blass, fröstelnd, mit verschränkten Armen, über die lärmende Menge hinweg ins Unnennbare starrend, stets mit einem […] scharfen, hochmütigen Zug um den schmalen, herben Mund.34

Abgesehen von der eigenen, allerdings oberflächlich bleibenden Beziehung zu George blendet Fuchs aus, dass George in der Raab’-schen Pension einen Kreis von Mitschülern fand, die sich unter seiner Führung für Literatur und Theater begeisterten. Der zwei Jahre jüngere Mitschüler Carl Rouge (1870 – 1940), der zusammen mit Arthur Stahl (1869 – 1929) der engste Jugendfreund wurde, erzählt rückblickend über die Zeit 1886 bis 1888:

Als sich diese Gemeinschaft zu bilden begann, wurde in ihr eine Spielerei betrieben, die von dem sprachenkundigen George ausging, nämlich der Gebrauch einer künstlichen Sprache. Sie enthielt, so weit ich mich erinnere, ziemlich viele griechische Wurzeln. […] George war es, der uns auch in die Stücke Ibsens einführte, die dem damaligen Theaterpublikum meist fremd blieben. […] Er selbst übersetzte wohl als erster Ibsens Jugendstück ›Catilina‹ ins Deutsche, ebenso die ›Nordische Heerfahrt‹, und las uns daraus vor.35

Die Freunde versuchten sich auch selbst als Dichter in Formen des Dramas und der Lyrik. Von George sind drei Dramenentwürfe (Phraortes, Graf Bothwell, Manuel) aus den letzten Jahren der Darmstädter Gymnasialzeit bekannt. Eine zweite Fassung des Manuel wurde 1888 während des Aufenthalts in London vollendet; ausgewählte Passagen erschienen dann 1893 unter dem Pseudonym Rochus Herz in der ersten Folge der Blätter für die Kunst.36

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Abb. 5
Zeitschriftenkopf der ersten und einzigen Nummer von »Rosen und Disteln«, Juni 1887
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Gemeinsam mit Arthur Stahl, Carl Rouge und Georg Böttcher gründete George die Literaturzeitschrift Rosen und Disteln, die trotz einer vollmundigen Vorrede nicht über die erste, in wenigen hektographierten Exemplaren vertriebene Nummer vom 20. Juni 1887 hinauskam. Unter dem Pseudonym ›Ed. Delorme‹ veröffentlichte George in ihr zwei von ihm selbst verfasste Dichtungen. Durchaus witzig ist die versifizierte Satire auf den »Fürsten Commedotutti« und seine gewaltige Fresslust.37 Obwohl solche Satiren einen beträchtlichen – und von den Freunden besonders geschätzten – Teil seiner damaligen Produktion ausmachten,38 hat sie George später weder in die Blätter für die Kunst noch in die Sammlung des Frühwerks, die 1901 erschienene Fibel, aufgenommen, da sie seinen inzwischen gefundenen Grundsätzen hoher Dichtung widersprachen.

Andere Gedichte aus der Darmstädter Gymnasialzeit haben Eingang in die ersten beiden, auf die Jahre 1886 bzw. 1887 datierten Teile der Fibel gefunden. George markiert sie so als den Beginn seines dichterischen Werks. Das früheste in der Gesamtausgabe von 1928 berücksichtigte Gedicht ist die um 1885 entstandene Romanze »Prinz Indra« (SW XVIII, 69 – 86), deren Thema bereits auf die drei Legenden vorausweist: Der indische Prinz, der von einer göttlichen Hetäre verführt wird, verliert durch die Berührung der Frau jene Reinheit, die Bedingung des Königtums ist. Schließlich weist ihm ein schöner Jüngling, zu dem ihn ein »gewaltig heisses sehnen« hinzieht, den Weg, wie er den Dämon der weiblichen Sexualität überwinden und Geist und Leib in männlicher Freundschaft und dichterischem Gesang verbinden kann. Der Ton erinnert weniger an Johann Wolfgang von Goethes Ballade »Der Gott und die Bajadere«, zu der es aber thematische Bezüge gibt, als an Heinrich Heines Romanzen. So im Dialog über die Lieder, die der schöne Jüngling auf seiner Leier spielt:

Aufmerksam und voller andacht

Lauscht prinz Indra der musik

Und des angesichts erregung

Zeugt die innere bewegung.

Und am ende dringt ihm schmerzlich

Aus der vollen brust das wort:

Ach du musst wol recht hienieden

Glücklich leben und zufrieden …

›Ja der himmel sei gepriesen •

Ich bin heiter und gesund

Alles nötige zum leben

Wird die vorsicht stets uns geben.

Nach des tages strenger arbeit

Ist es mir das grosse glück

An des teuren vaters seiten

Meine stimme zu begleiten

Mit dem klang der leier oder

Aus der grossen dichter wort

Alter zeiten art und wesen

Hoher helden tun zu lesen.

(SW XVIII, 81 f.)

»Prinz Indra« wird von den Biographen Norton und Karlauf als erster Hinweis darauf gelesen, dass Georges Entwicklung zum Dichter eng mit seiner Entdeckung der Homoerotik zusammengehangen habe. Die frühe Romanze habe jene »umwälzung«39 angekündigt, die sich nach der Darmstädter Gymnasialzeit in George seelisch vollzog und in den Legenden dichterisch niederschlug: »die Geburt der Poesie aus dem Geist der männlichen Erotik«.40

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Abb. 6
Georges Verssatire „Fürst Commedotutti“ in der Zeitschrift »Rosen und Disteln«, die Randzeichnung von unbekannter Hand
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Am Ende der Darmstädter Gymnasialzeit spürt Karlauf auch erste Indizien dafür auf, dass sich George zu männlichen Mitschülern hingezogen fühlte. Doch fehlen eindeutige Belege für eine ausgelebte Homosexualität, was genauso für die späteren Jahren gilt.41 Wenn, was wahrscheinlich ist, George homoerotische Neigungen hatte, wenn er sogar, und warum eigentlich nicht, junge Männer begehrte und liebte, dann hat er diese Affekte gezielt ins Medium der Dichtung, aber auch in (andere) Formen der Freundschaft überführt, also sublimiert.

Liminalität:
Auf dem Weg zum Dichtertum

Beim Verlassen des Gymnasiums gab George an, er wolle nach dem Abitur ein Studium der Jurisprudenz beginnen. Tatsächlich war er sich über seinen weiteren Lebensweg und ein mögliches Berufsziel unschlüssig. Dankbar nahm er das Angebot des Vaters an, er könne vor Aufnahme des Studiums für einige Zeit nach London gehen. Welche Absichten der Vater, der geschäftliche Beziehungen nach England hatte, damit verfolgte, ist nicht genau bekannt. Nur um bessere Englischkenntnisse seines Sohns wird es ihm wohl kaum gegangen sein.

Im Mai 1888 reiste George nach London, wo er sich ein Zimmer im nördlichen Vorort Stoke Newington nahm. Seinen Aufenthalt, den er bis zum 1. Oktober ausdehnte, hat er selbst als Erweiterung seiner Weltläufigkeit dargestellt. »Du mußt übrigens wissen, dass ich in England immer kosmopolitischer werde«, renommierte er in einem seiner Briefe an den Schulfreund Arthur Stahl.42 Ob er sich aber die Grand Tour junger Engländer im 18. und 19. Jahrhundert zum Vorbild seiner anschließend auch in die Schweiz, nach Italien, Frankreich und Spanien führenden Auslandsreisen genommen hat,43 erscheint fraglich. Weder bewegte er sich in den sozialen Netzwerken der bürgerlichen Gesellschaft, noch verfolgte er ein kulturelles Programm bürgerlicher oder kosmopolitischer Bildung. Vielmehr begab er sich auf eine nicht von gesellschaftlichen Konventionen gesteuerte Suche nach der eigenen Identität, die auch eine Suche nach einer von der bürgerlichen Erwerbsarbeit unabhängigen Lebensform war. Anders gesagt: Sein noch planloser Aufbruch nach London war der Beginn eines Schwellen- und Übergangsstadiums, das George erst nach der Begegnung mit der künstlerischen Bohème in Paris allmählich verließ. Ähnlich geartete Auslandsaufenthalte finden sich gehäuft in den Lebensläufen von Schriftstellern und Künstlern um 1900.

Über sein Leben in London teilte George in den Briefen an Rouge und Stahl relativ wenig mit. Nachdem er in den ersten beiden Wochen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt hatte, besuchte er Theateraufführungen und las englische Literatur, vor allem Romane des frühen 19. Jahrhunderts. Während der Arbeit an eigenen Dramen und Gedichten kamen ihm gelegentlich Zweifel, ob er überhaupt zum Dichter berufen sei, wie er etwas kokett gegenüber Stahl zugab:

Denke Dir, welche schande für mich, wenn in späterer zeit jemand sich dieses briefes erinnerte ausser Dir!!! Jemand der diese meine zeilen gelesen, und sich nach einiger zeit erinnert, wie jene kreatur, die von poesie und dramen schrieb, die von einem dichterwahn geplagt war, mit zerschnittenen flügeln als – hu – ich will den satz nicht fertig schreiben – –44

Mit Rouge und Stahl korrespondierte George wiederholt über die Idee, einen gemeinsamen »Congress« unter Beteiligung von Dichtern aus anderen Ländern zu veranstalten. Die angeworbenen Autoren sollten Beiträge zu einer als »mappe« bezeichneten Zeitschrift liefern, die damit »die erste ›Internationale‹ einrichtung dieser art« würde.45 Offensichtlich ist George aber während des gesamten Aufenthalts in London nicht mit der dortigen Literatenszene in Kontakt gekommen, denn in einem aus Montreux geschriebenen Brief konnte er nur vage auf »meinen freund in England«46 als möglichen Beiträger der »mappe« verweisen – der nicht beim Namen genannte Thomas Wellsted trat jedoch niemals als Dichter hervor.

Auch der anschließende Aufenthalt in Montreux (November 1888 bis April 1889), der von einer einmonatigen Reise nach Mailand unterbrochen wurde, lässt keinen irgendwie gearteten Plan erkennen. Was hatte George eigentlich von dem Ort am Genfer See erwartet? Er wohnte in einer von Gustav Lenz, seinem ehemaligen Französischlehrer, empfohlenen Pension und nahm an den Vergnügungen eines sozial gemischten, keineswegs nur mondänen Kreises von Gästen teil. Ironisch berichtete er Stahl über eine Laienaufführung von Molières Misanthrope, mit ihm selbst in der Titelrolle: »Kannst du dir etwas gegensatzreicheres vorstellen, als dass ich, der Socialist, Communard, Atheist mit einem deutschen Herrn Baron, im hause eines professors der theologie, umringt von einer ganzen kette von Highlife-damen Komödie spiele?«47 Das war nicht die Gesellschaft, in der George Klarheit über seine Ziele gewinnen und in Verbindung mit anderen Dichtern kommen konnte.

Die Initiative zur nächsten Reise ging (wieder) von Gustav Lenz aus, der geschrieben hatte, er plane im Frühling einen Aufenthalt in Paris. George schloss sich ihm an. Im Mai 1889 fuhren die beiden in die französische Metropole und bezogen ein Zimmer im Hôtel des Américain, 14 rue de l’Abbé de l’Epée. Lenz hatte die im Quartier Latin gelegene Pension nicht zufällig ausgesucht, korrespondierte er doch mit dem jungen französischen Dichter Albert Saint-Paul (1861 – 1946), der hier wohnte. Schon am ersten Abend in Paris lernten sich George und Saint-Paul kennen. Die hieraus entstehende Freundschaft wurde für das weitere Leben Georges entscheidend. Der sieben Jahre ältere Saint-Paul las mit ihm französische Dichter und machte ihn dabei auch mit den neuesten, symbolistischen Tendenzen in der Lyrik bekannt. Er lieh ihm die Fleurs du Mal von Charles Baudelaire und die Sagesse von Paul Verlaine.48 Außerdem führte er ihn persönlich bei Stéphane Mallarmé (1842 – 1898) ein, der jeden Dienstagabend in der Rue de Rome seinen berühmten Cercle abhielt. Der ›Maître‹, wie Mallarmé von den Besuchern achtungsvoll genannt wurde, versammelte in der eigenen Wohnung einen Kreis meist jüngerer Autoren, mit denen er über Sprache, Poesie, Kunst und manch anderes redete. An die gemeinsamen Abende bei Mallarmé erinnerte sich Saint-Paul in einem Heft der Revue d’Allemagne zum 60. Geburtstag Georges:

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Abb. 7
Albert Saint-Paul, der Pariser Dichter-Freund
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Dans la petite salle à manger de la rue de Rome, il rencontra François [richtig: Francis, K.K.] Vielé-Griffin, Albert Mockel, Achille Delaroche, André Fontainas, Pierre Louys, Ferdinand Herold, etc. Il était ravi. Pour revenir, vers minuit, de la rue de Rome au Luxembourg, nous traversions Paris […]. Nous devisions de poésie, de technique du vers. George nous écoutait avec une curiosité passionnée.49

Die Abende haben auf George, der schweigend zuhörte, großen Eindruck gemacht. In seinem ganzen Habitus verkörperte Mallarmé die Überzeugung, die Dichtung sei etwas Ernstes, Hohes, ja Heiliges. Zwar verbarg er keineswegs, dass er als Lehrer sein Leben verdiente, doch war dies, wenn es um Dichtung ging, ohne Bedeutung. Nicht nur Mallarmés Sakralisierung der Poesie, die den Dichter selbst zu einer Art Priester erhob, sondern auch die Aura des Maître in seinem Cercle dürfte George fasziniert haben. Freilich: Mit Mallarmé hat die Jahrzehnte später erfolgte Kreisgründung und die Lehrdichtung des Sterns des Bundes nur noch wenig zu tun. Möglicherweise ist in den legendenhaften Erzählungen der Biographen über Georges Begegnung mit Mallarmé auch ein Aspekt zu kurz gekommen, den Saint-Paul hervorgehoben hat, nämlich die Diskussionen der etwa gleichaltrigen Gefährten über die Technik des symbolistischen Dichtens. Sollte George nicht aus ihnen viel für sein eigenes, noch unsicheres Schreiben gelernt haben?

Nach der Rückkehr aus Paris schrieb er sich am 25. Oktober 1889 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität für ein Studium der deutschen und der romanischen Philologie ein. Wollte er etwa – wie Mallarmé – anschließend den Brotberuf des Lehrers ergreifen, oder verschaffte ihm das vom Vater finanzierte Studium nur den nötigen Freiraum für die Dichtung? In den drei Semestern, die er an der Berliner Universität verbrachte, besuchte er jedenfalls eine Reihe von Vorlesungen und Übungen in den gewählten Philologien, aber auch in Philosophie und Kunstgeschichte.50 Mit zwei Kommilitonen schloss er sich enger zusammen: Der Darmstädter Carl August Klein (1867 – 1952), gleichfalls ein Zögling des Ludwig-Georgs-Gymnasiums, wurde der treu ergebene Freund der nächsten fünfzehn Jahre, dem George 1892 die Herausgabe der Blätter für die Kunst anvertraute. Der Schweizer Maurice Muret (1870 – 1954), wohl der wichtigere Gesprächspartner, kehrte bereits nach dem Wintersemester 1889 /90 in seine Heimat zurück, doch blieb George mit ihm noch länger in Briefkontakt.

Schon aus Paris kannte er drei Mexikaner, die Brüder Antonio, Porfirio und Julio Peñafiel, die sich dort mit ihrem Vater aufgehalten hatten. Im Februar 1890 begann er ernsthaft zu überlegen, ob er in ihrer Begleitung nach Mexiko auswandern sollte. Etwa gleichzeitig dachte er verstärkt darüber nach, in einer selbsterfundenen Lingua Romana zu schreiben, und setzte dies dann auch in mehreren Gedichten um. In einem Brief an Stahl vom 2. Januar 1890 heißt es:

Der gedanke, der mich von jugend auf geplagt und heimgesucht hat, der in gewissen perioden sich wieder und wieder aufdrängte hat mich seit kurzem wieder erpackt: Ich meine der gedanke aus klarem romanischem material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen. Die gründe weshalb ich [in] meiner deutschen sprache nicht gern schreiben will kann ich dir auf diesem gemessenen raum nicht auseinandersetzen. […] Darin liegt auch der grund weshalb ich seit monden nichts mehr verfasse, weil [ich] ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll. Ich ahne, diese idee wird entweder bei mir verschwinden oder mich zum märtyrer machen.51

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Abb. 8
Umschlag der »Hymnen«, Privatdruck 1890
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