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Hanjo Kesting

Theodor Fontane

Bürgerlichkeit und Lebensmusik

 

 

 

 

Wallstein Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 1998 | 2019

www.wallstein-verlag.de

Einbandgestaltung: Wallstein Verlag, Göttingen

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3583-7

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4400-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4401-3

Inhalt

Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik

Anmerkungen

Impressum

 

 

 

Bei ihm hatten wir das Deutsche lesen gelernt«, heißt es im vierten Band von Uwe Johnsons Roman-Zyklus Jahrestage. Da liest eine Schulklasse im mecklenburgischen Gneez unter Anleitung ihres Deutschlehrers im Schuljahr 1950 /51, zu frühen DDR-Zeiten also, Theodor Fontanes Erzählung Schach von Wuthenow. Viel spricht dafür, daß es sich hier um eine persönliche Erinnerung Johnsons an seine Schulzeit in Güstrow handelt, zugleich um eine Huldigung an seinen Deutschlehrer. Der hat allerdings den Status eines fertigen Deutschlehrers im Roman noch gar nicht erreicht: ein Praktikant aus dem Thüringischen, Weserich mit Namen, der an einem Bein durch die Weltgeschichte humpelt. Das andere, das er für Führer und Reich gelassen hat, oder der Rest, der davon geblieben ist, ist an ein alumines Gestell geschraubt, weswegen Weserich schon mal jenen Vers zitiert von einem Knie, das geht einsam durch die Welt, es ist ein Knie, sonst nichts. Weserich also, angekündigt von der Frau Direktor, erscheint in der Klasse Elf A Zwei in Gneez und legt klipp und klar seine Absichten dar: »Wir lesen ›Schach von Wuthenow‹.«

»Bei ihm hatten wir das Deutsche lesen gelernt.« Zweifellos fungiert der Lehrer Weserich in Johnsons Roman als eine Art Stellvertreter Fontanes, über dessen Schach von Wuthenow er zwei Jahre später seine Doktorarbeit schreibt. Die Schüler in Gneez benutzt er wie Biologen ihre Versuchskaninchen. Kein Wort der Erzählung wird leichtgenommen, jedes befragt und zum Sprechen gebracht. Das heißt lesen lernen. Fast drei Wochen benötigt die Klasse für die ersten sechs Seiten, fast ein Schuljahr für das ganze Buch. Man lernt, Text und Autor ernst, das heißt wörtlich zu nehmen, begreift, was alles in den Text hineingeheimnist, wie klar und sinnreich alles gesagt und gebaut ist. Das Ende ist allerdings niederschmetternd. Denn eines Tages erscheint ein Schüler mit einem Heft der Zeitschrift Sinn und Form, worin der amtierende Fachmann für sozialistische Theorie in der Literatur umständlich erklärt, Fontanes Erzählung sei ein »Geschenk des Zufalls« und die darin geübte Kritik am Preußentum »absichtslos« und »unbewußt«. Dem Lehrer Weserich verschlägt es die Sprache. Seine Dissertation wird zwei Jahre später in Göttingen gedruckt, jenseits der Grenze.

Der Schüler Johnson, damals siebzehn Jahre alt, hat die Erinnerung aufbewahrt. Er selber schrieb zwei Jahre später seinen ersten Roman: Ingrid Babendererde. Ein Schüler Weserichs. Und vor allem ein Schüler Fontanes, des Neuruppiner Landsmanns französischer Herkunft, mit dessen gemächlicher, dabei so penibler Erzählweise seine eigene so viel verbindet. Fontane war für Johnson gleich im doppelten Sinn ein »Lehrer des Deutschen«: als Lehrer deutscher Erzählprosa, aber auch deutscher Geschichte. Und die Jahrestage, das ausufernde Erzählwerk, sind ja ein monumentaler Geschichtsroman, Chronik der Epoche zwischen 1918 und 1968.

Fontane ist der Chronist einer früheren Epoche, der Jahre zwischen 1870 und 1895, der sogenannten Gründerzeit. Seine Romane seit L’Adultera von 1880 spielen fast allesamt in dieser Zeit, die man auch die Bismarck-Zeit nennt. Bismarcks Brandenburg und Preußen, das junge Deutsche Reich mit der expandierenden Hauptstadt Berlin bilden darin Hintergrund und Kulisse, wachsen zuweilen in die Rolle eines Protagonisten. Alle diese Bücher sind bestimmt von der Atmosphäre und Lebensform, der Topographie, nicht zuletzt dem Dialekt des zeitgenössischen Berlin. Sie handeln von affaires d’amour, von Ehe und Ehebruch, unstandesgemäßer Liebe und von Beziehungen, die der gesellschaftliche Kodex der Zeit für unerlaubt erklärte. Man hat in ihnen etwas in deutscher Literatur Seltenes, Ungewöhnliches, nämlich die wirklichkeitstreue Darstellung eines Zeitalters – so wie in Frankreich bei Balzac, der zum Chronisten der Restauration und des Bürgerkönigtums, oder bei Zola, der zum Schilderer des Second Empire wurde.

Das deutsche Kaiserreich des Kanzlers Bismarck und seines Herrschers Wilhelms I. war aus dem Krieg von 1870 /71 hervorgegangen. Mit diesem Krieg gewann Preußen, seit Königgrätz die Führungsmacht in Mitteleuropa, reichsdeutsche Dominanz. Fontane stand dieser Entwicklung zwiespältig gegenüber. Es war der gleiche Zwiespalt, der sein Verhältnis zum Preußentum insgesamt bestimmte: eine Bewunderung, die nicht frei war von Unbehagen, ein Patriotismus, der seine Hellsicht nicht trübte, eine Liebe, die durchsetzt war von Kritik. Das altpreußische Ideal, das Fontane vorschwebte, weitgehend identisch mit dem fridericianischen, ja kurfürstlichen, war in der Wirklichkeit der Reichsgründungszeit längst entschwunden. Es verwundert nicht, daß der Erzähler Fontane zunächst nach den Wurzeln des Preußentums suchte, bevor er sich der zeitgenössischen Wirklichkeit zuwandte. Seine Anfänge liegen im Genre der historischen Erzählung: dem Roman Vor dem Sturm, dem voluminösen Erstling von 1878, und der Novelle Schach von Wuthenow von 1882. Beide Bücher lassen sich als Zwillingswerke ansehen, sie bilden die beiden – sehr unterschiedlichen – Seiten derselben Medaille.

Vor dem Sturm behandelt den Aufbruch Preußens 1812 /13 in den Kriegen gegen Napoleon. Der Staat Friedrich Wilhelms III. wird darin nicht unkritisch gesehen, aber von seiner gewinnendsten Seite, als tapfer und menschlich, basierend auf dem Ideal der Pflichterfüllung, aber zugleich von heller und heiterer Intelligenz. Preußen leuchtet in diesem Buch, wie es in seiner historischen Wirklichkeit wohl niemals geleuchtet hat – man ist versucht, Kleists Prinz von Homburg zu zitieren: »Ein Traum, was sonst?« Doch war dem großen Aufbruch der nicht weniger große Zusammenbruch vorausgegangen: Preußens nicht bloß militärisches, sondern auch politisch-moralisches Debakel, gipfelnd in der Niederlage von Jena 1806. Wie konnte es dazu kommen? Die Frage ist die Keimzelle der Novelle Schach von Wuthenow mit ihrer Suche nach Preußens wahrer Identität. Sie beginnt mit dem Satz: »In dem Salon der in der Behrenstraße wohnenden Frau von Carayon und ihrer Tochter Victoire waren an ihrem gewöhnlichen Empfangsabend einige Freunde versammelt …« Gleich zu Anfang also, im ersten Satz, wird beiläufig, mit Nennung des Straßennamens, der Baumeister Beer eingeführt, dem Berlin noch in vorpreußischer Zeit einige Straßenzüge verdankt und dem zu Ehren die Behrenstraße ihren Namen erhielt. Vielleicht – so erwägt Uwe Johnsons Deutschlehrer Weserich – »um der Vergangenheit der Geschichte einen Hauch von einer noch älteren anzuziehen«? Aber auch der Titelheld wird schon im ersten Absatz eingeführt: durch die Stichelei des Herrn von Alvensleben, daß »gerade der fehle«, dem der Platz an Frau von Carayons Seite gebühre.

Die Geschichte spielt, wie erwähnt, 1806, kurz vor der Schlacht von Jena. Das historische Datum ist im Untertitel angedeutet: »Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes«. Dieses Regiment, 1691 begründet, nach französischem Vorbild nur aus Adligen zusammengesetzt und an Stelle der Lanze den geraden Degen führend, bis heute Namenspatron des Gendarmenmarktes in Berlin, war neben der später von Friedrich II. geschaffenen Garde du Corps das vornehmste Regiment der preußischen Armee, berühmt und berüchtigt für seinen Glanz und seine Anmaßung. Bei Jena geriet es fast vollständig in Gefangenschaft, wurde nie wieder aufgestellt und wenig später im Zuge der preußischen Heeresreform aufgelöst. Der Aufbruch von 1813, die »Befreiungskriege«, waren somit eine Konsequenz der Niederlage einige Jahre zuvor und der Schlußfolgerungen, die man daraus gezogen hatte. Fontane hat den Zusammenhang selber ausgesprochen. An seinen Verleger, dem der Titel Schach von Wuthenow nicht zusagte, schrieb er, die Novelle könne – analog zu Vor dem Sturm – »Vor Jena« oder »Vor dem Niedergang (Fall, Sturz)« heißen oder auch »Gezählt, gewogen und hinweggetan«. Schließlich blieb es bei dem ursprünglichen Titel, weil die anderen – wie Weserich seine Schüler belehrt – »fast alle ein Urteil enthalten, dem Leser sein eigenes vorwegnehmen. Fontane wünschte seine Leser unabhängig.« Doch die Absicht, das Schicksal der Titelfigur symbolisch mit dem Schicksal Preußens und seiner Armee zu verknüpfen, wurde nicht preisgegeben.

Auch der Rittmeister Schach ist Mitglied des Regiments Gensdarmes, und wie dieses besitzt er ein historisches Vorbild, den Major Ludwig von Schack. Der historische Schack starb 1815, aber Fontane hat einige Begebenheiten seines Lebens und auch die Umstände seines Todes in Preußens Krisenjahr 1806 verlegt. Der Major Schack hatte, wie der Schach der Erzählung, vertraute Beziehungen zum Prinzen Louis Ferdinand (der gleichfalls in Fontanes Buch vorkommt), dem Anführer einer frondierenden Offiziersclique, die Preußens Politik gegenüber Napoleon unter König Friedrich Wilhelm III. und seinem Kabinettschef Haugwitz kritisierte. Sprachrohr dieser Opposition ist bei Fontane der Schriftsteller und frühere Offizier von Bülow, der Preußens Lage und die überholten Ehrbegriffe seiner Offiziere ebenso scharfsinnig wie scharf verspottet. Er zitiert Mirabeau mit dem Wort von dem Staat Friedrichs des Großen als einer Frucht, die schon faul sei, bevor sie noch reif geworden. Das fordert den Widerspruch Schachs heraus. Der Rittmeister, ein Einzelgänger und Außenseiter unter seinen Regimentskameraden, erscheint als aufrechter, ritterlicher Mann, der die preußischen Traditionen und Tugenden (oder was zu solchen erklärt wird) als Verpflichtung empfindet. Bezeichnenderweise hat Fontane ihm keinen Vornamen gegeben. Von Ehre und Würde, Pflicht und »Haltung« hat Schach hohe, fast überspannte Vorstellungen – »eine sehr eigenartige Natur, die, was man auch an ihr aussetzen mag, wenigstens manche psychologische Probleme stellt«, wie Alvensleben sagt: »Er ist krankhaft abhängig, abhängig bis zur Schwäche von dem Urteile der Menschen, speziell seiner Standesgenossen.«

Aufschlußreich ist bereits Schachs erster Auftritt im Salon der Madame Carayon zu Bülows herausfordernden, preußenkritischen Worten »Europa hätt’ ein bißchen mehr von Serail- oder Haremwirtschaft ohne großen Schaden ertragen …« Es sind solche Aperçus, mit denen Bülow »die politische Meinung der Hauptstadt … terrorisiert«. Er glänzt in vielem, namentlich in dem lebhaften, selten unterbrochenen Katheder-Vortrag, wovon nur die Qualität seiner weißen Wäsche ungünstig absticht. Der elegante Schach könnte Bülows Gegenspieler sein. Aber ausgerechnet er, dessen Name an den des Herrschers auf dem Pfauenthron anklingt, besitzt ein solches »Serail« (mitteleuropäisch gemäßigt), und zwar im Salon der Carayons, wo er unentschlossen zwischen zwei Frauen schwankt, der Mutter, einer Witwe von unverwitterter Schönheit, und ihrer zwar geistvollen, aber durch Blatternarben entstellten Tochter. – »Fontane und die Kunst, jemanden einzuführen«, hat Uwe Johnson – oder sein Deutschlehrer-Sprachrohr – über diesen Auftritt bemerkt. Denn zugleich wird ein Charakter umrissen, eine Szene spannungsvoll aufgebaut und das Grundthema des Buches intoniert: Preußen im Jahr 1806.

Ein Bonmot des Prinzen Louis Ferdinand über weibliche Schönheit, über die beauté coquette und beauté triviale, die beauté céleste und die beauté diable, reicht aus, um Schachs schwankende Empfindungen auf Victoire zu lenken und in ihren Blatternarben einen Abglanz der teuflischen Schönheit zu erblicken. Hingerissen vom Augenblick und von männlicher Eitelkeit, überschreitet er die Grenze bloßer Galanterie, ohne zunächst für sein Tun einstehen zu wollen. Ja, er versteckt sich feige vor der Mutter im Treppenhaus, nachdem er die Liebesstunde mit der Tochter verbracht hat, zieht sich fluchtartig auf sein Landgut zurück, wie eine Armee, die ihr Heil in Rückzug und panikartiger Auflösung sucht. Erst eine Vorladung des Hofes veranlaßt ihn, sich den Regeln seines Standes und der honnêteté zu beugen. Er heiratet Victoire, aber auf der Heimfahrt von der Hochzeit begeht er Selbstmord, nachdem ihm durch öffentliche Karikaturen seine scheinbar lächerliche Rolle bewußt geworden ist. Fontane hat Schachs Geschick in die Worte zusammengefaßt: »Eitlen, auf die Ehre dieser Welt gestellten Naturen, ist der Spott und das Lachen der Gesellschaft derartig unerträglich, daß sie lieber den Tod wählen, als eine Pflicht erfüllen, die sie selber gut und klug genug sind als Pflicht zu erkennen, aber auch schwach genug sind aus Furcht vor Verspottung nicht erfüllen zu wollen.« Die Schüler der Elf A Zwei 1950 /51 in Mecklenburg / DDR urteilen weniger nachsichtig und abgewogen, sie sehen in Schach einfach den Drückeberger: »Wer schwängert, der soll auch schwören!«

Manche Züge Schachs und sein Ende erinnern an einen anderen Preußen jener Zeit: Heinrich von Kleist, den unglücklichen Dichter des Prinzen von Homburg. Sein Name taucht in Fontanes Notizen zu Schach von Wuthenow