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Gregor Sander
Tagebuch eines Jahres

Gregor Sander
Tagebuch eines Jahres

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Inhalt

1. KW, 5. Januar

2. KW, 9. Januar

3. KW, 16. Januar

4. KW, 23. Januar

5. KW, 31. Januar

6. KW, 6. Februar

7. KW, 15. Februar

8. KW, 19. Februar

9. KW, 27. Februar

10. KW, 6. März

11. KW, 14. April

12. KW, 22. März

13. KW, 31. März

14. KW, 5. April

15. KW, 11. April

16. KW, 17. April

17. KW, 27. April

18. KW, 4. Mai

19. KW, 11. Mai

20. KW, 15. Mai

21. KW, 26. Mai

22. KW, 30. Mai

23. KW, 6. Juni

24. KW, 11. Juni

25. KW, 19. Juni

26. KW, 26. Juni

27. KW, 1. Juli

28. KW, 9. Juli

29. KW, 16. Juli

30. KW, 23. Juli

31. KW, 30. Juli

32. KW, 7. August

33. KW, 14. August

34. KW, 20. August

35. KW, 28. August

36. KW, 3. September

37. KW, 12. September

38. KW, 17. September

39. KW, 23. September

40. KW, 2. Oktober

41. KW, 13. Oktober

42. KW, 18. Oktober

43. KW, 23. Oktober

44. KW, 30. Oktober

45. KW, 6. November

46. KW, 13. November

47. KW, 21. November

48. KW, 26. November

49. KW, 4. Dezember

50. KW, 11. Dezember

51. KW, 17. Dezember

52. KW, 28. Dezember

1. KW, 5. Januar

Ich habe das neue Jahr verschlafen. Am 31. Dezember 2012 lag ich um 22.30 Uhr im Bett und schlief sofort ein. Seit Tagen hielt mich eine Erkältung gefangen und ausgerechnet am Silvesterabend war der Tiefpunkt erreicht. Neben den Bronchien und den Nasennebenhöhlen war auch noch der Geschmackssinn befallen, und es ist wirklich interessant, wie viel beim Essen über den Tastsinn funktioniert. Wie wir durch die Konsistenz spüren, dass wir jetzt Räucherlachs essen oder Camembert, und dies auch weitergemeldet wird an das Gehirn, ohne dass der Geschmackssinn dazu etwas sagen kann. Dem war in diesen Tagen alles gleich.

Vermutlich um 00.00 Uhr, also doch zum Start des Jahres 2013, bin ich kurz aufgewacht vom Geballer in der schwäbischen Kleinstadt, in der wir die Feiertage verbracht haben. Einige Schläge ließen tatsächlich die Scheiben klirren, und ich schlief und erwachte in einem unregelmäßigen Rhythmus, bis das Donnern nachließ oder ich mich daran gewöhnte. Gespart haben die Schwaben jedenfalls nicht am Feuerwerk. Obwohl ihnen ja immer Sparsamkeit nachgesagt wird.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, SPD, hat sich in der Silvesterausgabe der Berliner Morgenpost über die vielen Schwaben in seiner Berliner Nachbarschaft im Prenzlauer Berg echauffiert. »Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken. Da sage ich: In Berlin sagt man Schrippen, daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen. Genau das gleiche mit Pflaumendatschi. Was soll das? In Berlin heißt es Pflaumenkuchen. Da werde ich wirklich zum Verteidiger des berlinerischen Deutsch. Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind. Und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche. Sie kommen hierher, weil alles so bunt und so abenteuerlich und so quirlig ist, aber wenn sie eine gewisse Zeit da waren, dann wollen sie es wieder so haben wie zu Hause. Das passt nicht zusammen.« Interessant daran ist eigentlich nur, dass Thierse meint, eine ganze Bevölkerungsgruppe beschimpfen zu können. Und damit ist er nicht allein. Denn in Berlin-Prenzlauer Berg und Mitte hängen Poster und Plakate, auf denen »Schwaben raus« steht. So als ob sie tatsächlich allein für den kompletten Austausch der Bevölkerung in diesen Vierteln verantwortlich seien. Für die steigenden Mieten und die damit einziehende Langeweile. Es sind nie die Bayern oder Hessen oder Pfälzer. Nicht einmal die Badener.

Ich habe zehn Jahre gebraucht, um das Wort ›Schrippe‹ zu benutzen. Ich habe mich mutig gewehrt gegen dieses hässliche Wort, das ein einfaches Brötchen bezeichnet. Die ersten Jahre meiner nun zwanzigjährigen Berlinzugehörigkeit habe ich in Lichtenberg verbracht, Anfang der Neunziger, und da hörte jeder Spaß auf. Da wohnten ausnahmslos Berliner, richtige, meine ich. Wer dort ›Berliner‹ sagte für das Gebäck, das die ganze Welt so bezeichnet, das der Berliner aber aus unerfindlichen Gründen ›Pfannkuchen‹ nennt, wurde mehr als schief angeguckt. Da fielen manchmal harte Worte. ›Pfannkuchen‹ habe ich auch schnell angenommen, man will ja nicht unhöflich sein, aber ›Schrippe‹ habe ich auch in Lichtenberg nie gesagt.

Aber irgendwann habe ich mich dann integriert, und das ist es doch wohl, was sich unsere Gesellschaft so sehnlich von uns wünscht. Von Arabern und Schwaben. Der Bäcker bei mir um die Ecke hat kurdische Vorfahren, und ihm ist gleich, wie Brötchen genannt werden. Gar nicht thematisiert wurde bei dieser tiefgründigen Diskussion, dass es immer weniger Bäcker in Berlin gibt. Die meisten Läden, die sich so nennen, backen einfach nur Fabrikrohlinge auf, die alle gleich schmecken. Richtige Bäcker, die nachts um zwei anfangen zu arbeiten und wirklich noch selber einen Teig ansetzen, gibt es kaum noch.

Während ich also in der schwäbischen Provinz im Fieber lag und das neue Jahr schlafend begann, rasten die USA auf eine Fiskalklippe zu. So richtig habe ich nicht begriffen, worum es dabei ging. Aber eines war klar: Wenn sich Demokraten und Republikaner nicht einigen, dann werden automatisch Steuern erhöht, und die ohnehin schon schwächelnde Wirtschaft geht den Bach runter. So wurde uns das tage-, ja wochenlang erklärt. Es ging um Sekunden, das mächtigste Land der Welt raste auf diese ominöse Fiskalklippe zu, und in letzter Sekunde, wirklich in allerletzter Sekunde, einigte man sich. Ja, worauf? Darauf, sich zu vertagen. Vielleicht ist so die amerikanische Lust an der Fernsehserie zu erklären. Es geht um Leben und Tod, aber nur bis zum Abspann, und nächste Woche geht es wieder um Leben und Tod. Ich wusste bis zum Morgen des 1. Januar 2013, an dem ich noch virusgeschwächt die Nachrichten hörte, gar nicht, dass es die Möglichkeit, sich zu vertagen, überhaupt gab. Aber ich mag auch keine Fernsehserien.

2. KW, 9. Januar

Warum haben wir das Vergangene schöner in Erinnerung, als es war oder manchmal immer noch ist? Mir geht es so mit dem Café Einstein, dem Stammhaus, wie es stolz auf den Servietten steht, denn um die Jahrtausendwende wurde der Name hergegeben für ein Unternehmen, das heute mehr an ›Coffee to go‹ erinnert als an ein Kaffeehaus.

Aber ein solches will ich heute zum Schreiben aufsuchen. Immer habe ich die Autoren beneidet, die rausgehen zum Schreiben. In den Park, die Bibliothek oder eben ins Café. Ich kann das nicht. Wenn ich an meinen Büchern arbeite, muss ich allein sein. Ich brauche Ruhe und manchmal Musik, muss aufstehen können, herumgehen, um meinen Schreibtisch laufen wie ein Zootier, mich auf die Heizung setzen, aus dem Fenster sehen und wieder zurück zum Schreibtisch gehen. Sonst schreibe ich keine Zeile. Ich muss asozial sein beim Schreiben. Ich will mit niemandem reden, will nicht ans Telefon, und das Internet mit seinen unendlichen Weiten, in denen man sich stundenlang verlieren kann, ohne gefunden zu werden oder selber etwas zu finden, ist sowieso das Ende der Kreativität. Zumindest bei mir ist das so.

Ich erinnere mich an eine meiner ersten Lesungen vor vierzehn Jahren gemeinsam mit einem jungen Schweizer Autor, der sagte, er würde jeden Tag zum Schreiben ins Café gehen. Sich ein oder zwei Gläser Rotwein bestellen und arbeiten. Ich habe ihn angestaunt und gedacht: »Wie soll das gehen?«

Aber für dieses Tagebuch will ich raus. An Orten schreiben, an denen ich das sonst nie mache. Und anfangen will ich mit einem Kaffeehaus. So, wie es in den berühmten zwanziger Jahren angeblich alle gemacht haben. Kästner, Tucholsky oder Mascha Kaléko. Das Einstein ist in einer alten Villa in Schöneberg, die irgendwann mal der Schauspielerin Henny Porten gehört hat. In den neunziger Jahren residierte hier um die Ecke der Wagenbach Verlag. Ich habe dort als Aushilfe gearbeitet, und das war der schönste Studentenjob, den ich hatte. Ich musste die Post frankieren, Botengänge erledigen und auch schon mal das Auto von Klaus Wagenbach waschen. Ein roter Saab mit Ledersitzen und Sitzheizung. Mir gefiel von Anfang an die Kombination von Literatur und weltlichem Genuss in diesem Verlag. Zu Weihnachten wurden Hunderte von Rotweinflaschen an Freunde verschickt, und alle Aushilfen des Verlags, die Lehrlinge und ein paar Mitarbeiter packten stundenlang Päckchen.

Eigentlich war ich hauptsächlich angestellt, um das Mittagessen für die Angestellten zuzubereiten. Jeder gab fünf Mark und ich kaufte Käse, Obst und Wurst und bereitete einen Salat zu. Gegessen wurde gemeinsam an einem großen Tisch im Foyer des Verlags. Aber manchmal, wenn Klaus Besuch hatte, wenn ein Autor oder eine Übersetzerin kamen, dann ging er mit ihnen ins Café Einstein, und vielleicht liegt es daran, dass ich heute hier sitze und ein bisschen enttäuscht bin, dass ich es prächtiger in Erinnerung habe, mir die gelbe und minzgrüne Wandfarbe nicht so richtig gefallen will und die Patina zu dick erscheint. Das Licht der weißen Kugellampe wirkt müde und diffus und mischt sich im Raum mit dem einfallenden Regengrau der Straße.

Um mich herum wird italienisch geredet, englisch und deutsch. Die Gäste lesen Zeitungen, die in großen Holzklemmen stecken, und in der FAZ bespricht Niklas Maak das wiedereröffnete Romanische Café, in dem früher Egon Erwin Kisch oder Else Lasker-Schüler saßen und schrieben. Und heute? »Man erkennt allerdings bis zum letzten Moment nicht, dass dies hier ein Café sein soll, da wesentliche Elemente, die ein Café ausmachen, nicht anzutreffen sind, eine Tür zum Beispiel; man muss sich seitlich durch einen Nebeneingang des Hotels ins neue Romanische Café hineinschleichen. Drinnen gibt es ein paar Bücherregale, in denen die Denim Bible, ein Bildband über Golfresorts und ein Buch über Küchendesign zu finden sind. Zur Straße hin sind die Fenster, wie im Verkaufsraum eines Düngemittelherstellers, mit Kübeln verstellt, in denen orientierungsloses Gras wächst, von der Decke knallt das Licht der Neonstrahler auf die Teller, als solle man den Kuchen nicht essen, sondern operieren. Das neue Romanische Café ist vielleicht ein guter Hotelfrühstücksraum, als romanisches Café aber ein typischer Fall von Etikettenfledderei durch Marketingabteilungen.«

Berlin hat also auch das Romanische Café in den berühmten märkischen Sand gesetzt. Der Flughafen Willy Brandt will auch in diesem Jahr nicht gelingen. Obwohl er schon im letzten Jahr fertig gewesen sein sollte. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, SPD, ist gestern als Aufsichtsratsvorsitzender zurückgetreten. Die Presse vermutet einen Rücktritt auf Raten, aber ich vermute, dass da der Wunsch der Vater des Gedankens ist.

Der neue Sicherheitschef des Flughafens, Horst Amann, hat die Lage an der Baustelle als »fast grauenhaft« bezeichnet. Was wäre dann »grauenhaft«? Wenn die Gebäude vor der Eröffnung schon zusammenstürzen?

3. KW, 16. Januar

Der Winter ist zurück. Nach wochenlangem Nieselwetter liegt der Schnee zwei Finger hoch, bei -4° C. Ich mag den Winter nicht. Da habe ich mir mit Berlin die richtige Heimat ausgesucht. Hier geht diese Jahreszeit vom November bis Ende März, und nicht selten haben wir mehr als -10° C.

Ich fahre los mit der U-Bahn nach Neukölln. Vom U-Bahnhof Bernauer Straße, der letzten Station in Mitte, bevor der Wedding kommt. Zu Mauerzeiten war das ein Geisterbahnhof, eine von sechs Stationen, an denen die U-Bahn nicht hielt auf ihrem Weg von Neukölln nach Wittenau. Die DDR hatte die Bahnsteige verrammelt und sogar die Notausgänge zugemauert. Die Westberliner sind mitten durch Ostberlin gefahren, ohne anzuhalten. Auf jedem dieser verlassenen Bahnhöfe standen Grenzsoldaten der Nationalen Volksarmee oder Transportpolizisten. Kaum noch vorstellbar. Aber ich muss mir das vorstellen, denn meine Romanfiguren sollen diese Strecke fahren, Ende der achtziger Jahre, kurz vor dem Mauerfall. Ich fahre ihnen sozusagen entgegen. In die andere Richtung. Sie von Neukölln in den Wedding unter der DDR durch, und ich vom ehemaligen Geisterbahnhof nach Neukölln.

Ich will Anja Bederke besuchen. Unsere Kinder gehen in dieselbe Schule, und Anja arbeitet im Viertel um den Richardplatz als Quartiermanagerin. Einer dieser Berufe, die man kennt und von denen man eine vage Vorstellung hat, ohne wirklich was zu wissen. Neukölln gilt deutschlandweit als Synonym für einen nicht funktionierenden Bezirk. SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky steht mit seinem Buch Neukölln ist überall in den Bestsellerlisten. Der Ullstein Verlag preist es an:

»Heinz Buschkowsky schlägt Alarm: Zoff auf den Straßen, hohe Arbeitslosigkeit, Überfremdungsängste bei der einheimischen Bevölkerung – das ist die Realität in Berlins Problembezirk Nr. 1. Doch Neukölln ist überall. Buschkowsky sagt, was sich in Deutschland dringend ändern muss.«

Anja glaubt nicht, dass sich in Deutschland etwas ändern wird. Weil die Politik zu langsam reagiert und weil es ihr vielleicht auch egal ist. Da können noch so viele Menschen das Buschkowsky-Buch lesen. Gemeinsam mit ein paar Kollegen arbeitet sie seit 2005 im Viertel um den Richardplatz. Feinstes Neukölln. »Früher waren hier 97 % Hartz-4-Empfänger, und 90 % der Kinder kamen aus Migrantenfamilien.« Das ändert sich gerade, aber nicht, weil die Politik das so will und lenkt, sondern weil alle Welt in Berlin Immobilien kauft. »Vor allem aus den Ländern, die Angst um ihr Geld haben und dafür einen Wert haben wollen. Also Spanier, Italiener, aber auch Amerikaner, ach eigentlich aus der ganzen Welt.«

»Europa leidet – Deutschland gewinnt«, titelt die Süddeutsche Zeitung am heutigen 16. Januar. »Deutschland geht auch aus dem dritten Jahr der europäischen Schuldenkrise als großer Gewinner hervor. Während die Nachbarstaaten vor allem in Süd- und Osteuropa unter hoher Arbeitslosigkeit und Verschuldung leiden, kam die Bundesrepublik – alle öffentlichen Kassen zusammengenommen – im Jahr 2012 ohne Schulden aus. Zwar rechnet die Bundesregierung 2013 nur noch mit einem Wirtschaftswachstum von 0,4 Prozent, doch bleibt die Zahl der Beschäftigten weiter auf Rekordniveau.«

Und weil das so ist, steigen in Neukölln die Mieten, und die Menschen, die vielleicht ihr Leben lang dort gewohnt haben, müssen sich nach einem neuen Zuhause umgucken. Anja zeigt auf die Tafel mit ihrem Lieblingsprojekt, die ihr gegenüberhängt: »Gewaltprävention Droryplatz«. Einen öffentlichen Spielplatz gibt es dort, den Schulhof einer Grundschule und zwei angrenzende Kitas. Nach vielen gewaltsamen Konflikten wurde eine Schließung des Schulhofes gefordert. Das Quartiermanagement erreichte schließlich eine Öffnung des Platzes unter pädagogischer Betreuung.

Aber solche Projekte brauchen Zeit. 2014 läuft die Förderung für das Quartiermanagement aus und muss neu beantragt werden: »Es kann sein, dass uns jemand finanziell unterbietet, und dann sind wir draußen.« Sozialarbeit als Wettbewerb. Sie mache das trotzdem gern und wollte nie etwas anderes machen. Handfest kommt mir das vor, im Gegensatz zu meiner Arbeit, die Neukölln in den achtziger Jahren im Vorbeigehen beschreiben will.

Ein Blick in die Süddeutsche Zeitung (15.1.) zeigt die Probleme des noch jungen Jahres. Die Franzosen sind in Mali einmarschiert. »Frankreich habe kein Interesse daran, langfristig in Mali zu bleiben, sagte Hollande am Dienstag. Der Militäreinsatz habe nichts mit ›der Politik einer anderen Zeit‹ zu tun, so Hollande unter Anspielung auf die französische Kolonialvergangenheit in Afrika. Vor einem Rückzug aus Mali müsse aber garantiert werden, dass es dort wieder Sicherheit und eine funktionierende Verwaltung gebe, dass Wahlen organisiert würden und dass keine Terroristen mehr das Land bedrohten.« Auch Deutschland schließt sich an. Will nicht kämpfen, aber logistisch unterstützen. Mit Transall-Maschinen, und die Kanzlerin drängt zur Eile. Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Die »islamistischen Rebellen« im Norden Malis, heißt es plötzlich überall. Das klingt nicht gut, ganz im Gegensatz zu den »Rebellen in Syrien«. Das klingt schon besser, obwohl bei denen, die da gegen den Diktator Assad kämpfen, mit Sicherheit auch Islamisten dabei sind. Aber man lässt sie allein kämpfen. Springt ihnen nicht bei wie in Libyen oder jetzt in Mali. Nun schon seit Monaten. Die Vizeaußenminister von Russland und den USA haben sich beraten und sind zu keinem Ergebnis gekommen. Syrien ist ein Vizekonflikt. Wer weiß, wie lange wir noch verwackelte Handyfilme sehen werden, in denen Menschen gezeigt werden, die um ihr Leben kämpfen.

4. KW, 23. Januar

Im Bauch des Alexanderplatzes. Mit Jaroslav Rudiš treffe ich mich unter der Erde. Wir laufen durch die vielen Gänge, die hier von der U2 über die U5 zur U8 führen. Die Kacheln sind nicht blau, nicht grün. Türkis hilft als Beschreibung auch nicht. Jara strahlt. Er wollte ein Bahner werden. Ein ›Eisenbahner‹ wie sein Onkel und Großvater. »Die haben mit Stolz diese Uniform getragen, und ich wollte das als Junge auch. Aber dann habe ich mit dreizehn Jahren eine Brille bekommen, und so konnte ich nicht mehr Lokführer werden.« So ist er Schriftsteller geworden, was mich sehr freut. Auf Deutsch erschienen sind: Der Himmel unter Berlin, Grandhotel, Die Stille von Prag und die Graphic Novel Alois Nebel. Außerdem schreibt er Drehbücher für Filme und Hörspiele.

Kennengelernt haben wir uns in Finnland bei einem Schriftstellerkongress. Wir saßen in der Nähe von Lahti den ganzen Tag in einem großen Zelt, und Autoren aus der ganzen Welt hielten Vorträge zum Thema »Das Unsagbare in der Literatur«. Die wurden simultan ins Englische, Französische und Russische übersetzt. Deutsch gab es nicht, und so wurde mein Vortrag von einem finnischen Autor in finnischer Übersetzung vorgetragen, und ich hörte die englische Simultanübersetzung. Stille Post ist nichts dagegen.

Und es war Mittsommer, es wurde einfach nicht dunkel. Für eine meiner Erzählungen, für Gegenlicht, bin ich zur Wintersonnenwende nach Finnland gefahren. Bis hoch nach Lappland. Da wurde es einfach nicht hell. Man könnte denken, wenn es dann im Sommer nicht dunkel wird, dass das diese pausenlose Dunkelheit im Winter ausgleicht. Aber das stimmt nicht. Ich empfinde es zumindest nicht so. Diese Tage haben etwas Gnadenloses. Es gibt kein Ende. So wie es im Winter keinen Anfang gibt. Ich genieße es, wenn es in einem schönen Sommer in Deutschland nicht dunkel wird und die Sonne erst zwischen 22.00 Uhr und 23.00 Uhr untergeht, aber sie geht unter. Irgendwann. In Finnland war es auch um Mitternacht noch so hell, dass wir Fußball spielen konnten. Die finnischen Autoren gegen den Rest der Welt. Jara und ich haben beim Rest mitgespielt, und sind mit den Finnen danach in die Sauna gegangen. Wir haben erstaunt zugesehen, wie sie Bier auf die heißen Steine gegossen haben, und auch um 2.00 Uhr war es immer noch nicht dunkel.

Das Unsagbare in der Literatur. Jaras und meine Freundschaft war von Anfang an das Gegenteil. Wir haben ununterbrochen geredet. Kamen vom Hölzchen aufs Stöckchen. Auf Deutsch, das der in Liberec geborene Tscheche fast perfekt spricht.

Wir besteigen eine U-Bahn der Linie U1. Ich möchte noch zum Bahnhof Zoo. Die Heldin meines Romans, Astrid, sitzt dort fest. Im Pressecafé, das eine Institution war im alten Westberlin, wo es die Zeitungen vom Folgetag schon am späten Nachmittag zu lesen gab. Nur will das Pressecafé um meine Heldin herum für mich nicht erscheinen, und so geht es nicht weiter. Ich muss sie befreien.

Jara erzählt, dass er am Wochenende nach Tschechien fahren will. Zur Präsidentenwahl. Das nenne ich vorbildliche Bürgerpflicht, aber er wirft seine schwarzen Haare, die ein bisschen an Popperlocken erinnern, aus der Stirn und sagt: »Es herrscht gerade eine ganz große Hysterie in meinem Land. Ich habe vergessen, meinen Wählerausweis hierher zu bestellen, und so muss ich da einfach hinfahren. Es ist so spannend.«

Auch bei uns sind die Präsidentschaftskandidaten durch die Medien gegangen. Vor allem ein komplett tätowierter Künstler. »Ja, der ist jetzt weltberühmt«, sagt Jara. 7 % bekam der Mann in den Vorwahlen. »Die beiden Kandidaten, die übrig geblieben sind und jetzt zur Wahl stehen, zeigen, wie wir Tschechen eigentlich sind. Miloš Zeman ist der ewig wiederkehrende Typ Schwejk. Der Tscheche, der in der Kneipe hockt, fit ist im Kopf, ständig Witze reißt, Becherovka und Bier trinkt, und seine Aussage ist: Wenn ihr mich wählt, dann wird es gemütlich in unserer Dorfkneipe. Ich bin einer von euch.«

»Ja, und der andere«, sagt Jara nachdenklich, »Karel Schwarzenberg, ein Fürst, der vor den Kommunisten fliehen musste und in Österreich aufwuchs. Der ist unglaublich beliebt bei der Jugend, die laufen mit ›Karel for President‹-T-Shirts rum, so wie es früher Sex Pistols-T-Shirts gab. Wahrscheinlich sind wir das einzige Land, in dem Jugendliche Adlige anhimmeln. Es ist herrlich, eine Komödie. Aber es hat auch eine Tragik. Weil die Situation auch hysterisch ist. Denn es kann sein, dass die Beneš-Dekrete die Wahl entscheiden. Schwarzenberg sagt: ›Es war Unrecht.‹ Und Zeman sagt: ›Das muss man aus der Perspektive der damaligen Zeit sehen, die Deutschen waren die Bösen, und es ist gut, dass sie weggekommen sind.‹ « Wir landen am Bahnhof Zoo, und Jara wirft zum letzten Mal die Haare aus dem Gesicht. »Es ist schon verrückt, in Deutschland interessieren die Beneš-Dekrete keine Sau mehr, aber in Tschechien können diese alten deutschen Knochen noch eine Wahl entscheiden.«

In Deutschland war in Niedersachsen am vergangen Wochenende auch eine Wahl. Die FDP hat so viele Leihstimmen von der CDU bekommen, dass sie bei 10 % gelandet ist. Bei den Umfragen vorher hatten sie kaum 5 %. Philipp Rösler war sehr umstritten und sollte gehen. Die Wähler aber wollten Schwarz-Gelb auf Umwegen wählen, wohl weil es keinen Grund mehr gibt, der FDP direkt eine Stimme zu geben. Sie steht für wirklich gar nichts mehr. Aber es hat nicht funktioniert. Rot-Grün regiert mit einer Stimme Mehrheit.

Und Astrid, meine Romanheldin? Sitzt immer noch im Pressecafé am Zoo Ende der achtziger Jahre. Frisch aus Ostberlin gekommen. Heute ist im Pressecafé ein Burger King, und die Stimmung ist so trist, dass ich nicht einmal meinen Laptop aufklappen mag. Um sie und um mich also völlige Leere. Ich gehe los und suche ein Café und: »Assi, nächste Woche hol ich dich da raus!«

5. KW, 31. Januar

Ich muss in die Humboldt-Universität. Jaroslav Rudiš hat hier in diesem Semester die Siegfried-Unseld-Gastprofessur und er bietet einen Creative-Writing-Kurs an. Mich hat er als Gast eingeladen. Ich soll eine Erzählung lesen, und die Studenten sollen mir Fragen stellen.

Ich mache das gern, weil man das Alter zwischen zwanzig und dreißig nie zu Gesicht bekommt. Sie kommen nicht auf Lesungen. Hin und wieder lese ich mal an einer Schule vor Abiturienten, aber mit Studenten gibt es kaum eine Möglichkeit, über Texte zu reden.

Der Besuch an der Humboldt-Universität ist aber auch etwas Besonderes, weil ich hier studiert habe. Zwischen 1992 und 1996. Germanistik und Geschichte und eigentlich auch noch Philosophie, aber das verschweige ich immer, weil ich tatsächlich nicht einen Schein gemacht habe.

Ich war nicht in der Lage, mich auf die Texte oder die Philosophievorlesungen zu konzentrieren. Aber sie haben mich immer auf eigene Gedanken gebracht. Das war fast schon absurd. Ich saß in einer Tugendhat-Vorlesung und war mit meinen Gedanken so weit weg, dass ich den vortragenden Professor akustisch gar nicht mehr wahrnahm. So kann man nicht studieren.

1996 unterbrach ich das Studium, um die Berliner Journalistenschule zu besuchen. Dort wurden wir in den Fächern Print, Radio und Fernsehen von Lehrern aus der Praxis unterrichtet und mussten schreiben, schreiben, schreiben. Jeden Tag. Das gefiel mir, das war nah an meinem Traum, ein Schriftsteller zu werden. Danach wollte ich eigentlich weiterstudieren, aber ich bin tatsächlich nie wieder an der Humboldt-Universität gewesen. Bis heute nicht, also siebzehn Jahre später. Die Uni ist zu einem weißen Fleck für mich geworden, mitten in Berlin. Es gab keinen Grund, dort wieder einmal hinzugehen, aber ich habe ihn auch nicht gesucht.

Ich fahre einen vertrauten Fahrradweg durch Berlin-Mitte. So wie ich früher immer zur Uni gefahren bin. Komme von hinten, also nicht vom Boulevard Unter den Linden aus, und stelle mein Rad hinter dem Hauptgebäude ab. Aber ich statte dem alten Haus auch einen Besuch ab. Das (nicht originale) Marx-Zitat: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« Es steht immer noch in goldenen Lettern an der Wand. Im Hof steht ein trostloses Mensazelt, und es gibt im Hauptgebäude jetzt auch einen Humboldt-Store mit T-Shirts, Humboldtbüsten aus Gips und Jutetaschen. Man kann drei Golfbälle für zwölf Euro kaufen. Mit dem Unilogo drauf. Welcher Student kauft Golfbälle?

Im sechsten Stock des Gebäudes der Philosophischen Fakultät 2 in der Dorotheenstraße sitzen fünfzehn Studenten. Drei Männer und zwölf Frauen. Das Haus ist neu gebaut, aber der Raum sieht immer noch fürchterlich aus. Leer, karg und unpersönlich. Wie früher. Die Studenten sitzen hinter Tischen und sehen mich an. Ich lese, und wir sprechen danach eher über die Arbeit des Schreibens als über den Text. Das passiert bei Lesungen immer wieder. Aber diese fünfzehn hier schreiben selber, zumindest in diesem Seminar, und sind an ganz praktischen Dingen interessiert. »Wie kommt man zu einem Verlag?«, »Wissen Sie eigentlich die Dinge, die Sie nicht erzählen, was den Personen nach dem Ende passiert beispielsweise?«

Manchmal habe ich das Gefühl, die Figuren wissen, was ich mache!

Ich darf auch im zweiten Teil der Veranstaltung bleiben, in dem vier Studentinnen Texte vorlesen. Das heißt zwei ziehen es vor, lieber nicht laut zu lesen. Ihre Kommilitonen lesen still, und hinterher wird darüber diskutiert. Was ich viel schlimmer finde. Die Vorstellung, jemand liest meinen Text, und ich muss ihm stumm dabei zusehen.

(Eine Studentin schreibt: »Obwohl er erst Mitte zwanzig ist, sieht er aus wie fünfundvierzig. Seine Haut ist grau.« Ich werde dieses Jahr fünfundvierzig Jahre alt, die Studentin ist vielleicht Ende zwanzig. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Eine andere Generation. Aber der Text ist gut!)

Es gibt erstaunlich wenig negative Kritik, sie gehen angenehm respektvoll miteinander um. Mir macht das Spaß. Warum gibt es an deutschen Universitäten so wenig Creative-Writing-Kurse? Amerikanische Autoren leben seit Generationen davon, andere zu unterrichten, und schon in meinem Germanistikstudium saßen viele, die selbst geschrieben haben und sehr gern so einen Kurs besucht hätten. Eine Studentin, Natalia, bringt es auf den Punkt: »Ich fand es interessant, dass jetzt endlich mal was praktisch passiert. Ich hab’ für mich geschrieben, aber nie für andere und es nie anderen vorgelesen. Es ist viel schwieriger als wissenschaftliche Texte. Dahinter kann man sich ganz gut verstecken. Der Kurs ist sehr erfrischend.«

Ich werde auf Lesungen oft gefragt, was ich vom Literaturinstitut in Leipzig halte und ob man denn Schreiben lernen kann. Woher soll ich das wissen? Ich war ja nicht da. Aber Jens Sparschuh, der dort unterrichtet, hat mir einmal von einem seiner Kurse erzählt: »Kreatives Streichen«. Jeder Schüler musste einen Lieblingstext mitbringen, und alle, auch der Schüler selbst, streichen ihn dann kurz und klein. Schmerzhaft, aber lehrreich, würde ich vermuten.

In Deutschland gibt es zwei Diskussionen. Eine große und eine kleine. Im Stern wurde Rainer Brüderle alltäglicher Sexismus vorgeworfen, und das schlägt Riesenwellen. Wird in jeder Talkshow diskutiert. Jauch (Herrenwitz mit Folgen – Hat Deutschland ein Sexismusproblem?), Will (Sexismusaufschrei – hysterisch oder notwendig?), Lanz (Schote, Zote, Herrenwitz – Schluss mit lustig). Allerdings frage ich mich, was sie mit dem Thema machen, wenn es so schnell durch alle Fernsehanstalten gejagt wurde. Was wird davon bleiben? Also nächste Woche oder in einem Jahr?

Das zweite Thema beschäftigt weniger Menschen. Der Oetinger Verlag will das Wort ›Neger‹ z. B. aus Pippi Langstrumpf streichen. Dafür wird er heftig kritisiert. Gegen eine nachträgliche politisch korrekte Sprache wird sich ausgesprochen. Denis Scheck tritt tatsächlich mit einem schwarz gefärbten Gesicht bei druckfrisch auf und hält das für einen Protest gegen das Streichen des Wortes ›Neger‹. Ich bin einerseits gegen Eingriffe in die Literatur und gegen Streichungen schon durch meine DDR-Herkunft allergisch. Aber ich bin andererseits auch Vater und möchte das Wort ›Neger‹ meinen Kindern nicht vorlesen. Auf gar keinen Fall. Man könne das den Kindern erklären, lautet ein häufiges Argument. Ich lese fast jeden Abend vor. Seit Jahren. Vielleicht kann man es einem Achtjährigen erklären. Aber einem Fünfjährigen, dem erklärt man, dass ›Neger‹ ein Schimpfwort für seinen dunkelhäutigen Freund aus der Kita ist? Die ganze Diskussion wird auch immer nur aus weißer deutscher Sicht geführt. Was beispielsweise ein schwarzes Kind oder ein schwarzer Vater beim Lesen des ›Negerkönigs‹ in Pippi Langstrumpf empfinden, ist dabei offensichtlich völlig egal.

Eine Fußnote mit Verweis auf die Originalfassung würde es wohl auch tun. Die Studenten aus dem Creative-Writing-Seminar sind allerdings einhellig gegen die Streichung des Wortes ›Neger‹.

6. KW, 6. Februar

Ich muss weg aus Hohenschönhausen. Weg von diesem Stasiknast, den hohen Mauern, Wachtürmen und Stacheldraht. Zu DDR-Zeiten war das ein großes Sperrgebiet. Heute stehen hier Einfamilienhäuser, neu gebaut, die direkt an den Zaun anschließen. Die Bewohner gucken auf das Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit, und ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, dort zu wohnen. Vom Küchenfenster aus dieses steinerne Elend vor Augen zu haben. Diese Häuser sind erst in den Neunzigerjahren gebaut worden. Ist man dann dickfällig oder stumpfsinnig, wenn man hier wohnt?

Also fahre ich mit dem Auto über den Alexanderplatz und den Potsdamer Platz in das Restaurant Ypsilon, ein griechisches Restaurant, das ich schon seit zwanzig Jahren kenne und in dem ich schon sehr lange nicht mehr war. Es sieht unverändert aus, leer, weil es noch Nachmittag ist. Aus den Boxen kommt griechischer Pop, und die Karte hält Vertrautes bereit. Hirtensalat, Souvlaki, Lammkotelett. Draußen fahren die Autos vierspurig vorbei, und nicht weit von hier stand der Sportpalast, in dem Goebbels 1943 seine »Wollt ihr den totalen Krieg«-Rede gehalten hat. Es ist nicht leicht, in Berlin einen unbelasteten Ort zu finden.

Ich habe in Hohenschönhausen zum ersten Mal die DDR als Besucher betrachtet. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal in einem speziellen DDR-Museum gewesen zu sein. Ich bin in der DDR aufgewachsen, ich kenne die DDR. Auch wenn ich nicht im Gefängnis war. Zum Glück.

Wolfgang Warnke war hier im Gefängnis. Er ist einer von zweiunddreißig ehemaligen Häftlingen, die heute Besucher durchführen. Warnke saß hier 1975 für vier Wochen ein. Seine Geschichte ist bizarr. Er war eigentlich Bundesbürger und wollte einem Mann zur Flucht verhelfen, von Bulgarien in die Türkei.

Er wurde geschnappt, und die bulgarischen Behörden wollten ihn behalten. Aber Mielke verhandelte so lange, bis er den Häftling Warnke für vier Wochen bekam, allein eingeflogen in einer Staatsmaschine der DDR. Nach vier Wochen schickte man ihn wieder zurück nach Bulgarien. Ohne wirklich etwas erfahren zu haben.

Er zeigt uns Zellen mit viel zu kurzen Betten, eine gebastelte Ampel auf dem Flur, damit die Häftlinge sich nicht begegnen konnten. Bei Rot mussten sie stehenbleiben, den Kopf drehen und an die Wand gucken. Sie wurden immer von demselben Stasioffizier verhört. Acht Stunden, zehn Stunden, zwölf Stunden. Über Tage. Tatsächlich kann man sich die körperlichen Demütigungen besser vorstellen als das quälende Vergehen der Zeit. Ich kann mir vorstellen, wie es ist, wenn man sich ausziehen muss und einem in alle Körperöffnungen geguckt wird. Aber was macht man den ganzen Tag in einer drei Quadratmeter großen Zelle? Ohne dass man sich hinlegen darf, und sogar auf dem kleinen Hocker muss man immer in einer bestimmten Position sitzen. Selbst Liegestütze sind verboten. Man wurde nachts geweckt, wenn man nicht die korrekte Schlafposition einnahm. Warnke: Auf dem Rücken liegend, die Hände sichtbar auf der Decke und das Gesicht nicht verdeckt. Wer sich aus dieser Position dreht (was der Mensch im Schlaf etwa fünfzig Mal pro Nacht macht) wurde geweckt durch einen lauten Ruf: »Schlafposition einnehmen!« Oder durch Schlagen ans Metall. Eine 60-Watt-Birne wurde zum Überprüfen alle zwanzig Minuten lautlos angeknipst. Vielleicht kann man sich diese Art Folter jeweils im Detail vorstellen, aber nicht als Abfolge von endlosen Stunden und Tagen.