image

Hanjo Kesting

Augenblicke mit Jean Améry

Hanjo Kesting

Augenblicke
mit Jean Améry

Essays und Erinnerungen

image

Für Irene Heidelberger-Leonard
in Bewunderung für ihre Empathie und Ausdauer

Inhalt

Vorwort

Der Tod des Geistes als Person. Erinnerung an Jean Améry

Nirgends zuhause. Jean Amérys »Örtlichkeiten«

Schickung und freie Wahl. Jean Améry und Jean-Paul Sartre

Furor reflectionis. Jean Améry als Erzähler

Der Idiot des Romans »Charles Bovary, Landarzt«

»… das durchdringende Gefühl der Luftexistenz …«. Beim Lesen von Amérys Briefen

Augenblicke mit Jean Améry. Versuch einer Erinnerung

An den Grenzen des Geistes. Eine O-Ton-Collage Jean Améry zum 100. Geburtstag

Briefwechsel

Editorische Notiz

Bibliographie der Arbeiten mit und über Jean Améry

Nachweise

Vorwort

Als Jean Améry 1966 mit dem Essay Jenseits von Schuld und Sühne die literarische Bühne Westdeutschlands betrat, begrüßte Alfred Andersch in einem großen Essay »die Rückkehr des Geistes als Person«. Das folgende Jahrzehnt war das Jahrzehnt Amérys, der bald zu einem der maßgeblichen Intellektuellen in Westdeutschland aufstieg. Er genoss hohe Wertschätzung, wurde immer wieder zu Reden, Vorträgen, Symposien eingeladen, war auf zahllosen Podien ebenso präsent wie in den Kulturprogrammen des Rundfunks und auf den Feuilletonseiten der großen Zeitungen, am Ende mit ehrenvollen Auszeichnungen versehen wie dem Lessing-Preis der Stadt Hamburg. Dabei hatte Amérys öffentliches Bild in dieser Zeit seiner Fast-Allgegenwart nie etwas Beliebiges oder bloß Betriebsames. Er taugte nicht für die Rolle des intellektuellen Hans Dampf in allen Gassen, strahlte doch von ihm eine existentielle Ernsthaftigkeit aus, die alle Routine des kulturellen Betriebs ebenso unterlief, wie sie seine glamourösen Seiten als »Glanz-Verfall« demaskierte.

Dann kam die Nachricht von Amérys Freitod in Salzburg, während der Frankfurter Buchmesse, schockierend und lähmend wenigstens für einen Augenblick. Gerade war sein letztes Buch, Charles Bovary, Landarzt, erschienen, das, wie von ihm befürchtet und fast vorausgesagt, keine günstige Aufnahme erfuhr. In diesem Buch hatte Améry ein drittes und letztes Mal den Versuch gewagt, sich als Erzähler, ja als Dichter zu zeigen, so wie es ihm in jugendlichem Lebenstraum vorgeschwebt hatte. Wie sehr er dazu berechtigt war, belegt das Manuskript eines früh, vermutlich Mitte der dreißiger Jahre, entstandenen Romans mit dem Titel Die Schiffbrüchigen, das wunderbarerweise über alle Fährnisse und Lebenskatastrophen hinweg erhalten blieb und siebzig Jahre nach seiner Niederschrift endlich ans Licht kam, bei allen Unfertigkeiten und Schwächen rühmenswert als Zeugnis außerordentlicher Begabung.

Was Améry in diesem Frühwerk versuchte, war nichts Geringeres als ein autobiographisch grundiertes Sittengemälde seines Heimatlandes in der Epoche des Austrofaschismus. Sein trauriger Held, ein arbeitsloser Buchhändler jüdischer Abstammung, der den Namen Eugen Althager trägt, versucht sich dem neuen Ungeist mit stolz-verzweifelter Aufsässigkeit zu widersetzen, wird aber zum Schluss in einem von ihm selbst provozierten Duell von einem antisemitischen Farbenstudenten erschlagen. Der Leser von heute liest das Buch mit Beklommenheit, denn hier wird das persönliche Geschick des Verfassers, wie er es einige Jahre später zu erleiden hatte, mit einiger Präzision vorweggenommen. Revolte und Resignation, scheinbar einander widerstrebend, sind in Althagers Handeln unauflöslich miteinander verbunden, so wie sie später die paradox verschränkten Konstituanten von Amérys geistiger Existenz wurden. In den Schiffbrüchigen steht auch der Satz: »… ihm [war] wiederum der seit der frühen Kindheit geläufige, grenzsetzende Gedanke an den Selbstmord Halt und Rechtfertigung.« Kontinuität auch in dieser Hinsicht: Noch vierzig Jahre später wird Améry in dem Essay Hand an sich legen den Suizid als »Weg ins Freie« verherrlichen.

Fast unvermeidlich sieht man sich durch das Frühwerk an ein anderes Buch jener Zeit erinnert, Elias Canettis Roman Die Blendung. Aus dessen unveröffentlichtem Manuskript hatte Améry, während er an den Schiffbrüchigen schrieb, den Verfasser in irgendeinem Wiener Vortragssaal noch selbst vorlesen hören. Rückblickend schrieb er: »Ich sah in diesem Buch das Wetterleuchten der Menschheitsdämmerung, in der Österreich stärker und panikerweckender erbebte als irgendein anderes Reich.« Nun, dieses Wetterleuchten erkennt man auch in Amérys Frühwerk, in dem Österreichs Sturz in den Abgrund kaum weniger ahnungsvoll präkonzipiert ist als in Canettis Roman, mit dem Unterschied, dass die scharfe, kalte, von Kafka, Broch und Musil inspirierte Prosa der Blendung dem Autor der Schiffbrüchigen nicht mit ähnlicher Sicherheit zu Gebote stand, womöglich auch gar nicht angestrebt wurde.

»Ich wollte ein Dichter sein und ich bin ein Journalist, ein Tagesschreiber, der unter klanglich angenehmem Pseudonym niederschreibt, was immer die Redaktionen gerade in Auftrag geben …«, schrieb Améry zwanzig Jahre später, im Januar 1957, in seiner Brüsseler Enklave. Damals – nach einigen vergeblichen Versuchen, das Manuskript der Schiffbrüchigen wiederaufzunehmen und weiterzuführen – schien er sich schon lange von seinem Dichter-Jugendtraum verabschiedet zu haben – ein bloßer »Schreibhandwerker«, als den er sich nicht ohne Melancholie bezeichnete. In Wirklichkeit wurde die Idee seines originären Dichtertums nie völlig außer Kraft gesetzt. In den frühen siebziger Jahren tauchte sie wieder auf, als Améry daranging, den Roman-Essay Lefeu oder Der Abbruch niederzuschreiben. Große Selbstzweifel waren zu überwinden. Schon vor Beginn die ängstliche Frage: »Aber wird mein Erzählen noch standhalten können vor alledem, was man heute Prosa nennt?«

Lefeu fand wenig Gnade vor den kritischen Instanzen, die ihm mit Unverständnis und spöttischer Herablassung begegneten. Nicht auszuschließen, dass Amérys Scheitern oder das, was er nach einer selbstgesetzten Maxime (»Es gibt, so scheint mir, nur eine vernünftige Ästhetik: Rezeptions-Ästhetik«) als Scheitern empfand, seinen Anteil hatte an dem »acte suprême«, der am 17. Oktober 1978 in einem Salzburger Hotelzimmer vollzogen wurde. Doch mag es sein, dass – so unumstößlich der Rang des Essayisten feststeht – auch über den Erzähler Améry und seine drei unzeitgemäßen Versuche das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Nach seinem Tod wurde es stiller um Améry. Zwar erschienen noch einige Essaybände aus dem Nachlass, die respektvoll besprochen wurden, aber die ängstliche Frage, ob Améry seine Zeit vielleicht schon gehabt habe, war nicht unberechtigt. Sein Ruhm schien ebenso rasch verflogen, wie er anderthalb Jahrzehnte zuvor aufgeblüht war. Mir selbst allerdings war die »Rückkehr des Geistes«, diesmal als Wiederauferstehung von Amérys Werk, niemals zweifelhaft. Heute scheint die Stunde gekommen. Ist es zulässig, von einer regelrechten Renaissance zu sprechen? Amérys Werk liegt in einer mustergültigen Ausgabe vor, deren einziger Mangel ist, dass man sie sich noch vollständiger gewünscht hätte, acht Bände mit über fünftausend Seiten, ergänzt durch einen voluminösen Materialienband. Die erste gründliche Biographie Amérys ist erschienen, auch sie, wie die Werkausgabe, das Resultat von Irene Heidelberger-Leonards Unermüdlichkeit. Améry ist zum Gegenstand von Dissertantenmühen und Symposien geworden, zwei seiner Werke, darunter Lefeu, liegen als Hörbücher vor, der Auschwitz-Essay Jenseits von Schuld und Sühne gilt als Schlüsselwerk über den Zivilisationsbruch des zwanzigsten Jahrhunderts, und Amérys Begriff des »Ressentiments«, konträr-komplementär zu dem Nietzsches, ist als Grundfigur in den intellektuellen Diskurs eingegangen. Zu Lebzeiten stand der »Schreibhandwerker«, der sich mit Blick auf Meisterdenker wie Adorno, Bloch oder Canetti als »bescheidener Lump« charakterisierte, im Schatten dieser intellektuellen Mandarine, von denen er sich gleichwohl selbstbewusst abgrenzte. Heute hat er aufgeholt und sie eingeholt, ein Großer des europäischen Geistes im zwanzigsten Jahrhundert. Beglückt konstatiert man fünfunddreißig Jahre nach seinem Tod: Améry lebt.

Der Tod des Geistes als Person
Erinnerung an Jean Améry

Wer war Jean Améry? Der Schriftsteller selbst pflegte, wenn man ihn um Auskunft über seine Person und sein Leben bat, mit ein paar dürren, knappen biographischen Daten zu antworten. Geboren 1912 in Wien, aufgewachsen in Oberösterreich als Sohn einer Kriegerwitwe, die in Bad Ischl eine Gaststätte und Pension betrieb; der Vater war 1916 im Ersten Weltkrieg als Tiroler Kaiserjäger gefallen. Eine kleinbürgerliche Herkunft, eine Jugend in der österreichischen Provinz – kaum tritt aus solchen Hinweisen die geistige Physiognomie des Mannes hervor, der als einer ihrer großen Essayisten zur deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts gehört.

Als Jean Améry 1977 den Lessing-Preis erhielt, hieß es in der Preisurkunde: »… ein streitbarer Humanist … der lebenslang Wert und Würde des einzelnen gegen eine übermächtige Gesellschaft verteidigt hat – die er dennoch nicht als dumpfe Masse verachtet.«

Was erfahren wir aus solchen Sätzen? Viel und wenig zugleich, wie immer, wenn für ein großes und vielfältiges Lebenswerk die prägnante Formel gesucht wird. Gewiss trifft zu: Jean Améry war ein geistiger Nachfahr der Aufklärung, er verteidigte Wert und Würde des Einzelnen, er schlug sich auf die Seite des kleinen Bürgers und einfachen Mannes, der Namenlosen und Außenseiter. Und dennoch verstellen diese Sätze den Blick wenn nicht auf das Wesentliche, so doch auf das Charakteristische: die unverwechselbare Subjektivität, die – nach einem Wort Amérys – des Einzelnen einziges Eigentum ist. Hinter der Formel vom »streitbaren Humanisten« verschwindet das reale Lebensschicksal des Jean Améry, des Emigranten, Résistance-Kämpfers und KZ-Insassen, bis zur Unkenntlichkeit.

Noch einmal also: Wer war Jean Améry? Er war ein deutsch schreibender Jude aus Österreich, der mit Geburtsnamen Hans Mayer hieß und sich später, nach 1945, jenseits der deutschen und österreichischen Grenzen, durch Umstellung der Buchstaben in den französischen Jean Améry verwandelte. Ein Journalist, Publizist und Schriftsteller. Ein Kulturkritiker und Philosoph. Ein homme de lettres in einem in Deutschland seltenen und ungewöhnlichen Sinn. Autor eines umfangreichen politisch-schriftstellerischen Werks, bestehend aus zahllosen Zeitungsartikeln, kulturkritischen Streitschriften, Zeitanalysen, literarischen Essays, erzählerischen Reflexionen. Er war unermüdlich tätig für Hörfunk und Fernsehen, wurde oft geladen zu Vorträgen und Diskussionen. Er war schließlich der Verfasser von – wenn wir richtig zählen – achtzehn Büchern, von denen einige zu relativer (und das heißt im Zeitalter der Massenmedien bemerkenswerter) Bekanntheit gelangten: Jenseits von Schuld und Sühne, Über das Altern, Unmeisterliche Wanderjahre, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod.

Am 17. Oktober 1978 nahm sich Jean Améry in einem Hotelzimmer in Salzburg mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Es war der Tag der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, zu der man ihn erwartete. Nun empfing man die Nachricht von seinem Tod mit respektvoller Erschütterung. Der Betrieb, die Geschäftigkeit, das Geschäft, all diese realen Manifestationen dessen, was Améry den »Glanz-Verfall« genannt hat, ließen ein Innehalten nicht zu. Nachrufe waren zu schreiben und Würdigungen. Und natürlich erinnerte man sich an den »Diskurs über den Freitod«, worin Jean Améry geschrieben hatte: »Der Freitod in seiner Widersprüchlichkeit ist der einzige Weg ins Freie, der uns offensteht. Vielleicht ist der frei gewählte Tod die einzige Chance eines wahrhaft würdigen Sterbens.«

Für Jean Améry bedeuteten diese Sätze gewiss mehr als ein intellektuelles Denk-Spiel. Dass sie ernst gemeint waren, musste im Salzburger Hotelzimmer vom Autor nicht erst bewiesen werden. Erschreckender und entwürdigender Gedanke, dass hier etwas hätte bewiesen werden sollen. Gleichwohl, es schreibt einer nicht umsonst ein Buch über den Freitod. Die Öffentlichkeit, gedankenlos, unbekümmert, sensationsgierig, wollte es anders sehen. Der Freitod wurde durch Schlagwörter in Schlagzeilen verschoben. »Ein Toter auf Abruf« hieß es in einer großen Zeitung. Und schlimmer noch: Das Buch über den Freitod, gewiss ein Indiz der suizidären Disposition des Autors, nahm man für ihre Ursache. Wo allenfalls ein nicht durchschaubarer Zusammenhang bestand, wurde eine direkte Kausalität vermutet und ausgesprochen. So taugte dieser Tod, der als ein freier gewollt war, noch zur Mystifikation. Im »Diskurs über den Freitod« stehen die Sätze: »… worauf es [den Suizidanten] ankommt, ist die je totale und unverwechselbare Einzigartigkeit ihrer Situation, der ›situation vécue‹, die niemals vollkommen mitteilbar ist, so daß also jedesmal, wenn einer stirbt von eigener Hand, oder auch nur zu sterben versucht, ein Schleier fällt, den keiner mehr heben wird, der günstigstenfalls so scharf angeleuchtet werden kann, daß das Auge ein fliehendes Bild erkennt.«

Das aber heißt: Nichts wissen wir wirklich über die »Situation vor dem Absprung«, wie Améry den unbegreiflichen Augenblick genannt hat. Wir können ihn nur, mit Améry, hypothetisch fassen als Erfahrung eines »absurden Freiheitsrausches«, als Akt der Freiheit, der »im doppelten Wortsinne letzte[n] Freiheit«. Als solcher bleibt er abstrakt, es lässt sich kein Zeugnis davon geben. Wohl aber trifft zu, dass ein solcher Tod das Leben, das vorausging, noch einmal blitzartig erhellt. Diese Kausalität, die sich hier, obzwar undurchschaubar, voraussetzen lässt, kann auch durch den »Akt der Freiheit« nicht aufgehoben werden. Hans Mayer, Freund und Kollege Jean Amérys und sein Doppelgänger im Namen, schrieb: »Schlimm aber ist das Allgemeine in diesem sehr besonderen Fall. Jean Améry folgte dem Beispiel von Paul Celan und Peter Szondi. Drei Menschen aus dem Land Kakanien, wie Robert Musil es genannt hat. Drei Juden. Drei Überlebende, die erfahren mußten, was gemeint ist mit jenem wiederkehrenden Vers aus der ›Todesfuge‹: ›der Tod ist ein Meister aus Deutschland‹. Auch Jean ist in Auschwitz gewesen: wie Celan. In Bergen-Belsen: wie Peter Szondi. Sie alle empfanden das Überleben als unerlaubt. Das war zu revidieren. Aber sie haben uns viel geschenkt: Werke und Erinnerungen.«

Wer war Jean Améry? Die Antwort auf die Frage ist durch die Umstände dieses Todes eher schwieriger geworden. Wir können erinnern an sein Leben, seine Bücher, sein Werk, und wir können dadurch – wie es am Ende des »Diskurses über den Freitod« heißt – »gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ«.

So haben wir ihn vor uns: ein kleiner schmächtiger Mann von graziler Beweglichkeit, in den Händen die unvermeidliche Zigarette, französische Marke, die Rede mit energischen Bewegungen der fingergespreizten Hand untermalend. Der Blick unter hängenden Augenlidern konzentriert und gespannt, manchmal müde in sich zurücktretend, dann wieder aufstrahlend in freundlicher Zugewandtheit. Bezwingender Charme, ein wenig hilflos, ein wenig ironisch. Die Zumutungen des Alltags werden spöttisch ignoriert. Niemals ein lautes Wort. Jede Grobheit wie ein Riss in der Welt. Geistesmensch. Umfassende Bildung. Leben in Büchern, Bildern, Filmen, Gesprächen. Aber wie entfesselt am Steuer des Autos. Die Maschine als Werkzeug, nicht als Feindin des Menschen. Fortschrittsglaube und humane Skepsis – beides zugleich. Licht und Dunkel sind hier vermischt wie in dem Jahrhundert, das man das aufgeklärte nennt. Nicht unmöglich, sich auf diesem Kopf die Allongeperücke vorzustellen. Mozart und Voltaire. Die Einheit von Grazie und Dämonie. Klarheit des Geistes, aber eingegraben in die Physiognomie Züge des Leidens, der Verzweiflung.

Als Jean Améry Mitte der sechziger Jahre, sehr spät, als fast Fünfundfünfzigjähriger, auf der literarischen Bühne Westdeutschlands erschien, schrieb Alfred Andersch in einem Aufsatz von der »Rückkehr des Geistes als Person«. Gemeint war nicht der Geist deutscher Provenienz, der Geist Hegels und Heideggers, der reine Geist, der sich Systeme baut und der Faszination eines die Praxis verachtenden Denkens erliegt. Unverkennbar bei Améry war die französische Prägung seines Denkens, ein Denken aus Sensibilität, nervöser Empfindlichkeit, Gereiztheitsreaktionen. Die Form, die es sich suchte, war nicht das System, sondern der Diskurs, seine Methode nicht wissenschaftlich streng, sondern bekenntnishaft und selbstanalytisch. Dies Denken trat hervor in einer klaren, aufhellenden, geschmeidigen Prosa und entfaltete sich vollends in der Form von Amérys glanzvollen Essays.

Der Essay ist eine subjektive Form des Schreibens. Er entwickelt sich spontan und assoziativ, wird belebt durch Phantasie und Intuition, verbindet Erzählung und Analyse, Bericht und spekulative Anstrengung des Begriffs. Wählen wir ein Beispiel. Oder besser: Geben wir Améry selber das Wort – dann wird die Lebendigkeit, die unverwechselbare Diktion seiner essayistischen Prosa mit ihren gelegentlichen Steigerungen ins Pathetische, erkennbar. Und dieses Beispiel soll sogleich hineinführen in ein Hauptthema seines Nachdenkens: die Philosophie des Existentialismus. Für Améry verkörperte sie sich in der Gestalt Jean-Paul Sartres, der für ihn Lehrer und Vorbild war und mit dem er bis zuletzt nicht fertig wurde. Den Rausch der ersten Begegnung mit Sartres Philosophie – denn nichts weniger als ein Rausch war es für ihn wie für viele andere – hat Améry in einem späten Sartre-Essay noch einmal beschworen, auch wenn dieser nun nicht mehr nur von Sartres »Größe«, sondern auch von seinem »Scheitern« handelte.

»Sartre trat nach der Befreiung Frankreichs in den Jahren 1944-1945 ins volle Licht. Wiewohl schon vor dem Kriege seine große Erzählung Der Ekel erschienen war und er während des Krieges sein Drama Die Fliegen mit Erfolg hatte aufführen lassen, wurde er erst nach der Nacht der deutschen Besatzung zu dem, der er viele Jahre hat bleiben sollen. Noch sehe ich, als wär’s gestern gewesen, ihn vor mir, als ich in Brüssel 1945 einem seiner Vorträge beiwohnte: der sehr kleine, aber damals überaus kräftig, ja sogar vierschrötig wirkende Mann, der da aus seinem Buche Was ist Literatur las, machte auf uns alle einen überwältigenden Eindruck. Und was er sagte – nun: es war eben genau das, was die Stunde erforderte. Und damit komme ich zu dem frappierenden Phänomen des Faszinosums Sartre, des erstaunlicherweise sogar in die Breite reichenden Erfolges, schließlich der Sartre-Mode. Woran lag das alles?

Man wird die Antwort nur geben können und nur verstehen, wenn man sich die historische Situation der im Kriege besetzten und 1945 befreiten westeuropäischen Länder vorzustellen trachtet. Der Faschismus, so schien es und so wollte man es glauben, war geschlagen. Die alte Welt, eben jene, die Wirtschaftskrise und Faschismus geboren hatte, war untergegangen. Durchaus fühlte man sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in seinen westlichen Nachbarländern als Kinder der ›Stunde Null‹. Anbruch, Aufbruch, Umbruch, das schien an der Tagesordnung zu sein. In einem Rausch, der von der background-music des wiedergefundenen amerikanischen Jazz begleitet war, arm, aber im Bewußtsein des Triumphs, glaubte man an den Anbruch des Millenniums. Man machte tabula rasa mit der Vergangenheit. Nur noch die Zukunft galt. Die bürgerliche Klasse, zu der sogar de Gaulle, aus dem Exil heimkehrend, gelegentlich einer Zusammenkunft mit Großunternehmern gesagt hatte: ›Wo waren Sie, meine Herren, während wir kämpften?‹ – diese bürgerliche Klasse, die aus panischer Bolschewistenangst politisch auf die Karte Pétain und intellektuell auf den dürftigsten Traditionalismus gesetzt hatte, war im Bewußtsein der Nation unmöglich geworden. ›De la Résistance à la Revolution‹, das war nicht nur das Motto der während der Illegalität von Camus redigierten und nun offen erscheinenden Tageszeitung Combat: es war der Leitspruch der Nation. Wie es schien. Denn schon sammelten sich, bescheiden tuend, aber zähe auf ihre Renaissance aspirierend, die Kräfte von gestern. Aber sie machten sich unsichtbar, und es waren die Männer und Frauen des Aufbruchs in den Morgen, die ihre Stimmen vernehmen ließen. Die Epoche war reif für eine neue Lehre. Und welche konnte dem Geist dieser Tage besser entsprechen als Sartres mit großer Suggestivkraft geschriebene und vorgetragene Botschaft von der Existenz, dem Verurteiltsein zur Freiheit, der Angst und ihrer Überwindung im freien Selbstentwurf des Menschen? Es wies diese Philosophie nach zwei Richtungen: in die Zukunft vor allem, die stets für Sartre die eigentliche Dimension des Menschen war und es bis heute geblieben ist; insofern war sie der Morgenröte, die man zu erblicken glaubte, gemäß. Sie deutete aber auch in die Vergangenheit, allerdings nicht in diejenige der Dritten Republik. Vielmehr rechtfertigte sie post eventum philosophisch die Résistance, denn es war im Widerstand zu jeder Stunde der Mensch vor der Wahl und dem ihr inhärenten, in diesem Falle tödlichen Risiko der Freiheit gestanden.

Nur aus diesem doppelten Aspekt der Sartreschen Philosophie, die vorwärts verwies und zugleich die Situation der unmittelbaren Vergangenheit erhellte, ist ihr unerhörter Erfolg zu verstehen.«

Wie eindringlich, wie fasslich, wie brillant, aber auch wie zutreffend ist das gesehen und beschrieben. Améry ist hier, durchaus im Sartre’schen Sinne, ein Erläuterer von »situations«. Mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht um eine existentialistische Situation im Sinn der Grenzerfahrung handelt, sondern um eine kulturhistorischbiographische Momentaufnahme. Aber sie bekommt, in Amérys Schilderung, das Flair des geschichtlichen Augenblicks: Tiefenschärfe, Genauigkeit, Sinnlichkeit, Atmosphäre. Was macht den großen Essayisten aus?, fragte Alfred Andersch, und er gab die Antwort: »Zuallererst die nicht abreißenden, mutigen, punktuellen Klugheiten, die unabhängig blitzenden Einfälle, die niemals Langeweile aufkommen lassen. Brillanz, ein in Deutschland noch immer verdächtiger Begriff […] Die Brillanz Amérys wirkt niemals angestrengt; zwar ist sie das Ergebnis von Arbeit, aber so, wie sie da steht, ist ihr von Mühe nichts anzumerken. Zwei außerordentliche Seiten über die Widerspiegelung des Monopolkapitalismus in den intellektuellen Metropolen, und danach gleich ein Exkurs über die Schlafstroh-Jugend des Dr. Faustus. Und so durch’s ganze Buch! Langweilig ist das weiß Gott nicht. Es wäre anstrengend, wenn es nicht so inspiriert wäre. Es ist, im allerhöchsten Sinne, amüsant.«

Amüsant »im allerhöchsten Sinne« – auf die Einschränkung ist allerdings Wert zu legen. Denn kaum würde dazu passen, dass Améry in fast allen seinen Büchern das Äußerste nicht gescheut hat. »Von Büchern, wie sie Jean Améry schrieb«, sagte Hans Mayer, »hat ein Leser, der wirklich gemeint war, stets alles zu befürchten.« In dem Essayband Jenseits von Schuld und Sühne, auf den Anderschs Annotationen sich beziehen, beschreibt Améry die Situation des Intellektuellen im Konzentrationslager. Was wäre daran amüsant? Gemeint aber ist, dass der brillante Stil, die glänzende Formulierung, die treffsicheren Einfälle in Verbindung mit dokumentierender Sachlichkeit wahrscheinlich die einzigen Mittel sind, ein solches Thema überhaupt schreibend anzugehen. Bei der Lektüre dieser Bücher müssen wir uns mit menschlichen Extremsituationen und Grenzerfahrungen befassen, die mit Begriffen wie Terror und Folter, Tod und Ausgestoßensein nur unzureichend umschrieben werden können. Dabei »erklären« diese Bücher nichts, und sie machen nicht etwa das Unbegreifliche begreifbarer. Voltaire protestierte gegen das Erdbeben von Lissabon. Aber auch Améry legt Protest ein. Seine Bücher sind Ausdruck einer moralischen und künstlerischen Revolte gegen das ebenso Ungeheuerliche und Unabänderliche, das ihrem Verfasser (und nicht nur ihm allein) widerfahren war. In den ersten Kriegsjahren war Améry Widerstandskämpfer gewesen. Die Begegnung mit Sartre nach dem Krieg bestätigte seine Einsicht, dass er auch als Schriftsteller ein Mann des Protestes, des Aufbegehrens, der Revolte werden musste.

Ein Mann der Revolte war Améry nicht immer, nicht als junger Mensch in Salzburg und Wien. Da war er eher ein Naturschwärmer, ein Waldgänger, ein ästhetisierender Kleinbürger. Er lebte in einem ziemlich rückständigen Alpenland, wurde geprägt durch eine sehr spezifische Form des Provinzialismus. Aber Österreich war nicht nur rückständig und provinziell. Es gab die halbe Modernität der Großstadt Wien, die sozialen Widersprüche, die ersten Anzeichen des klerikal verbrämten Austrofaschismus. Der junge Améry nahm nichts davon wahr, er reduzierte seine Wirklichkeit auf etwas halb Erfahrenes, halb Angelesenes, das er »Landschaft« nannte: »Wald, Berg und Tal, Feldweg, Hohlweg, Holzweg, Feld, Heide, schwarzgezahnte Hügellinie, Sichelmond und Abendstern, gelassen ans Land steigende Nacht, Stifter’scher Waldsteg, grüngolden funkelnde Waldesaugen Peter Hilles, eiserne Nächte des Thomas Glahn, Mühle im grünen Grund, deren man nur selten ansichtig wurde, darüber schwingend die Töne eines Posthorns, das 1930 nur noch auf dem Postkasten der österreichischen Bundespost vorkam, nordischer Birkenwald Jens Peter Jacobsens, wo ein Schuß im Nebel fiel, Wald, schwarz und schweigend stehender, Wald, den Herman Bangs blutarme Nervenschwächlinge durchwanderten, Waldesdunkel, Waldeinsamkeit – Magie der ewig einen Chiffre Wald. […] Du wolltest nichts hören und nichts sehen von der produzierenden, wenn auch schlecht und wenig hervorbringenden Welt, so liefst du in den Wald und gerietest dort in eine Produktionsmaschine anderer Art, die den Untergang der Erde am Geist herstellte, den Geist als Widersacher der Seele, den Feldweg Heidegger’scher Anmaßung: das paßte dir und paßte zu dir.«

So hat Améry es vier Jahrzehnte später in den Unmeisterlichen Wanderjahren beschrieben. Er las viel: Carossa, Binding, Hermannn Stehr, und fischte im Trüben. Er las Trakl, Rilke, Georg Heym, aber sie befreiten ihn nicht aus seiner engen »Landschafts«-Welt. Döblins Berlin Alexanderplatz ließ er halbgelesen liegen. Vielleicht, schrieb er später, war auch dies eine Art von Weigerung, irrationaler Protest gegen eine hässliche Welt, Negation der Negation. Jedoch – »… daß ich auch die Trommeln in der Nacht und bei Tage nicht vernahm, daß das Donnern der Saalschlachten nicht an mein Ohr drang, daß ich die Uniformen nicht sah und nicht die unsäglichen Gesichter des Gelichters, das aufmarschierte mit ruhig festem Schritt – dafür, ich weiß, kann es keinen Pardon geben.«

Als Zwanzigjähriger geht er nach Wien an die Universität, um Philosophie und Literatur zu studieren. Er erwachte wie aus einem Traum und fiel gleich wieder träumerisch in einen anderen. Der Ästhetik des Irrationalismus war er gerade entronnen, und schon verlief er sich in der Ästhetik der Logik. Er nahm teil an den Denkspielen der miteinander rivalisierenden Wiener Philosophenschulen, mehr noch: süchtig wie nach einem Opiat unterwarf er sich dem rationalistischen Zauber des Positivismus. Mit Moritz Schlick, Carnap und Wittgenstein glaubte er sich gewappnet gegen den Faschismus, den er zumindest in seiner österreichischen Spielart als politische Folklore keinen Augenblick ernstnahm und der doch im Begriff war, das halbwegs gemütliche Heimatland in ein ungemütliches Feindesland zu verwandeln.

1938 besetzten die Nationalsozialisten Österreich. Améry musste flüchten aus dem trügerischen Idyll, er war ja Jude. Das hatte bis dahin für ihn kaum eine Rolle gespielt, von nun an konstituierte es seine Existenz. Ohne Geld und Papiere ging es über Köln auf langen Fluchtwegen durch die schneebedeckte Eifel nach Belgien. Dort genoss er – auch dies ein trügerisches Idyll, das Hitlers Armeen zerstörten – knappe zwei Jahre die Freiheit der bürgerlichen Demokratie. »Doch wurde diese«, schrieb er, »vielleicht […] weil ihre trüben Reste noch kenntlich wurden in den hilflosen Versuchen eines Kapitulationsregimes, sich gut faschistisch zu verhalten, mir noch im Versagen zu einem zwar versehrten, aber nicht ganz eliminierbaren Wert.«

Als »feindlicher Ausländer« wird Améry 1940 verhaftet und mit anderen Deutschen und Juden in das Lager Gurs in den französischen Pyrenäen gebracht. Keineswegs ein Konzentrationslager. »Die Franzosen ließen uns friedlich im Dreck verrecken, ohne uns weiter zu behelligen.« Nach fast einem Jahr aus dem Lager ausgebrochen, schleicht er zurück auf langen Wegen nach Belgien, wo seine Frau auf ihn wartet und wo er alsbald – wir schreiben das Jahr 1941 – in eine kommunistisch geführte Widerstandsgruppe eintritt. Im Lager Gurs hat er erlebt, was Sartre später den »Augenblick der Freiheit« nennen sollte. Das Erlebnis geht hervor aus der bitteren, doch unabweisbaren Erkenntnis seines persönlichen Versagens, das ein Teil des allgemeinen Debakels war: »Das Debakel, wenn er jetzt in Gurs 1941 rückblickend die Geschichte und seine Geschichte ins Auge faßte, war geisterhaft schon immer da gewesen. Debakel, die deutsche Waldverlorenheit, in der er weder sich noch die Welt hat finden können; Debakel, die Flucht in einen logischen Aufbau der Welt, der wohlgefügt sein mochte oder nicht, was ging’s ihn an, dessen Logik in marmorner Hoheit und Blässe hinweggesehen hatte über Furcht und Zittern, Grauen und Grausamkeit; Debakel schließlich, die Begegnung mit einer neuen Welt, die als gesellschaftliches Humanum sich affirmierte (und durchaus ihm auch als ein solches praktisch gegenwärtig wurde) zu einer Zeit, da sie schon im Begriffe stand, die Waffen zu strecken, aufatmend in fauler Komplizität mit niedrigster Niedertracht. […] Unleugbar haben die Kommunisten, gegen die du dich aus barem bürgerlichem Hochmut, dazu aus unentschuldbarer Kenntnislosigkeit sperrtest, wenn schon nicht klüger, so jedenfalls authentischer gehandelt als du. Die Inauthentizität deines als geistiger Widerstand subjektiv erfahrenen Verhaltens lag nicht nur in deiner Furcht – oder gar Feigheit? – angesichts der Forderung zu handeln; sie war auch dein intellektuelles Debakel. […] Du warst inauthentisch nicht nur als Flüchtling aus der Tat, sondern auch als Feigling vor dem Wort. Den intellektuellen Komfort, den du fandest im Kreise, wolltest du nicht stören lassen. Die Illusion einer Volksfront, la grande illusion des Antifaschismus hättest du zumindest als Illusion in ihrer Totalität denken müssen. […] Jenseits [deiner Zweifel] mußt zu erkennen und anerkennen, daß es Epochen gibt, in denen man geschichtlich da sein muß, um moralisch zu existieren.«

1943 wurde Améry wegen »Zersetzung der Wehrkraft« von der Gestapo neuerlich verhaftet. Er wurde in das berüchtigte Fort Breendonk, auf halbem Weg zwischen Brüssel und Antwerpen, eingeliefert, wo er, gefesselt auf dem Steinboden, sechs Monate in Einzelhaft zubrachte. Von dort wurde er weitergeführt in verschiedene Konzentrationslager, darunter Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, wo ihn die Engländer im April 1945 befreiten. Er ging zurück nach Belgien, empfand es als Schicksalsirrtum, noch am Leben zu sein, war er doch über Berge von Leichen und Kadavern gestiegen. Ohne die ständige Nachbarschaft mit dem Tode, sagte er später in einem Interview, hätte er sich wahrscheinlich niemals die existentiellen und, im engeren Sinn, existentialistischen Fragen gestellt, wie er sie sich später stellte.

Die sechshundertsiebenundvierzig Tage in den Konzentrationslagern, die sechs Monate in Fort Breendonk wurden zur zentralen Erfahrung in der Biographie Jean Amérys. Und sie sind auch die Achse seiner spirituellen Autobiographie. Allerdings dauerte es fast zwanzig Jahre, bis Améry 1964, im Anblick des großen Auschwitz-Prozesses, daranging, die Situation zu untersuchen, die ihn selbst konstituiert hatte: die des Intellektuellen im Konzentrationslager. Es entstand das Buch Jenseits von Schuld und Sühne.

Améry selbst hat die Niederschrift des Buches als »Katharsis« bezeichnet: alles Verdrängte kam wieder hoch und wurde nun geistig durchgearbeitet. Er entdeckte, dass zwar manches schon bedacht, aber viel zu wenig klar artikuliert worden war. Und auch ihm entschleierte sich erst beim Schreiben, was er vorher nur in einer halbbewussten, »an der Schwelle des sprachlichen Ausdrucks zögernden Denkträumerei«, undeutlich erschaut hatte. Ohne die ersten Kapitel dieses Buchs kann fast nichts von dem, was Améry sonst und später geschrieben hat, wirklich verstanden werden.

»Wenn man von der Tortur spricht, muß man sich hüten, den Mund voll zu nehmen. Was mir in dem unsäglichen Gewölbe in Breendonk zugefügt wurde, war bei weitem nicht die schlimmste Form der Folter. Mir hat man keine glühenden Nadeln unter die Fingernägel getrieben, noch hat man auf meiner nackten Brust brennende Zigarren ausgedrückt. […] Und doch wage ich, zweiundzwanzig Jahre nachdem es geschah, auf Grund einer Erfahrung, die das ganze Maß des Möglichen keineswegs auslotete, die Behauptung: Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.«

Amérys Buch ist ein Bericht. Der Autor klagt nicht an, er versucht auch nicht eigentlich etwas zu erklären. Er beschreibt und erwägt, und zwar, wie der Titel sagt, »jenseits von Schuld und Sühne«. Untersucht wird die innere Befindlichkeit dessen, der zum Opfer wird. Der sich weigert, dem Opfer einen religiösen oder politischen Sinn zu geben. Jede Form von Überhöhung lehnt Améry ab. Alfred Andersch bemerkte: »Überlebt haben die Tortur und ihre Steigerung in den Genozid bekanntlich nur ein paar Tausende von Millionen. Von diesen Tausenden haben einige wenige über ihre Erfahrungen berichtet. In ihren Berichten wird die Beschreibung der konkret auf die Person bezogenen Tortur fast immer ausgespart; der Schreiber benennt sie zwar, spricht zwar von der Folter, quasi abstrakt, als spräche er von einer Gattung des Terrors, schildert auch Folterungsmethoden, hält aber dann inne, als bestehe zwischen ihm und dem Leser eine geheime Abmachung, die es ihm verbietet, dem Zuschauer das Schauspiel der letzten und vollständigen Erniedrigung zuzumuten. Tatsächlich besteht eine solche Vereinbarung, in der ein Tabu gebrochen wird, aus vielen Gründen, darunter ganz leicht einzusehenden; beispielsweise sagt man sich, daß einem, dem das Wort ›Folter‹ als Benennung einer Sache nicht genügt, ohnehin nicht mehr zu helfen ist. Améry muß dieses Tabu brechen. Er muß das Erlebnis genau berichten – wozu ihm übrigens 33 Druckzeilen genügen –, weil er sein Leben an ihm mißt. Sein Leben – das Leben eines Intellektuellen, eines Menschen, dessen Seinsweise ein geistiger Prozeß ist. Da er der absoluten personalen Entwürdigung ausgesetzt war – ein Geschehnis, das alles, was privates, persönliches Leben sein könnte, ausgelöscht, mindestens gänzlich in den Hintergrund gedrängt hat –, wird die Frage, was angesichts einer solchen Szene noch besteht, lebt, ›trägt‹, zum einzigen Thema des Überlebenden.«

»Im Bunker hing von der Gewölbedecke eine oben in einer Rolle laufende Kette, die am unteren Ende einen starken, geschwungenen Eisenhaken trug. Man führte mich an das Gerät. Der Haken griff in die Fessel, die hinter meinem Rücken meine Hände zusammenhielt. Dann zog man die Kette mit mir auf, bis ich etwa einen Meter hoch über dem Boden hing. Man kann sich in solcher Stellung oder solcher Hängung an den hinterm Rücken gefesselten Händen eine sehr kurze Weile mit Muskelkraft in der Halbschräge halten. Man wird, während dieser wenigen Minuten, wenn man bereits die äußerste Kraft verausgabt, wenn schon der Schweiß auf Stirn und Lippen steht und der Atem keucht, keine Frage beantworten. Komplizen? Adressen? Treffpunkte? Das vernimmt man kaum. Das in einem einzigen, engbegrenzten Körperbereich, nämlich in den Schultergelenken, gesammelte Leben reagiert nicht, denn es erschöpft sich ganz und gar im Kraftaufwand. Nur kann dieser auch bei physisch kräftig konstituierten Leuten nicht lange währen. Was mich betrifft, so mußte ich ziemlich schnell aufgeben. Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser Stunde nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Die Kugeln sprangen aus den Pfannen. Das eigene Körpergewicht bewirkte Luxation, ich fiel ins Leere und hing nun an den ausgerenkten, von hinten hochgerissenen und über dem Kopf nunmehr verdreht geschlossenen Armen. Tortur, vom lateinischen torquere, verrenken: Welch ein etymologischer Anschauungsunterricht. Dazu prasselten die Hiebe mit dem Ochsenziemer auf meinen Körper, und mancher von ihnen schnitt glatt die dünne Sommerhose durch, die ich an diesem 23. Juli 1943 trug.«

Wie lebt einer weiter mit dieser Erfahrung? Natürlich war der Versuch, sie schreibend zu fixieren, auch ein Bewältigungsversuch. Améry selbst hat von Katharsis gesprochen. Und auch Axel Eggebrecht hat in seiner Laudatio auf den Lessing-Preisträger gemeint, Améry habe sich durch sein Schreiben und seine geistige Überlegenheit »von Grund auf erneuert«. Die Frage bleibt dennoch, ob der Akt der Selbstbefreiung wirklich gelingen kann. Améry bekennt sich in Jenseits von Schuld und Sühne als ein »Überwältigter«, dem das natürliche, jedem Menschen eingeborene »Weltvertrauen« in der Tortur einstürzte. Wie lässt es sich wiedergewinnen?

Mit dieser Frage rühren wir zwangsläufig an das Verhältnis Amérys zu Deutschland und den Deutschen. Denn was ihm, dem Opfer, widerfahren war, war ihm von deutschen Tätern und im deutschen Namen widerfahren. Deutschland – »Schicksalsland, wo die einen ewig im Licht stehen und die anderen ewig im Dunkel«. Als Sprach- und Bildungsraum war dieses Land Amérys Heimat und blieb es bis zum Ende. Aber er zog es vor, nach 1945 im belgischen Exil zu leben, er wählte einen französischen Namen, vermied es lange, in die Bundesrepublik zu reisen, schrieb, fast zwanzig Jahre lang, nicht für Deutsche in deutscher Sprache. Es waren dies, wenn man so will, »Ressentiments« – Améry hat es so genannt. Aber Ressentiment meint hier nicht ein moralisch verwerfliches Rachegelüst oder einen unaufgearbeiteten Konflikt im Sinne der Psychoanalyse. Dieses Ressentiment, schrieb er, »nagelt jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit.«

Die Eruption des radikal Bösen in Nazi-Deutschland in seiner inneren Logik und fürchterlichen Rationalität erschien Améry als weltgeschichtlich singulär und irreduktibel. Nazi-Deutschland war für ihn nicht irgendein Folterregime, wie es vorher und nachher andere gab. »Die Folter«, so steht es in Jenseits von Schuld und Sühne, »war keine Erfindung des Nationalsozialismus. Aber sie war seine Apotheose.« Zwar wollte Améry nicht von Kollektivschuld sprechen, aber er misstraute auch einer allzu bereitwilligen Versöhnlichkeit, die ihm subjektiv fast immer dubios und objektiv geschichtsfeindlich erschien. Die individuelle Schuld einzelner, vieler einzelner Deutscher – als Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld – addierte sich für ihn zur Gesamtschuld eines Volkes. Gesamtschuld im Sinne moralischer Verantwortung und der Anerkenntnis historischer Schuldigkeit. Nur die Deutschen selber, schrieb er, würden Hitler »zurücknehmen« können: »Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung und damit nach Moralisierung der Geschichte. Die Forderung, erhoben vom deutschen, dem eigentlich siegreichen und von der Zeit schon wieder rehabilitierten Volke, hätte ein ungeheures Gewicht, schwer genug, daß sie damit auch schon erfüllt wäre. Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen. Und am Ende wäre wirklich für Deutschland das erreicht, wozu das Volk einst nicht die Kraft oder nicht den Willen hatte und was später im politischen Mächtespiel als nicht mehr bestandsnötig hat erscheinen müssen: die Auslöschung der Schande.«

Dies war Amérys Utopie, eine immer noch uneingelöste Utopie. Er selbst musste dies bei seinen »Expeditionen jenseits des Rheins« erkennen. »Ich kam, sah, verlor«, bemerkte er mehr verwundert als verbittert. »Die Deutschen, abgesprungen aus dem Nichts, hatten im Sprunge schon hinweggesetzt nicht nur über ihre scheußliche Jüngstvergangenheit, sondern auch über deren von den Exilierten verkörperte Negation.« Der Besucher aus Belgien kam, wie es schien, in ein anderes Land. Er sah Fabriken und Autobahnen, Geschäftstüchtigkeit und neuen Reichtum, sogar demokratische Stabilität, weltläufigen Chic und linksintellektuelle Geistigkeit. Staunend fuhr er durch ein blühendes Land, in dem er sich nicht wohlfühlte: »Was der Emigrant ersehnt und vernünftig erhofft hatte«, schrieb er, »war ausgeblieben … Das einzige Deutschland, das er je gekannt hatte, das Bildungsdeutschland der Zeit vor 1933, entzog sich ihm … Ein Ich, das keine Orientierungspunkte mehr fand, suchte verstört sich selber: eine Hotelunterkunft war alles, worauf noch zu hoffen war.«

In Deutschland, das vor der eigenen Geschichte flüchtete, wurde Améry dann doch noch einmal von der Vergangenheit eingeholt. Hier konnte es geschehen, am 8. Januar 1977, dass er in Gummersbach anlässlich einer Tagung mit seinem höchsten Konzentrationslager-Vorgesetzten, dem vormaligen Rüstungsminister Albert Speer, am selben Podiumstisch saß. Man war gekommen, um über Hitler zu diskutieren –»damals und heute«. Der Reichsminister a. D. wurde mit höflichem Beifall begrüßt, der frühere KZ-Häftling auch. Jean Améry sprach und dann auch Albert Speer, und es war, wie es immer gewesen war und als sei die Geschichte stillgestanden.

»Ich hatte nicht die Absicht, mich mit Herrn Exminister Speer auseinanderzusetzen. Es war schon eine Inkonsequenz, daß ich hierher gekommen bin; aber manchmal ist es falsch, allzu konsequent zu sein. Wenn ich die eine Inkonsequenz begangen habe, will ich nun schon die zweite begehen. – Wie war denn das, als ich 44 im Lager Dora Nord, es war ein Außenkommando von Buchenwald, ein unterirdischer Stollen, der in die Erde gegraben wurde, wo die V1 und V2 erzeugt wurden und wo man dann gelegentlich auch Russen, weil sie angeblich das Zeug sabotiert hatten, an Drahtseilen hängen sah. Eines Tages wurden wir nun dort in die Blocks gejagt, und es hieß, es sei der Rüstungsminister da zur Inspektion. Ich weiß nicht, ob er da war, ich kann das nicht beurteilen. Das höchste für uns war schon ein Oberscharführer, eine Art Leutnant. Es wäre ja ganz unmöglich gewesen, da irgendeine Verbindung zu haben, um zu wissen, ob nun dieser Herr wirklich dort war. Aber auch wenn er dort nicht war, an diesem Tag, als wir in die Blocks gejagt wurden, dann muß er gewußt haben, unter welchen Umständen die Sklavenarbeiter, nicht nur die Sklavenarbeiter, auch die sogenannten Ostarbeiter, wie sie damals hießen, dort gearbeitet haben, und wie es dazu kam, daß wir dann kurz nach der Evakuierung von Dora über die – na, Leichenberge von Kameraden steigen mußten. Er mußte ja diese Skelette, wenn er sie nicht gesehen hat, er muß doch von diesen Skeletten mindestens gehört haben. Ist ihm denn damals nicht ein Licht aufgegangen? Das ist für mich das Ungeheuerliche. Und darum kann ich auch eine späte Sühne, die noch dazu zweideutig genug ist, denn sie ist zugleich eine Verharmlosung und bis zu einem gewissen Grad fast eine Rechtfertigung, nicht akzeptieren, und hätte es lieber gesehen, wenn mein damaliger Vorgesetzter geschwiegen hätte und das mit sich allein abgemacht hätte oder mit seinem Gott, sofern er einen hat.«

(Speer) »Ich glaube … die Einstellung von Herrn Améry zu mir ist in manchen Dingen nicht begründet. Der Nürnberger Prozeß war zweifellos ein scharfes Gericht, und in diesem Nürnberger Prozeß ist in meinem Urteil festgestellt, daß ich nicht verantwortlich bin für die Grausamkeiten, die während der Regierung Hitlers bestanden. Ich war in der Tat nicht verantwortlich für die Zustände in Dora, ich war auch nicht in diesem Sinn der Vorgesetzte der Konzentrationslager-Häftlinge, auch nicht der höchste Vorgesetzte. Ich habe allerdings im Dezember 1944 erfahren, daß die Unterbringungsmöglichkeiten der Häftlinge sehr ungenügend sind, und ich ging persönlich dorthin, um zu sehen, was ist, und habe dann die Mittel zur Verfügung gestellt, damit außerhalb – nicht in den Höhlen, sondern außerhalb – Barackenlager errichtet werden … Das war eine Sache, die ich getan habe – allerdings, ganz offen gesagt, um die Produktion nicht zu gefährden. In einem Bericht von Bartels von der Humboldt-Universität über A 4 sind die Zahlen erwähnt: es hat die Sterblichkeit in diesem Lager danach sehr abgenommen und war bei dreißigtausend Häftlingen nur noch – ›nur noch‹ ist paradox selbstverständlich – hundert … Im September 1944 habe ich Hitler geschrieben, daß ich mich nur so lange in meiner Arbeit wohlfühle, als sie als unpolitisch betrachtet wird. Das ist natürlich auch wieder paradox, aber es gehört zu der Geschichte dazu, daß ich damals allen Ernstes glaubte, daß ich nicht politisch tätig bin, sondern als Rüstungsminister nur fachlich tätig bin.«

Es waren Erfahrungen dieser Art, die es Jean Améry unmöglich machten, mit seinem Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen ins Klare zu kommen. Nicht die Opfer sah er begnadigt, sondern die Henker; das unter der Tortur eingestürzte Weltvertrauen fand er nicht wieder. In Jenseits von Schuld und Sühne