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Susanne Fritz

Wie kommt der Krieg
ins Kind

 

 

 

 

 

 

 

 

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Für meine Mutter

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Susanne Fritz

© Wallstein Verlag, Göttingen 2018

www.wallstein-verlag.de

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3244-7

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4243-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4244-6

Dichte Welt

Die Seele ist vor allem der Ort einer anderen Zeit.

      John Berger

Ein Papiertaschentuch

Bei der Einreise in die USA zeigt ein in der Hosentasche vergessenes Papiertaschentuch dem Ganzkörperscanner an, dass von mir eine Gefahr ausgehe. Während ich unter den Augen mehrerer Schwerbewaffneter with one hand up wie im Film das zerknüllte Tuch hervorhole, werde ich scharf zurechtgewiesen. Man habe mir doch deutlich gesagt, dass absolutly nothing in meinen Taschen sein dürfe. Und was sei das da in meiner Hand? Etwa nichts? Ich frage, ob sie mein Taschentuch behalten wollen. Sie wollen es nicht. Es amüsiert mich, als Verbrecherin behandelt zu werden, was habe ich schon zu befürchten? Ich stelle mir vor: eine Halle voller Menschen, alles Verbrecher. Das Flughafengebäude ist in Wahrheit ein Gefängnis. Die Reisekleidung entpuppt sich als Häftlingskleidung. Wir haben Rechenschaft über unsere Reise abgelegt, unser Gesicht ist fotografiert, sämtliche Finger sind eingescannt worden. Wir tragen keine Schuhe, die Glücklicheren gehen auf Socken, manche setzen ihren Weg barfuß fort. Wir besitzen keine Dokumente mehr, keine Telefone, keine Computer. Uhren und Gürtel haben wir auf Befehl abgelegt, wir halten Hosen und Röcke mit Händen fest, um nicht in Wäsche umherzugehen. Spürhunde beschnüffeln uns nach verborgenen Lebensmitteln, Drogen, Waffen. Ein Förderband trägt unsere Identität davon. Wir werden sie gleich wiederbekommen. Aber ist das so sicher? Ich habe noch einmal Glück, erhalte meinen Pass zurück, ziehe Gürtel und Schuhe wieder an und setze meine Reise in Freiheit fort.

Amtskälte

Die Geschichte von der ganzheitlichen Durchleuchtung und meiner potentiellen Gefährlichkeit fällt mir ein, als ich über einen Fingerabdruck schreiben will und mir die Worte versagen. Ich muss meine Gedanken auf Nebengleise lenken, wo sie sich wieder in Bewegung setzen … Wie oft schon wurde ich durchleuchtet und fotografiert, wurden meine Finger eingescannt, meine biometrischen Daten erfasst – und ich habe nichts weiter dabei empfunden. Doch ein Fingerabdruck, hinterlassen vor gut siebzig Jahren mit blauer Tinte auf gelbem Karton, entlockt mir einen unhörbaren Schrei. Es ist der Fingerabdruck meiner Mutter. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung im April 1945 durch die GPU, die sowjetische Geheimpolizei, vierzehn, bei Aufnahme in das polnische zentrale Arbeitslager Potulice / Potulitz gerade fünfzehn Jahre alt. Ich entdecke ihren Fingerabdruck auf meiner Spurensuche, auf der Suche nach meiner Mutter als gefangenes Kind.

Im Frühjahr frage ich per E-Mail beim polnischen Staatsarchiv in Bydgoszcz / Bromberg an, das die Akten aus Potulice verwahrt. Ich lasse mir lange Zeit, ehe ich das Antwortschreiben öffne. Vor mir eine Schwelle. Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Klick. Ja, die Akte meiner Mutter existiert, die entsprechende Signatur ist angegeben. So viel verstehe ich. Das auf Polnisch verfasste Schreiben auf meinem Bildschirm ist die erste nüchterne Geste, die die Erzählung meiner Mutter mit der faktischen Welt zu verbinden verspricht. Oder sollte ich lieber sagen, sie zu ersetzen, zu entzaubern, auszulöschen droht? Was jagt mir alles durch den Kopf beim Anblick der fremden Buchstaben und Zahlen! Ich spreche kein Polnisch, obwohl es zu Hause durchaus präsent war. Meine Eltern sprachen neben ihrer Muttersprache Deutsch das einfache umgangssprachliche Polnisch ihrer Kindheit, sprachen es am Telefon, untereinander als Geheimsprache oder mit unseren polnischen Gästen. Sie brachten uns die Sprache ihrer Vergangenheit, abgesehen von ein paar Höflichkeitsfloskeln und Kinderreimen, nicht bei. Ach ja, marschieren kann ich auf Polnisch: lewo-prawo, raz-dwa – links-rechts, eins-zwei … Woher kommt mein plötzliches Unbehagen? Rührt es vom prosaisch knappen Charakter des Schreibens her, das jetzt ausgedruckt vor mir liegt, von der atmosphärischen Kälte des Amtlichen, einem Überhang von Zahlen gegenüber Buchstaben? Bin ich dabei, in eine Welt einzudringen, die nicht für mich bestimmt ist? Neben der Aktensignatur werden die Namen meiner Großeltern genannt, die lange vor meiner Geburt verstorben waren, und die mir, mehr als über wenige Fotografien, durch die anhaltende Trauer meiner Mutter so vertraut sind, als säßen sie unsichtbar mit uns am Tisch. Die amtliche Mitteilung macht sie augenblicklich zu Fremden. Ihre Namen sind in polnischer Schreibweise wiedergegeben, meine Großeltern heißen jetzt Jerzy und Elzbieta. Sie sind Bürger eines fremden Landes, Eingesperrte einer Geschichte, die sich mir entzieht, Gefangene einer Sprache, die ich nicht spreche. Menschen, die ich nicht kenne, die Hüter des Archivs, bestimmen über Distanz und Annäherung.

Im Archiv

Ein junger, gutaussehender Archivar in weißem Arbeitskittel und mit weißen Stoffhandschuhen bringt die Mappe. Im frisch gestrichenen, leuchtend grünen Lesesaal liegt nun vor mir, worüber ich seit Erhalt jener ominösen E-Mail wild gemutmaßt hatte. Ich reibe meine Hände am Hosenstoff vom Schweiß trocken, es ist ein schwüler Tag, ich bin aufgeregt, wage kaum, die Kladde zu berühren. Wie lange hat sie unangetastet zwischen anderen Gefangenenakten geruht und kein Licht gesehen? Angelegt wurde sie im Dezember 1945. Diese Akte existierte also bereits, als mein Leben noch zwanzig Jahre in der Zukunft liegt. Eine erstaunliche Anzahl von Menschen haben ihre Spuren darin hinterlassen. Ein unüberschaubares Sammelsurium, chaotisches Gewimmel unterschiedlichster manueller und maschineller Zeichen empfängt mich, schon das Deckblatt ist seltsam bunt: Neben verschiedenen grünen und blau-schwarzen Stempeln zähle ich drei unterschiedliche Handschriften und Schreibgeräte mit roter und blauer Tinte. Registrierungsnummer und Altersangabe wurden handschriftlich nach oben korrigiert. Über den ebenfalls handschriftlich eingetragenen persönlichen Daten meiner Mutter mit Namen, Geburtsdatum, Geburtsort, Konfession, Beruf, Namen der Eltern, ragt ein mit sichtlichem Schwung gezeichnetes rotes Dreieck, ähnlich, wie es in der Symbolik deutscher Konzentrationslager einst für Wehrmachtsangehöriger gestanden hatte. Welche Bedeutung hat das rote Dreieck hier, in Bezug auf ein knapp fünfzehnjähriges Mädchen?

 

Vorsichtig schlage ich die Akte auf. Etwas springt mir ins Auge, nein, es springt in meinen Körper. Es ist ihr Fingerabdruck, oben rechts auf der Innenseite des Deckblatts. Und unten rechts ihre Unterschrift, mit vollem Namen. So akkurat und ordentlich, als wäre sie ein Schreibbeispiel aus dem Schulbuch. Titel des Erfassungsbogens: Opis osoby więźnia. Zu Deutsch: Personenbeschreibung des Gefangenen. Es folgt eine überaus detaillierte schematische Charakteristik in dreiundzwanzig Punkten, eine Art biometrische Erfassung (ganz wie die Nazis sie vorexerziert hatten) als Multiple Choice körperlicher Merkmale, eine Auswahl möglicher Kopf- und Gesichtsformen: Größe und Gestalt von Augen, Augenbrauen, Mund, Nase, Stirn, Kinn und Wangen, Beinen und Händen, Farbe und Dichte des Haares; Gang, Körpergröße und -haltung, Eigenheit von Stimme und Aussprache, Angaben über Lese- und Schreibfähigkeiten, Ausbildungsgrade. Das Zutreffende ist jeweils unterstrichen und lautet beispielsweise, wie Freund K. mir übersetzt: Körperstatur äußerst fragil. Haltung aufrecht. Weiter unten, Sprachen Deutsch. Warum ist Polnisch nicht unterstrichen? Meine Mutter verstand und sprach es gut und sollte darum im Lager als Jüngste Stubenälteste werden, so viel weiß ich. Hat sie ihre Sprachkenntnisse bewusst unterschlagen? Ich entdecke weitere Ungereimtheiten. Verdanken sie sich der eiligen Massenabfertigung bei der Registrierung? Schlampt und lügt die Akte, die mit ihren vielen Stempeln und Signaturen so wichtig tut? Ein Foto enthält sie nicht, ein solches wäre wohl zu aufwendig und zu kostspielig. Als persönliches Kennzeichen ist eine Wunde am rechten Arm zusätzlich handschriftlich vermerkt (woher stammt sie, wie schlimm ist sie?) – mit derselben Tinte wie die Unterschrift der Internierten (Punkt dreiundzwanzig der Personenbeschreibung) knapp unterhalb. Offenbar haben beide dasselbe Schreibgerät benutzt. Ich stelle mir vor, wie der/die Verwaltungsbeamte/in der jungen Strafgefangenen den Füllfederhalter reicht, sie auffordert, zu unterzeichnen. Diese schreibt damit ihren Namen, Buchstaben für Buchstaben in fester, unerschütterlicher Schrift. Anders als der hingepfefferte, unwürdige Fingerabdruck (vermutlich nicht der erste, der ihr auf dem Weg durch Gefängnisse und Lager abgenommen wird), für den es keiner Schulbildung bedarf, da habt ihr ihn! Wer weiß, wann sie ihren Namen wieder schreiben wird. Ob überhaupt. Ihr Name inmitten der Beschimpfungen und Spottnamen, die über sie ergehen. Ihr Name: das einzige Zuhause, das ihr geblieben ist. So schreibt sie ihren Namen als Gefangene, konzentriert, so schön sie kann. Schreibt ihren Vor- und Nachnamen in eine ungewisse Zukunft hinein. Noch einmal steht ihr Name für das zivile Leben, das vorerst hinter ihr liegt.

Es wird anderthalb Jahre dauern, bis sie wieder ein Schreibgerät in der Hand hält, einen Bleistiftstummel, den sie mit ihren Mitgefangenen teilt, um die allerwichtigsten, der Zensur unterliegenden Botschaften zu verfassen, Kontaktaufnahme mit den Angehörigen draußen, dem Leben jenseits der Mauern.

Bluterguss auf Papier

Wieder fällt mein Blick auf die rechte obere Ecke des Personalbogens, das eingerahmte Feld mit dem Hinweis Odcisk wskazującego palca lewej ręki, darin entsprechend der Abdruck ihres linken Zeigefingers – als unumgänglicher Bestandteil der bürokratischen Identifikation und zugleich deren leibhaftiger Widerspruch. Was lässt ihn so überaus deutlich, mit geradezu dramatischer Wucht aus all den anderen Informationen und Zeichen, den Buchstaben, Zahlen und Stempeln hervorspringen? Er sagt eins: Der Mensch, von dem er stammt, war hier. Ein Fingerabdruck ist der, der er ist. Er lässt sich nicht nachahmen, nicht stellvertreten, fehlschreiben oder manipulieren. Noch befinden wir uns nicht im digitalen Zeitalter, in dem Fingerabdrücke einem Menschen unbemerkt gestohlen, kopiert und zu dessen fälschlicher Identifizierung missbraucht werden können. Fingerabdrücke gelten als einmalig, sogar eineiige Zwillinge haben unterschiedliche Papillarlinien. Sie gehören zum Zuverlässigsten, was ein Mensch besitzt. Er sagt, ja, es ist wahr. Meine Mutter war hier, und sie ist es noch: Verkörpert und verewigt in dieser schlichten, rohen Spur ihres jungen Körpers, der Fingerkuppe ihres linken Zeigefingers. Ich lege meine Hand so vorsichtig wie möglich neben ihren Abdruck, als könnte eine bloße Luftbewegung ihn vertreiben oder beschädigen, als störte ich, machte ihm Angst … Die Zeit, gut siebzig Jahre, hat den Stacheldraht, der um meine Mutter gezogen war, nicht verrotten lassen. Auch die Mauern, die sie gefangen hielten, sind noch intakt. Die Kälte, die Angst, den Hunger, ihre gehasste Glatze berühre ich in diesem tintenblauen Fleck. Auch die Willkür ist in ihm lebendig, die tägliche Gewalt und das Rätsel ihrer Anwesenheit an diesem Ort. Man behandelt uns als Berufsverbrecher, die wir nicht sind. All mein Wissen über ihre Gefangenschaft zieht sich auf diese anderthalb Quadratzentimeter zusammen. Diese winzige erfassungsdienstliche Spur meiner Mutter überführt mich als Ungläubige – als hätte ich bis dahin insgeheim an ihrer Geschichte gezweifelt. Ist es die Aura des Authentischen, die Raum und Zeit mit einem Sprung jäh überwindet? Kann ich in ihrem Fingerabdruck berühren, was nicht mehr ist? Auch für sie selbst hat ihr Bluterguss auf Papier verborgen und unzugänglich hinter den Mauern der Lagerverwaltung, später eines Archivs, gelegen. Jetzt sieht er mich an.

Dichte Welt

Was machte jedes Wort meiner Mutter so stark, zu einem unumstößlichen Gesetz für uns Kinder? Ihre Sprache wurzelte in existentiellen Erfahrungen, war eins mit ihnen. Namen und Dinge verschmolzen miteinander, was sie aussprach, waren nicht Wörter, es war Wirklichkeit. Alles konnte ich genau vor mir sehen, nein, ich sah es nicht, alles war Gefühl, Geheimnis. Der Name eines Lagers und damals polnischen Staatsguts, auf dem sie drei Jahre Zwangsarbeit leistete, Chwaliszewo, hatte für mich als Kind eine große, dunkle Strahlkraft – als wäre Chwaliszewo ein Tor zu einer phantastischen, unheimlichen Welt, die sich in die Landschaft des Schwarzwalds, wo wir lebten, seltsam einfügte, zuweilen plastischer und wirklicher noch als alles, was ich mit Händen greifen konnte. Einmal würde ich sogar mit meiner Mutter hinfahren … Der schmiedeeiserne Namenszug ragt noch heute in rostiger Nüchternheit über dem Zufahrtsweg. CHWALISZEWO.

 

In den Tagebüchern, die meine Mutter nach ihrer Entlassung aus der Gefangenschaft 1949 zu schreiben beginnt und die ich jetzt, vier Jahre nach ihrem Tod, lese, notiert sie, dass vieles von dem, was sie erlebt habe, in ihrem Tagebuch nicht vorkomme, weil es nicht geschrieben werden kann und nicht geschrieben werden darf. Sie nennt die Zeit zwischen dem 1. Februar und dem 8. April 1945, versieht das Datum mit doppeltem Ausrufezeichen. Daten und Satzzeichen müssen genügen, um ihre Erinnerung zu sichern – für sich selbst und gegen den Blick von außen. Natürlich weiß sie und würde nie vergessen können, was sich in jenen Tagen abspielte. (Sie besaß ein geradezu absolutes Gedächtnis, das einmal Gehörtes und Gelesenes auf alle Zeit bewahrte und stets griffbereit hielt.) Es ist überflüssig, ja unmöglich, konkreter zu werden, die Verletzung zu benennen. Die Tragweite und vernichtende Kraft eines Ereignisses wird gerade darin deutlich, dass es nicht benannt werden kann und auch nicht darf – nicht einmal vor sich selbst in der Abgeschiedenheit des Tagebuchs. Das Datum schließt eine Wunde, die nicht berührt werden darf. Sie würde sie nie aus dem Blick verlieren.

Die Macht der Auslassung

Mit meinem heutigen Wissen kann ich das Datum ergänzen: Am 1. Februar 1945, zehn Tage nach ihrem Aufbruch, wird der Flüchtlingstreck meiner Mutter zwanzig Kilometer nordöstlich von Frankfurt a. d. Oder bei Serbów / Zerbow von der Roten Armee (genauer von der 1. Weißrussischen Front) überrollt, gestoppt und wieder ostwärts geleitet. Am 8. April wird meine Mutter in Drzewce / Leichholz verhaftet und getrennt von Mutter und Schwester verschleppt. In der im Tagebuch erwähnten unaussprechlichen Zeit zwischen dem 1. Februar und dem 8. April 1945 befinden sich die Flüchtlinge in russischer Hand. Meine Großmutter, seit einer Tumoroperation an der Wirbelsäule gelähmt und hilflos, rät ihren vierzehn und neunzehnjährigen Töchtern, sich steif wie ein Brett zu machen, wenn die Russen sie holen. Ein halbes Jahr würde sie auf die Rückkehr ihrer älteren Tochter, vier Jahre auf ihre jüngere warten. Ihre Nichte würde die Bewegungsunfähige in einem Leiterwagen auf einer monatelangen Odyssee durch ein verwüstetes, in Chaos und Gewalt gestürztes Land ziehen, ehe sie bei Verwandten ankommen und Aufnahme finden würden.

In meiner Kindheit fielen solche Daten völlig unvermittelt während der gemeinsamen Mahlzeiten. Die Floskel Heute vor soundso vielen Jahren kündigte den Beginn einer Geschichte an und zugleich ihr Ende. Ein Datum gefolgt von Schweigen hieß, dass an jenem Tag vor soundso vielen Jahren etwas Unaussprechliches geschah. Auch Geburtstage waren schrecklich, es waren die Geburtstage von Toten. Der 21. Januar 1945, ein Sonntag, war so ein Datum: In den frühen Morgenstunden des 21. Januars beginnt, nach der von Gauleiter Arthur Greiser offiziell erteilten Räumungserlaubnis, die Flucht meiner Familienangehörigen aus dem Posener Raum. Zu spät, wie sich schnell herausstellen sollte, um der sich zügig westwärts kämpfenden Sowjetarmee zu entkommen. Am selben Tag, ebenfalls am 21. Januar, wie ich jetzt lese, befreit die Rote Armee das gut hundert Kilometer nordöstlich von Posen, nahe Bydgoszcz / Bromberg gelegene SS-Lager Potulice. Das sich leerende Lager sollte sich schnell wieder füllen, nicht nur mit Kriegsgefangenen und deutschen Zivilisten, auch mit Angehörigen der polnischen Heimatarmee, die für ein freies Polen gekämpft hatten und dem Machtanspruch der kommunistischen Partei jetzt im Wege standen.

Meine Mutter konnte von entwaffnender, ja erschreckender, nichts beschönigender Offenheit sein im plötzlichen Wechsel mit hartem, undurchdringlichem Schweigen. Plötzlich stieß man an eine unsichtbare, unverrückbare Wand. Wo liegt die Trennlinie zwischen dem Erzählbaren und dem Unsagbaren, der unterhaltsamen, makaber-witzigen Anekdote und dem Erzähltabu, dessen Nichteinhaltung Panik zur Folge hatte? In ihrem Tagebuch wechseln präzise Beschreibungen mit abrupten, durch drei Punkte immerhin markierten Auslassungen. Teilt sich bereits ihre persönliche Erinnerung in Tabuzonen und begehbare Bereiche? Trotz Aussparungen lesen sich ihre Aufzeichnungen als eine Aneinanderreihung der Schrecken, wie etwa der Beschuss eines Zwischenlagers am 16. April 1945 durch deutsche Bomber, bei dem eine von den Russen abgeschossene deutsche Maschine mit voller Bombenlast auf die Baracken stürzt und ein regelrechtes Massaker anrichtet, die Baracken knackten ein wie Streichholzschachteln, das meine Mutter wie durch ein Wunder lediglich leicht verletzt, mit wenigen Schrammen, überlebt. Später erwähnt sie die demütigende Prozedur des Glatze-Schneidens. Die Glatze gehört in den Bereich des Erzählbaren und tatsächlich zu meinen frühesten Erinnerungen. So weiß ich von klein auf, dass die Menschen in Wahrheit die seltsamsten Kopfformen haben, dass Menschen mit besonders schönem Haar auch besonders leiden, wenn sie es verlieren. Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Schulkameraden in Wirklichkeit aussahen, mit kahl rasiertem Schädel saßen sie mit mir im Klassenzimmer, und berauschte mich an meinen gruseligen Phantasien, die ich mit niemandem teilte. Unversehens hatte meine Mutter mir einen Schlüssel zu einer anderen Perspektive auf meine Mitmenschen gegeben. Ich kannte das Ergebnis von Handlungen, die ich selbst weder begangen noch beobachtet hatte, verfügte über anschauliche Bilder des Schreckens, die meine Mutter mir lieferte. Wenn ich wollte, konnte ich meine Schulfreunde im Geiste kahl rasieren, die schönsten, längsten Haare fielen mit Wonne zuerst. Ich dachte dabei an das bildhübsche Mädchen mit dichtem, kornblondem Lockenhaar, ganz das Schönheitsideal der Nazis, wie meine Mutter erzählte, dem auf ihrem tagelangen Transport im Güterwaggon nach der Entdeckung von Läusen Mitgefangene mit einer Glasscherbe den Kopf rasierten. Mehrere hätten die sich brüllend vor Schmerz und Verzweiflung Wehrende festhalten müssen, die später bei Tageslicht schrecklich verwundet und entstellt ausgesehen habe. Zeitzeugenberichten entnehme ich, dass es sich im Lager Potulice um Ganzkörperrasuren gehandelt haben soll, die mit stumpfen Klingen oder Messern durchgeführt wurden und den Frauen zur Schikane, zur Folter wurden. Davon hatte meine Mutter nicht erzählt.

Sehnsuchtsorte

Willy Brandts Kniefall bereitete den Weg. Nach Unterzeichnung der Ostverträge 1970 fahren viele Menschen, so auch meine Eltern, in ihre alte Heimat. Es bleibt nicht bei einem Besuch, sie fahren immer wieder, Sommer für Sommer, nehmen Freunde auf ihre Reisen mit, uns Kinder reihum, mich im Jahr meiner Konfirmation: Wir besuchen ihre Heimatstadt Schwersenz / Swarzędz, das ehemalige Elternhaus meiner Mutter mit Bäckerei, nächtigen bei ehemaligen Nachbarn; fahren nach Chwaliszewo, wo die Villa des ehemaligen Staatsgutes jetzt als ärmliches Behindertenheim unter Obhut katholischer Nonnen dient; unvergesslich sind mir die Berührungen einer Patientin im Halbdunkel der dicht bevölkerten Eingangshalle, fremde Hände, die nicht aufhören wollen, mich zu streicheln … Zusammen stehen wir vor dem backsteinroten Gefängnisbau Wronki / Wronke, heute die größte Strafvollzugsanstalt Polens, wo Rosa Luxemburg einst eingesessen hatte (wie meine Mutter erzählte, in einer Mischung aus Stolz auf deren Prominenz und Ablenkungsversuch vom eigenen Unglück) und meine Mutter im Sommer / Herbst 1945, blicken schweigend auf die mit Stacheldraht bewehrte, haushohe Mauer. Hier auf dem Gefängnishof erfährt meine Mutter am 8. Mai 1945 vom Kriegsende – und weint. Deutschland ist besiegt. Hitlers Ende lässt sie nicht aufatmen, der Sieg über Deutschland, die bedingungslose Kapitulation scheinen ihr Schicksal zu besiegeln: An diesem Tag wird sie zur Verliererin, zur Gefangenen in den Händen der Sieger. Wer würde ihr jetzt beistehen, sie beschützen, hier rausholen, sie befreien? Dass wir nicht nur ihr altes Zuhause, sondern auch Orte ihrer Gefangenschaft besuchen, erschien mir damals ganz natürlich, es gehörte zusammen, auch in ihren Erzählungen floss eins ins andere und war in meinen Kinderohren nicht zu unterscheiden. Gefängnis und Lager waren selbstverständlicher Teil ihrer Heimat, die Nachbarschaft von einst war um die Freundschaften aus der Haftzeit erweitert, zu denen auch ein ehemaliger, schwer alkoholkranker Aufseher und dessen Familie gehörten, die sie bis zu ihrem Tod unterstützte. Die ehemalige Internierte und ihr Peiniger lagen sich weinend in den Armen, ich selbst bin Zeugin solch intimer Begegnungen jenseits jeder politischen Zurschaustellung geworden.

Umarmungen, die ihrem Schmerz wie dem Schmerz des anderen zu Recht verhalfen. Hier durften Tränen fließen, hier gehörten sie hin. Und mit ihren Tränen sie selbst, im Einklang mit sich, ruhiger und zufriedener als zu Hause im turbulenten Alltag ihrer großen Familie. Für einen Moment setzte das ewig bohrende Heimweh aus, sie war angekommen … So stand ich mit ihr, mit fünfzehn genauso alt oder jung wie sie damals, in einem Raum, in dem die Häftlinge sich nur auf Kommando im Schlaf umdrehen konnten, so viele waren sie. Die Schilderung vom Umdrehen auf Kommando kannte ich, lange bevor wir gemeinsam nach Polen reisten, in einem Alter, in dem man üblicherweise Märchen erzählt bekommt. Nun stand ich am Ort des Geschehens, hier also hatte sich das Unvorstellbare abgespielt, das in meinem Kopf längst ein dumpfes Eigenleben führte. Den Ort kennenzulernen bereicherte und begrenzte meine blühende Phantasie, schattenhafte innere Bilder stießen hier an die rohen Mauern einer beengenden, beklemmenden Wirklichkeit. Während ich Schulter an Schulter mit meiner Mutter gegen feuchte Wände starrte, teilte ich wortlos jene Düsternis, die sie von hier in die Freiheit mitgenommen hatte.

Solidarność. Solidarität.

Wir fuhren nie gemeinsam in Urlaub. Die Sehnsuchtsorte meiner Mutter lagen nicht am Mittelmeer und nicht an der Nordsee, sondern fern in Raum und Zeit. Es waren Rekonstruktionen zerrissener Geschichten, deren widerspenstige Teile sie beharrlich zusammenhielt in einer Pendelbewegung zwischen gestern und heute, Deutschland und Polen, unserem Familienleben und ihrer Gefangenschaft. So beschwört sie ihre Vergangenheit, wächst über sie hinaus. Gut ist es, an diese Orte zu kommen, und gut, sie wieder zu verlassen. Um wiederzukommen. Um wieder zu gehen. Das Leben als beständige Ankunft: Ins schöne neue Auto steigen, in die alte Heimat fahren und wieder weg. Beladen, Entladen. Unser Haus im Schwarzwald wird zu ihrer Basis und Packstation. Unzählige Polen-Pakete schnürt meine Mutter, immer an der Grenze zu deren buchstäblicher Tragbarkeit. Die Kreise derer, die Kleidung, Kaffee und Süßigkeiten spenden, werden immer größer. Bilder vom Überfluss, ausgebreitet auf unserem Wohnzimmerboden. Im Packen ist sie Meisterin, Kilometer Paketschnur schnurren durch ihre Hände, als gälte es, unser Zuhause rund um die Pakete immer wieder neu zu vermessen. Sorgfältig verschnürt und mehrfach verknotet wandert die sichtbare Last von der Seele meiner Mutter in die dankbaren Arme ihrer polnischen Empfänger. Wer von diesen reisen kann, kommt bald auch zu uns zu Besuch in den Schwarzwald. Kein starres Bild von Verlust und verlorener Heimat wird kultiviert, vielmehr werden Freundschaften gelebt.

Ich blättere im Familienalbum. Mit Pawel und Wojciech auf Schwarzwaldwanderung. Die beiden Brüder wohnen den Sommer über bei uns und arbeiten auf dem Bau. Ich kenne sie nicht anders als lachend, voller Witz und Zuversicht. Russen und Amerikaner werden gleichermaßen Opfer ihres bissigen Humors, meine Mutter übersetzt, was ich nicht verstehe. (In Houston wird beobachtet, wie die Russen den Mond rot anmalen. Macht nichts, sagt Jimmy Carter, nächste Woche fliegen wir hoch und schreiben Coca Cola drauf.) Wir sind mitten im Kalten Krieg. Und doch herrscht in Polen angespannte Aufbruchsstimmung. Es sind die Jahre der illegalen Streiks an der Danziger Leninwerft. Der Führer der Gewerkschaft Solidarność und spätere Präsident Lech Wałęsa sitzt zum Zeitpunkt unserer Wanderung im Gefängnis. Ein halbes Jahr später wird er freikommen, ein Jahr darauf wird die polnische Volksarmee die Macht übernehmen und General Jaruzelski das Kriegsrecht verhängen. Auf einem Foto sitzen Pawel, Wojciech und ich glücklich und zufrieden in einem Ausflugslokal, vor uns auf dem runden Tisch ragen Steinpilze aus übervollen Körben wie im Märchen. Wojciechs rotblonder Haarschopf flammt in der Sonne, während er genüsslich grinsend in eine dunkelbraune Pilzkappe beißt. Zweieinhalb Jahre später wird er, der leidenschaftliche Journalist und lustigste Mensch, den ich bis dahin kennenlernte, tot sein.

Am Samstag, den 13. Februar 1982, im zweiten Jahr des Kriegsrechts unter seinem gehassten Namensvetter Wojciech Jaruzelski, lösen die Milizen eine Demonstration in Posen auf. Wojciech flieht; als er sieht, wie eine junge Frau von den für ihre Brutalität berüchtigten ZOMO-Milizen niedergeknüppelt wird, kehrt er zurück, will ihr beistehen. Ein Schlag trifft ihn am Kopf (als zielte der Schläger auf seine hellwache Intelligenz und Beobachtungsgabe, auf sein Leben), Wojciech bricht zusammen. Ein Taxifahrer fährt in die Menge, die Rettung gelingt, Wojciech wird zu Freunden gefahren. Achtzehn Tage später erliegt er im Krankenhaus seinen schweren Kopfverletzungen. Als Wojciech stirbt, ist er neunundzwanzig, verlobt und voller Zukunft. Seine Beerdigung wird zu einem großen, stillen Protest. Dem Angehörigen der Miliz, der den tödlichen Schlag ausführte, konnte in einem späteren Gerichtsverfahren keine Schuld nachgewiesen werden.

Polnisches Leben begleitet unser Leben im Schwarzwald so selbstverständlich wie folkloristisch. Mitbringsel und Geschenke schmücken unser Heim mit langen rohen Bernsteinketten, geprägten Lederwaren, Gürteln mit mächtigen, getriebenen Schnallen, Kristallgläsern, Webarbeiten in kräftig leuchtenden Farben, die bei uns polnische Farben heißen und die ich unter diesem Begriff sofort vor mir sehe. Nach Besuchen stehen der geliebte Kochkäse mit Kümmel im großen Einmachglas und die Nationalspeise Bigos auf dem Tisch. Auf dem Plattenteller dreht sich der polnische Papst mit Volks- und Weihnachtsliedern (obwohl wir evangelisch sind), und wir hüpfen tanzend und singend mit unserer Mutter auf einen polnischen Kinderreim durchs Wohnzimmer. Eine alte Frau hat Mohn gesät … Trotz aller Hingabe und Versöhnung brechen die Dämonen der Vergangenheit immer wieder aus und zerschlagen das Erreichte.

Zurück im Archiv

Mein linker Zeigefinger neben dem Abdruck ihres linken Zeigefingers auf Tuchfühlung; siebzig Jahre liegen zwischen ihnen. Wo ist meine Mutter, wo ist ihre Seele, die (später) so geübt sein würde, sich vom Körper loszulösen, als der Fingerabdruck entsteht? Reißt sie sich genau in diesem Augenblick von ihm los, in dem eine fremde Hand ihre Hand ergreift, ihren Zeigefinger auf das Stempelkissen drückt? Überlässt sie sich dem fremden Zugriff mehr oder minder willig, sträubt sie sich? Der Abdruck wirkt verrutscht, die Farbe verschmiert. Verraten sich darin das widerspenstige Temperament meiner Mutter (für Familienfotografien hatte man sie festhalten müssen, damit sie nicht entwischte), ihr Trotz und ihre Wildheit, oder mehr noch der Zwang, der auf sie ausgeübt wird? Herrscht Hektik, stehen die Neuankömmlinge Schlange? Noch benommen vom Transport, der nicht, wie erhofft, westwärts nach Deutschland in die Freiheit führt, sondern von einem Gefängnis ins nächste, vom Regen in die Traufe: aus der Haftanstalt Wronki / Wronke zusammengepfercht im Eisenbahnwaggon bis zum Bahnhof Nakło / Nakel, zu Fuß, der Wind schnitt uns wie mit Messern ins Gesicht, über glatte, verschneite Straßen bis Potulice; entmutigt vom neuerlichen Anblick mit Stacheldraht bewehrter Mauern, vom eisernen Gefängnistor, Gebrüll der Wachmannschaften, Anblick der Internierten, die umhergingen wie Schatten, mit geschorenen Köpfen und zerlumpter Kleidung. Sie wird registriert, sieht ihre Hand in fremder Hand, schaut dabei zu, wie ihr linker Zeigefinger aufs Stempelkissen und anschließend auf das dafür vorgesehene Feld gedrückt wird. Siebzig Jahre später begegnen sich unsere Hände, ihr Abdruck, mein Zeigefinger auf gelblichem Papier. Steht ein Fingerabdruck für das, was nicht erzählt werden kann? Für unsere Körper, unser sprachloses Leben? Ist ein Fingerabdruck das weitaus stärkere, lebendigere Zeichen gegenüber Buchstaben, gegenüber den Worten, die an dem, was sie zu erzählen versuchen, haargenau vorbeizielen, wie W. G. Sebald das einmal formulierte? Körpersprache im unmittelbaren Wortsinn? Fingerabdrücke sind, was sie sind. Dennoch vermögen sie eine ganze Szenerie körperhaft in sich einzuschließen. Außer dem Menschen, der sie hinterlässt, bezeugen sie mittelbar auch diejenigen, auf deren Geheiß und unter deren Kontrolle sie entrichtet werden. Fingerabdrücke entstehen weder beiläufig, noch sind sie Selbstzweck, sie werden einem Individuum abgenommen, um es dingfest zu machen. Sie sind etwas anderes als eine Fährte oder eine Spur im Schnee oder im Sand, die einen Weg vorübergehend in einem weichen, natürlichen Element sichtbar macht, sondern bleiben dauerhaft mit einem Menschen verknüpft. Ihr Fingerabdruck ist ein präziserer Ausdruck ihrer Geschichte, als mein noch so akribisch recherchierter Bericht es sein könnte. Sperrte meine Mutter sich deshalb gegen die wiederholt an sie herangetragene Bitte, als Zeitzeugin ihre Erinnerungen aufzuzeichnen oder aufzeichnen zu lassen, weil sie diese Kluft zwischen ihrem Körper und den Worten für unüberbrückbar hielt? Die Wortsprache für eine Abschwächung, eine Fälschung?

Was heißt individuell?

Mehr als ein Dutzend Menschen haben in den vier Jahren ihrer Gefangenschaft ihre Kürzel und Unterschriften auf den Blättern ihrer Akte hinterlassen, unzählige Stempel aufs Papier geklatscht. Immer wieder lese ich die Namen meiner Großeltern und den meiner Mutter in polnischer wie in deutscher Schreibweise, mal korrekt, mal fehlerhaft. Tatsächlich entdecke ich auf einem Verhörprotokoll von 1947 ihre eindeutig gefälschte Unterschrift, mit der sie angeblich bestätigt, den Inhalt der Anklage zur Kenntnis genommen zu haben. Warum hat sie nicht selbst unterzeichnet? Die Signatur gleicht einem parodistischen Buchstabensalat, der Schriftzug wirkt linkisch bemüht. Auf einem anderen Bestätigungsformular bleibt der Raum für die Unterschrift leer.

Vor deutschen hatten polnische Zivilisten unschuldig in Potulice eingesessen, hatten hier gelitten, waren qualvoll zugrunde gegangen. Das Lager war eine deutsche Erfindung. Auf dem Grund eines gräflichen Schlosses mit landwirtschaftlichem Gut errichtet und immer weiter ausgebaut, diente es von Februar 1941 an als Lager für polnische Umsiedler vor ihrer Abschiebung ins Generalgouvernement, ab Sommer 1942 wurde es als Außenstelle des KZ Stutthof zu einem Arbeits- und Ostjugendverwahrlager unter SS-Kommando. 1 291 Tote verzeichnen die von einem Lagerarzt geführten Sterbe- und Bestattungslisten, darunter viele Kleinkinder und Kinder. Ihre tatsächliche Zahl kann sehr viel höher gelegen haben. Bei Annäherung der sowjetischen Truppen im Januar 1945 setzten sich Lagerleitung und Wachpersonal ab. Freigewordene Häftlinge und die polnische Volksbehörde sollen das Lager übernommen und ihren Rachegelüsten gegenüber den jetzt deutschen Gefangenen freien Lauf gelassen haben, ehe die Sowjets die Leitung übernahmen und sie am 15. Juni 1945 der polnischen Geheimpolizei übergaben.

Wer sind die Menschen, denen meine Mutter sich gegenübersieht? Wie sehen sie aus, in welchen Verhältnissen leben sie, in welchen Hierarchien befinden sie sich untereinander? Wie stehen sie zu den Internierten, die standgerichtlich abgeurteilt und als Verbrecher zu bestrafen sind? Ein Teil des Lagerpersonals besteht aus ehemaligen Häftlingen und Überlebenden deutscher Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager. Der Vize-Prokurator trägt den Namen Lehmann – ein Deutscher, Jude? Die einstigen Insassen kennen die Lagerwelt bereits, bleiben deren Teil, jetzt in anderer Rolle und Position. Sehen sie in der jungen Gefangenen nichts als eine verhasste Deutsche, ein Exempel des überheblichen und verbrecherischen Nazivolks, dem man erlittenen Schmerz, die gerade noch am eigenen Leib erlebten Erniedrigungen und Grausamkeiten heimzahlen kann? Besonders gefürchtet wurde der Auschwitz-Überlebende und in Potulice als Quarantänearzt tätige Ignazy Cedrowski (oder Isidor Cederbaum), der deutsche Frauen und Mädchen als Hitlers Nutten beschimpft, gequält und einige so grausam misshandelt haben soll, dass sie daran gestorben seien. Auch meine Mutter war ihm begegnet.

Wurde sie in der Masse der in Potulice Internierten (rund 35 000 in den Jahren 1945-50), durch Glatze und verschlissene Bekleidung als Individuum schemenhaft geworden, überhaupt als Einzelperson wahrgenommen? Unter welchen Umständen und Bedingungen lebt das Lagerpersonal in der vehement unter Stalins Druck stehenden Volksrepublik Polen, inmitten umfassenden Mangels und inmitten von Zerstörung, persönlicher Trauer, Traumatisierung und Entwurzelung? Wie ist hier Überblick zu bewahren, Menschlichkeit, wie können Ernährung, lebensnotwendige medizinische Versorgung und Hygiene gewährleistet werden, wenn schon sauberes Trinkwasser ein Problem darstellt?

Die Zustände sind mehr als erbärmlich (unter den Gefangenen wird kolportiert, man habe mit den dreistöckigen Pritschen die Flöhe und Läuse der Juden geerbt), die Todesrate aufgrund von Unterernährung, Erfrierungen, unbehandelten Krankheiten und Verletzungen, Epidemien, von Ungeziefer und Ratten, körperlichen Misshandlungen, Schlägen und Schikanen (etwa das Einsperren in den gefürchteten Wasserbunker) ist derart hoch, dass sich die Behörden darauf verständigen, keine offiziellen Sterbelisten zu führen. Ausgezehrt, meist ohne festes Schuhwerk, verrichteten die Gefangenen die Arbeit von Zugtieren. Im Falle meiner Mutter hieß dies Waldarbeit, Holzkloben kilometerweit ins Lager ziehen, Särge durch Eis und Schnee bis Nakło schleppen. Heute geht man von rund 3 500 deutschen Opfern im Lager Potulice aus. Die Verstorbenen wurden vor die Baracken gelegt, von wo sie im Morgengrauen zu einer Kiesgrube geschafft wurden, erzählte meine Mutter leise mit gesenktem Kopf. Unter den Toten ist der Bruder Eleonores, der siebzehnjährige Manfred aus Königsberg. Helga, die bereits Ende Januar 1945 als Zehnjährige nach Potulice kam, beobachtete, wie die Toten auf einen Tellerwagen geladen, von Gefangenen zu einer Grube in der unmittelbaren Nähe des Lagers gezogen und hineingekippt wurden. Alle weiblichen Mitglieder ihrer ursprünglich aus Ostpreußen stammenden und zuletzt bei Bromberg lebenden Familie waren in Potulice interniert, ihre anderthalbjährige Schwester Dorothea und ihre Großmutter starben im Lager, die Mutter starb beim Arbeitseinsatz auf einem Staatsgut. Über persönliche Erzählungen bekommen Zahlen erst ein Gewicht.

Double Bind

Ich will etwas erzählen und darf es nicht. Es mag überspannt klingen, wenn eine Fünfzigjährige sagt, meine Mutter verbietet es mir. Ich würde gerne ein Buch schreiben, darf es aber nicht. Meine Mutter ist verstorben und könnte sich nicht mehr dagegen wehren. Mit dem Tod enden aber nicht die Beziehung und die gegenseitigen Abmachungen. Meine Trauer macht mich noch scheuer, unsicherer denn je. Bin ich jetzt frei? Zu sagen und zu schreiben, was und wie immer ich will? Sie wollte nicht, dass ich über sie schreibe. Sie wollte überhaupt nicht, dass ich schreibe. Mit jedem Wort, das ich über sie verliere, mit jedem Wort, das aus dem schützenden Familienkreis nach draußen, in die Öffentlichkeit gelangt, verletzte ich ein für sie lebenswichtiges Tabu. Doch wie kann ich erzählen, ohne ihre Erfahrung mit zu erzählen, ging ihre Welt doch meiner voraus, schreibe ich doch in meiner Muttersprache, also in ihrer? Sobald ich von mir spreche, spreche ich nicht unvermeidlich auch von ihr? Ihr Verbot zu beherzigen hieße, auch mich selbst aus meiner Erzählung zu verbannen.

Ihre Aufzeichnungen erscheinen wie Markierungen verbotener Wege: Eine Spur wird gelegt, eine Richtung angedeutet, der Gang dahin zugleich untersagt. Sie hätte ihre Tagebücher und Briefe vernichten können, doch sie bewahrte sie auf. Für wen? Einmal, vor vielen Jahren, hatte sie mir ihr Tagebuch in die Hand gedrückt, war, während ich versuchte, darin zu lesen, so nervös hinter mir auf und ab gegangen, dass ich kein Wort behielt. Ihr Erfahrungsschatz soll nicht verlorengehen, aber auch nicht gehoben werden. Woran halte ich mich? Darf ich mich aufmachen, graben gehen? Stimmt es, dass diese Markierungen, die meine Mutter hinterließ, ihr Satz, dass es nicht erzählt werden kann und nicht erzählt werden darf, eine Aufforderung darstellen, genau das zu versuchen: ihrer Geschichte nachzugehen? Wenn ja, auf welche Weise, bis zu welchem Grad, gibt es Grenzen? Was war meiner Mutter wichtiger, die Markierung oder das Verbot? Ihre Erfahrungen zu bewahren oder sie zu vergessen? Mir etwas zu vermitteln oder mich davon auszuschließen? Als Tochter ihr Erleben vertrauensvoll zu teilen, als Schriftstellerin die Hände davon zu lassen?

Polacken,Man flieht zusammen, weil es sich so besser flieht,Solange man beisammen ist, empfindet man die Gefahr als verteilt,unüberschaubare(n) Menschenmenge,Wie war mir da zu Mute, als Gefangene durch Posen geführt zu werden! Doch ich war ja nicht allein, tausende gingen den selben Weg, teilten das gleiche schwere Los.ein Leib