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Richard de Fournival
Das Liebesbestiarium

Richard de Fournival
Das Liebesbestiarium

Aus dem Französischen
des 13. Jahrhunderts
übertragen und mit einem Essay
von Ralph Dutli

 

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Hier beginnt
Meister Richard de Fournivals
Liebesbestiarium

 

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Keiner weiß alles

Alle Menschen verlangt es von Natur aus nach Wissen.

Da aber niemand alles zu wissen vermag, auch wenn jede Sache für sich genommen gewusst werden kann, ist es notwendig, dass jeder Einzelne das Wissen von einer bestimmten Sache besitze.

Und was der eine nicht weiß, muss eben ein anderer wissen: So dass alles und jedes gewusst werden kann, es aber keinen einzigen Menschen gibt, der alles weiß, sondern sämtliches Wissen unter allen Menschen aufgeteilt ist.

Aber nicht alle Menschen leben ja zur selben Zeit, die einen sind tot, bevor die anderen geboren werden.

Und jene, die in längst vergangenen Zeiten lebten, wussten Dinge, die kein heute Lebender mehr weiß, und man wüsste sie nicht, wenn nicht die Alten uns ihr Wissen übermittelt hätten.

Das Haus des Gedächtnisses: Bild und Wort

Aus diesem Grunde hat Gott, der den Menschen so sehr liebt, dass er ihn mit allem Notwendigen ausstatten will, dem Menschen eine besondere Seelenkraft gegeben, die man das Gedächtnis nennt.

Dieses Gedächtnis hat zwei Türen, Sehsinn und Gehörssinn, und zu jeder dieser beiden Türen führt ein Weg, nämlich Bild und Wort.

Das Bild dient dem Auge, und das Wort dient dem Ohr.

Und wie es möglich ist, ins Haus des Gedächtnisses sowohl durch das Bild als durch das Wort zu gelangen, ist auch offenbar, dass das Gedächtnis, das all die Schätze hütet, die der menschliche Geist kraft seiner besonderen Fähigkeit sich aneignet, die Vergangenheit so vergegenwärtigt, als sei sie Gegenwart.

Aus Vergangenheit wird Gegenwart

Und man gelangt zu demselben Ergebnis durch das Bild wie durch das Wort.

Denn wenn man in einem Bild eine Geschichte dargestellt sieht, ob es sich etwa um jene Trojas handle oder um eine andere, nimmt man teil an den kühnen Taten der tapferen Männer, die in fernen Zeiten lebten, so als ob sie lebendig vor unseren Augen stünden.

Dasselbe gilt für das Wort. Wenn man einen Roman vorgelesen bekommt, erfährt man all die Heldentaten genau so, als ob sie sich vor unseren Augen abspielen würden.

Und da man durch diese beiden Dinge – Bild und Wort – gegenwärtig machen kann, was längst vergangen ist, wird offenbar, dass man auf beiden Wegen Zugang zum Gedächtnis findet.

Die Narbe bleibt

Was mich betrifft, ist es so, dass Ihr, allerliebste schöne Freundin, aus meinem Gedächtnis nicht entschwinden könnt, ohne dass eine Spur der Liebe, die ich für Euch empfinde, für immer zurückbleibt.

So dass ich nie ganz davon werde genesen können und zumindest eine Narbe von der Wunde bleiben wird, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, meine Gefühle zu beherrschen …

Ich möchte also meinerseits für allezeit in Eurem Gedächtnis bleiben, falls es möglich ist.

Eine Schrift aus Bildern und Worten

Aus diesem Grunde schicke ich Euch zwei zu einer Sache vereinigte Dinge: Ich schicke Euch in dieser Schrift zugleich Bild und Wort, damit ich, auch wenn ich nicht vor Euren Augen stehe, durch die Bilder und Worte aus Eurem Gedächtnis auftauchen kann, als ob ich ganz gegenwärtig wäre.

Ich werde Euch zeigen, auf welche Weise diese Schrift zugleich Bild und Wort ist.

Es ist offensichtlich, dass sie Worte enthält, da jede Schrift so beschaffen ist, dass ihr Worte entspringen, wenn man sie mit lauter Stimme liest.

Und wenn man sie liest, findet sie also zu ihrer Wortnatur zurück.

Und andererseits ist es offensichtlich, dass diese Schrift Bilder enthält, denn es ist undenkbar, dass ein Buchstabe nicht auch gemalt ist.

Das letzte Aufgebot

Vor allem handelt diese Schrift von einem Gegenstand, der die Bilder geradezu erfordert, denn sie betrifft die Natur der Tiere und der Vögel, die man besser durch Abbildung als durch Beschreibung erkennen kann.

Aber diese Schrift ist auch ein letztes Aufgebot nach all jenen anderen, die ich Euch bisher geschickt habe.

Es ist genau wie bei dem König, der außerhalb seines Königreiches in den Krieg zieht und einige seiner besten Männer mit sich nimmt, den größeren Teil aber zurücklässt, um sein Reich zu schützen.

Wenn er jedoch sieht, dass seine mitgeführten Streitkräfte nicht ausreichen, bietet er all jene auf, die er zurückgelassen hat, und ruft den Heerbann aus.

Genau das muss auch ich tun.

Denn ich habe Euch so manche schönen Worte gesagt und geschickt, und wenn sie mir nicht den Dienst geleistet haben, den ich von ihnen erwartet hatte, muss ich also aus dieser meiner letzten Schrift meinen Heerbann, mein letztes Aufgebot bilden.

Und ich muss so gut sprechen, wie ich nur kann, um sicherzugehen, dass Ihr es mit Wohlgefallen hören werdet.

Denn selbst wenn das Unglück es will, dass Ihr mich nicht liebt, so sind es doch zwei Dinge, die zu sehen den Augen große Freude bereitet, die zu erinnern das Gedächtnis entzückt, die zu hören die Ohren erfreut.

Und da diese Schrift meinen Heerbann und meine letzte Verstärkung bildet, die ich entsenden kann, muss ich noch kraftvoller sprechen als bei allen vorangegangenen Versuchen.

Solcherart ist auch, sagt man, die Natur des Hahns.

Der Hahn

Je näher Abenddämmerung oder Morgengrauen kommen, desto öfter kräht er.

Und je näher die Mitternacht heranrückt, desto kraftvoller kräht er und lässt seine Stimme mächtig anschwellen.

Abenddämmerung und Morgengrauen sind jene Zeiten, wo Tag und Nacht sich mischen.

Sie bedeuten eine Liebe, die zwar keine große Hoffnung lässt, an der man aber nicht ganz und gar verzweifelt.

Mitternacht aber bedeutet die Liebe in völliger Verzweiflung.

Und da ich fortan keine Hoffnung der Welt mehr habe, Euer Wohlwollen zu gewinnen, herrscht für mich Mitternacht.

Als ich noch ein wenig Hoffnung hatte, stand ich in der Dämmerung, und ich musste also häufiger singen.

Jetzt aber muss ich kraftvoller krähen.

Der Beweis dafür, dass der Verzweifelte eine mächtigere Stimme hat, liegt, so glaube ich, in der Natur des Tieres, das am lautesten auf der Welt zu brüllen vermag und die hässlichste und abscheulichste Stimme besitzt. Es ist der Wildesel.

Der Wildesel

Seine Natur ist solcherart, dass er nur brüllt, wenn er ganz schrecklichen Hunger hat und nirgendwo etwas zu essen finden kann.

Dann fängt er mit derartiger Heftigkeit zu brüllen an, dass er all seine Organe zum Bersten bringt.

Genauso muss ich mir, wenn ich bei Euch keine Gnade finden kann, größere Mühe geben denn je, nicht etwa lauter zu singen, sondern mit stärkerer Überzeugungskraft zu reden.

Denn es ist normal, dass ich meine Fähigkeit zu singen verloren habe, und ich sage Euch gleich, warum.

Der Wolf

Die Natur des Wolfes ist solcherart, dass wenn ein Mann den Wolf sieht, bevor der ihn gesehen hat, der Wolf seine ganze Kraft und Kühnheit verliert.

Wenn aber der Wolf den Mann zuerst sieht, verliert letzterer seine Stimme, so dass er kein einziges Wort mehr hervorbringen kann.

Genau diese Natur findet man in der Liebe zwischen Mann und Frau wieder.

Wenn zwischen ihnen Liebe entsteht, geht das folgendermaßen vor sich:

Wenn der Mann als erster am Verhalten der Frau erkennt, dass diese ihn liebt, und er so geschickt ist, sie dahin zu bringen, es anzuerkennen, wird sie jede Kraft verlieren, ihm eine Absage zu erteilen.

Doch da ich weder Geduld noch die nötige Selbstbeherrschung hatte und Euch den Grund meines Herzens offenbarte, bevor ich irgend etwas von Euren Gefühlen wusste, habt Ihr Euch mir entzogen.

So ist es doch, ich habe es Euch mehr als einmal sagen hören.

Und da ich als erster gesehen wurde, musste ich gemäß der Natur des Wolfes meine Stimme verlieren.

Das ist einer der Gründe, weshalb diese Schrift nicht gesungen, sondern erzählt wird.

Ein anderer Grund liegt in der Natur der Grille, die ich sehr aufmerksam beobachtet habe.

Die Grille

Denn die Grille liebt ihren Gesang so sehr, dass sie daran zugrunde geht, weil sie jeden Appetit verliert und völlig vergisst, auf Beutefang zu gehen.

Durch ihr Beispiel ist mir klargeworden, dass mein Gesang mir nicht von Vorteil sein konnte, dass ich, wenn ich mich zu sehr auf ihn verließ, meinen eigenen Untergang provozieren würde, und dass der Gesang mir dann keinerlei Hilfe böte.

Ich habe es daran erkennen können, dass genau in dem Moment, als ich am besten sang und singend am besten redete, meine Lage am schlimmsten war. Genau so ergeht es dem Schwan.

Der Schwan

Es gibt ein Land, wo die Schwäne so schön und so gern singen, dass sie, wenn man vor ihnen Harfe spielt, ihre Stimme darauf einstimmen wie ein Tamburin auf die Flöte, und zwar besonders in ihrem Todesjahr.

Man sagt sogar, wenn man einen hört, der besonders schön singt: »Er wird noch dieses Jahr sterben.«

Genau wie man von einem Kind sagt, das besonders begabt ist: »Es wird wohl nicht lange leben.«

Deshalb sage ich Euch, dass ich fürchtete, wie ein Schwan zu sterben, als ich am schönsten sang, und wie eine Grille zugrunde zu gehen, als ich meine Stimme am liebsten erklingen ließ.

Das ist der Grund, weshalb ich das Singen aufgegeben habe, um mein letztes Aufgebot zu versammeln und Euch als Ersatz für den Gesang nun diese Schrift zu senden.

Denn ich konnte ja nicht anders als meine Stimme verlieren, weil der Wolf mich zuerst gesehen hatte, das heißt, ich habe zu erkennen gegeben, dass ich Euch liebe, bevor ich wusste, wohin es mich führen würde.

O je! Wie oft habe ich es schon bereut, dass ich Euch meine Bitten um Liebe habe zukommen lassen, denn ich habe damit Eure angenehme Gesellschaft verloren.

Der Hund

Wenn ich so hätte handeln können wie der Hund, dessen Natur solcherart ist, dass er, wenn er erbrochen hat, zu seinem Erbrochenen zurückkehrt und es noch einmal auffrisst, hätte ich gerne meine Bitte um Liebe hundertmal heruntergeschluckt, seitdem sie mir von den Lippen flog.

Und wundert Euch nicht, dass ich die Frau mit der Natur des Wolfes verglichen habe.

Noch einmal: Der Wolf

Denn der Wolf hat noch andere Eigenheiten, die ihrer Liebe noch ähnlicher sind.

Die eine besteht darin, dass sein Hals so starr ist, dass er sich nicht umdrehen kann, ohne zugleich den ganzen Körper zu drehen.

Und eine andere Eigenheit besteht darin, dass er nie in der Nähe seines Wolfsbaus Beute schlägt.

Und eine dritte Eigenheit ist die, dass er, wenn er in einen Schafstall eindringt, es so leise tut wie nur möglich.

Und wenn ein Ästchen unter seiner Pfote bricht und ein Geräusch verursacht, rächt er sich an seiner Pfote und fügt ihr einen schmerzhaften Biss zu.

Alle drei Eigenheiten finden sich vereint in der Liebe einer Frau.

Denn sie kann sich nicht schenken, ohne sich ganz hinzugeben; das ist ihre erste Eigenheit.

Und die zweite besteht darin, dass sie einen Mann umso heftiger liebt, je weiter er von ihr entfernt ist, und wenn er ganz nah ist, tut sie nicht dergleichen.

Und ihre dritte Eigenheit ist die, dass sie, wenn sie sich in Worten so weit vorgewagt hat, dass der Mann erkennt, dass sie ihn liebt, sich genau wie der Wolf mit den Zähnen an der eigenen Pfote rächt und mit einer Flut von Worten verdecken und bemänteln will, dass sie bereits zu weit gegangen ist.

Denn sie will sehr wohl vom anderen wissen, was sie nicht will, dass man es von ihr weiß.

Und sie weiß sich ganz gut bedeckt zu halten gegenüber einem Mann, von dem sie glaubt, dass er sie liebe.

Die Viper

Sie handelt genau wie die Viper, deren Natur solcherart ist, dass sie, wenn sie einen nackten Mann sieht, sich vor ihm fürchtet und flieht, so schnell sie nur kann.

Wenn sie ihn aber bekleidet sieht, greift sie ihn ohne jede Furcht an.

Genau so habt Ihr Euch mir gegenüber verhalten, allerliebste schöne Freundin, denn als ich Euch kennenlernte, fand ich Euch von angenehmem Umgang, nur ein wenig zurückhaltend, wie es sich gehört, als ob Ihr Euch gefürchtet hättet, weil unsere Bekanntschaft so neu war.

Aber als Ihr wusstet, dass ich Euch liebe, habt Ihr Euch so grausam stolz gezeigt, wie es Euch gerade passte, und mich mit zahlreichen Worten attackiert.

Die neue Bekanntschaft kann mit dem nackten Mann verglichen werden, die bestätigte Liebe aber mit dem bekleideten Mann.

Denn wie ein Mensch nackt geboren wird und sich bekleidet, wenn er größer ist und Gewicht zugelegt hat, genau so ist er bei der ersten Bekanntschaft nackt und bloß von Liebe und ungeschützt, so dass er es wagt, den Grund seines Herzens zu offenbaren.

Aber wenn er dann liebt, ist er ganz und gar eingehüllt, so dass er nicht mehr herausfindet, und so völlig bedeckt, dass er seine Gedanken nicht mehr zu offenbaren wagt.

Nun hat er immerzu Angst, man könnte ihn tadeln. Er steckt in der Falle wie der beschuhte Affe.

Der Affe

Denn die Natur des Affen ist solcherart, dass er alles nachmacht, was er einen anderen ausführen sieht.

Die gewitzten Jäger, die ihn mit einer List fangen wollen, wählen einen Ort aus, der für den Affen gut einsehbar ist.

Dort ziehen sie sich Schuhe an und dann wieder aus, so dass er es sehen kann, gehen weg und lassen ein Paar Schuhe zurück, die dem Affen passen könnten.

Sie verstecken sich in der Nähe und legen sich auf die Lauer.

Jetzt kommt der Affe herbei und will genau das nachmachen, was er vorgeführt bekommen hat.

Er nimmt die Schuhe und zieht sie sich an – zu seinem Unglück.

Denn bevor er sie wieder ausziehen kann, springen die Jäger auf und laufen zu ihm hin, und der beschuhte Affe kann weder fliehen noch auf einen Baum klettern.

So wird er gefangen.

Dieses Beispiel bestätigt erneut, dass man den nackten Mann mit demjenigen vergleichen muss, der nicht liebt, und den bekleideten Mann mit dem, der liebt.

Denn genau wie der Affe frei ist, solange er auf bloßen Füßen geht, und nicht gefangen werden kann, bevor er sich die Schuhe anzieht, genau so ist der Mann kein Gefangener, solange er nicht aus wahrer Liebe liebt.

Dieses Beispiel bestätigt jenes der Viper.

In beiden Fällen erkenne ich klar den Grund, weshalb Ihr mir gegenüber ein weniger freundliches Gesicht aufgesetzt habt, sobald Ihr wusstet, dass ich Euch liebe:

Weil der Affe nicht gefangen werden kann, bevor er sich Schuhe anzieht, und ebenso, weil die Viper den Mann nur angreift, wenn sie ihn bekleidet sieht.

Aber mir scheint, Ihr hättet genau das Gegenteil tun sollen: Ich hätte ein freundlicheres Gesicht sehen sollen, als Ihr mich mit Eurer Liebe bekleidet saht, als damals, als ich noch nackt und bloß von ihr war.

Der Rabe

Denn die Natur des Raben ist solcherart, dass er seinen noch federlosen Rabenjungen, weil sie nicht schwarz sind und ihm nicht gleichen, nicht den geringsten Blick zuwirft und sie nicht füttert.

Sie leben also vom Tau, bis sie von Federn bedeckt sind und ihrem Vater gleichen.

Mir scheint, dass Ihr genau so hättet handeln sollen, allerliebste schöne Freundin: Als ich von Eurer Liebe nackt und bloß war, hättet Ihr Euch nicht um mich kümmern sollen.

Und als ich dann von ihr bekleidet war, so dass ich Euer aufgenähtes Wappen hätte tragen können, hättet Ihr mich innig lieben und meine Liebe zu Euch nähren sollen, auch wenn sie noch zart und neu war, wie man einen Säugling mit dem kleinen Finger füttert.

Und in Eurer Liebe hätte sich eher die Natur des Raben finden sollen als jene der Viper oder des Affen.

Denn der Rabe hat noch eine andere Eigenheit, die mehr als alles andere der Natur der Liebe gleicht.

Denn seine Natur ist solcherart, dass er, wenn er einen toten Mann findet, als erstes seine Augen herauspickt.

Auf diesem Weg entzieht er ihm das Gehirn, und je mehr er davon kriegt, desto mehr will er haben.

So macht es auch die Liebe.

Schon bei den ersten Begegnungen wird ein Mann durch die Augen bezwungen, und nie hätte die Liebe ihn gepackt, hätte der Mann sie nicht angeblickt.

Der Löwe

Denn die Liebe verhält sich genau wie der Löwe.

Wenn der Löwe seine Beute frisst und ein Mann vorbeigeht und ihn anblickt, greift er ihn an.

Wenn der ihn aber nicht anschaut, bleibt der Löwe ganz ruhig, denn das Gesicht eines Menschen trägt auch ein Zeichen von Majestät, weil er ein Ebenbild unseres Herrn Jesus Christus ist, weshalb der Löwe das Gesicht und dessen Blick fürchtet.

Da aber der Löwe eine kühne Natur besitzt, schämt er sich auch, Angst zu haben, und greift den Mann an, sobald der ihn anblickt.

Der Mann könnte hundertmal an ihm vorbeigehen, der Löwe würde sich nicht rühren, wenn der Mann ihn nicht anblickt.

Deshalb sage ich, dass die Liebe dem Löwen gleiche, denn sie greift keinen an, der sie nicht anblickt.

Herz, Leber und Gehirn

Die Liebe packt den Mann bei der ersten Begegnung, und zwar mit den Augen, und durch sie wird dem Mann das Gehirn entzogen.

Das Gehirn des Mannes bedeutet seinen Verstand.

Denn ebenso wie der Lebenstrieb, der die Bewegung ermöglicht, im Herzen wohnt, und die Wärme, die die Organe nährt, in der Leber, genauso wohnt im Gehirn der Verstand, der die Einsicht fördert.

Und wenn ein Mann wirklich liebt, kann ihm keinerlei Verstand mehr helfen, ja, er verliert ihn sogar völlig.

Und je mehr er davon hat, desto mehr verliert er.

Denn je weiser der Mann ist, desto größere Anstrengungen unternimmt die Liebe, wütend von ihm Besitz zu ergreifen.

Dieser Eigenheit wegen sagte ich, dass die Liebe dem Raben gleiche, und dass dessen andere Natur, von der ich gesprochen habe, in der Liebe obsiegen sollte, viel eher als die Natur der Viper und des Affen.

Und ebenso sagte ich, dass die Frau eher den Mann lieben sollte, der von der Liebe zu ihr bekleidet ist, als jenen, der nackt und bloß davon ist.

Ich meine durchaus, dass es Frauen gibt, die so handeln.

Aber es gibt auch andere, die ein Sieb im Kopf haben, so dass etwas, das ihnen zum einen Ohr hineingeht, beim anderen wieder hinausfliegt.

Und gerade dort, wo sie lieben, entziehen sie sich.

Das Wiesel

Es ist genau wie beim Wiesel, das im Ohr empfängt und im Mund gebiert.

Von solcher Natur sind jene Frauen, die, wenn sie so viele angenehme Worte gehört haben, dass ihnen scheint, sie sollten nun der Liebe nachgeben, gleichsam im Ohr empfangen haben.

Doch dann befreien sie sich durch den Mund, indem sie dem Mann eine Absage erteilen, und gehen zu anderen Themen über, als ob sie sich fürchteten, in eine Falle zu geraten.

Genau so macht es das Wiesel, das seine soeben geborenen Jungen an einen anderen Ort trägt – aus Angst, sie zu verlieren.

In dieser Natur des Wiesels liegt ein guter Grund, an der Liebe zu verzweifeln:

Wenn sie gerade das nicht hören will, wovon man notwendigerweise sprechen muss, und immerzu von anderen Dingen sprechen will.

Und diese Verzweiflung entspricht der Natur der Kalanderlerche.

Die Kalanderlerche

Das ist ein Vogel, der, wenn er zu einem Kranken getragen wird und diesem direkt ins Gesicht blickt, dadurch ein Zeichen gibt, dass der Kranke genesen wird.

Doch wenn er den Blick anderswo hinwendet und ihn also nicht anblicken will, ist das ein Zeichen, dass der Kranke sterben muss.

Genauso scheint mir, es sei Euch lästig, dass ich meine Bitte um Liebe an Euch gerichtet habe, und dass Ihr ganz gerne den höflichen Umgang mit mir hättet pflegen und mir mit Vergnügen hättet Gesellschaft leisten wollen, wenn ich nur nicht von dem gesprochen hätte, was mich krank macht.

Dass Ihr also keinerlei Lust hattet, mir, dem Kranken, direkt ins Gesicht zu blicken – weshalb man mich bereits für einen Toten halten muss.

Denn damit habt Ihr mir eine solche Qual zugefügt, die tiefster Verzweiflung gleichkommt, wo man keinerlei Hoffnung auf Gnade mehr hegen kann.

Das ist der Liebestod.

Denn wie es keine Genesung vom Tod geben kann, genauso gibt es in mir keinerlei Hoffnung mehr auf Liebesfreude, da ich keine Gnade mehr erwarten darf.

Ich bin also tot, das ist wahr.

Gibt es denn keinerlei Hoffnung auf Genesung?

Ich weiß nicht, wer mich getötet hat, ob Ihr oder ich selber, ich weiß nur, dass wir beide schuldig sind.

Die Sirene

Es ist genau wie mit dem Mann, den die Sirene tötet, nachdem sie ihn mit ihrem Gesang betört hat.

Es gibt aber drei Arten von Sirenen.

Zwei davon sind halb Frau, halb Fisch, und die dritte – halb Frau, halb Vogel.

Und alle drei machen Musik: Die eine spielt Trompete, die andere Harfe, die dritte betört durch ihre Stimme.

Ihre Melodien sind derart verlockend, dass ein Mann, wenn er sie hört, und sei er noch so weit entfernt, gar nicht anders kann als herbeizueilen.

Wenn der Mann ihr aber zu nahe kommt, ist er schon betört.

Und wenn sie ihn eingeschläfert hat, tötet sie ihn.