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Cover der 1947 erschienenen Originalausgabe »Warschauer Höfe, Menschen und Begebenheiten«.

Abraham Teitelbaum

Warschauer Innenhöfe

Jüdisches Leben um 1900

Erinnerungen

 

Aus dem Jiddischen
von Daniel Wartenberg

 

Herausgegeben
von Frank Beer

 

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Gedruckt mit Unterstützung

der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer

und der

Jehoshua und Hanna Bubis-Stiftung

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Originalausgabe: Buenos Aires, 1947, unter dem Titel Warszewer haif, hg. v. Zentralverband polnischer Juden in Argentinien

Verlagsleitung: Abraham Mittelberg

Umschlaggestaltung: Wallstein Verlag, Marion Wiebel, unter Verwendung der Fotografie »Innenhof mit kleinen Läden im jüdischen Viertel von Warschau«, Willem van de Poll, Niederländisches Nationalarchiv, Fotosammlung Van de Poll, Bestandsnr. 190-0056

Lektorat: Wallstein Verlag, Christiane Weber

ISBN (Print) 978-3-8353-3138-9

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4189-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4190-6

Inhalt

Vorwort des Autors

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Muranowski-Platz 19

Twarda-Straße 2

Historische Fotos

Twarda-Straße 16

Der Hof von Janasche

Graniczna-Straße 7

Gęsia-Straße 29

Nalewki-Straße 15

Pańska-Straße 20

Ceglana-Straße 1

Chmielna-Straße 9

Anmerkungen

Vorwort des Autors

Zum heiligen Andenken

an meine Schwester Perele,

meine beiden Schwager Nachem und Joyel

sowie ihre Kinder und Enkel,

die in den Gaskammern der Nazis den Märtyrertod fanden.

 

Möge Gott ihr Blut und das Blut aller anderen Märtyrer rächen.

 

 

Warschauer Innenhöfe, jüdische Innenhöfe …

 

Einst Festungen von tief verwurzeltem, durch viele Geschlechter aufgebautem jüdischen Leben. In unserer Zeit wurden sie in Schlachthäuser verwandelt, in denen Juden den Märtyrertod fanden und so den göttlichen Namen heiligten.

Hofmauern, zwischen denen man einst die Freude und das Gelächter jüdischer Kinder in ihrem ärmlichen, aber liebevollen Zuhause hören konnte, legen jetzt stummes Zeugnis ab von den Todesqualen, unter denen unsere Liebsten und Teuersten Tag für Tag, Nacht für Nacht umkamen.

Pflastersteine, über die jahrelang die lebhaften Schritte unserer Väter und Brüder, unsere eigenen oder der uns Nahestehenden, führten, sind nun vom Blut unserer Mütter und Schwestern getränkt, die durch einen finsteren Feind gequält wurden.

 

… es zerreißt mir das Herz, wenn ich an euch denke.

 

Und weil ich weiß, dass das jüdische Leben in euch ausgelöscht wurde, weil ich weiß, dass eure frühere Fröhlichkeit und Atmosphäre nicht so schnell zu euch zurückkehren werden, dass in Zukunft jüdisches Leben auf euch sicher nicht so aussehen wird wie einst, will ich von euch erzählen.

Ich will von den einfachen, herzlichen und liebenswerten jüdischen Menschen erzählen, die in euch wohnten, ihre Kinder großzogen, ihr Leben führten, ein jüdisches Leben, mit all seinen Reizen und seinem Glanz, seinen Farben und Klängen.

Von den alltäglichen, unheroischen Juden, die mit ihrem einfachen Volkssinn ein riesiges Reservoir an Volkskraft und Volksglauben geschaffen haben, welches uns in all den Jahren während all unserer schweren Prüfungen half uns aufrecht zu halten, will ich erzählen. Diese Kraft unseres Volkes, die es jetzt, in den schwärzesten Tagen unserer Geschichte, geschafft hat, das Wunder zu vollbringen, die einfachen Menschen in Helden zu verwandeln. Ihnen den unglaublichen Mut zu geben, mit bloßen Händen einem gepanzerten Feind Widerstand zu leisten, um den jüdischen Namen groß werden zu lassen und ihm Würde zu verleihen.

Abraham Teitelbaum
New York, 1947

Vorwort
zur deutschen Ausgabe

Abraham Teitelbaum (alternative Schreibweisen möglich, z. B. Avrum Teitelboym, Taytelboym etc.) wurde am 1. März 1889 in Warschau geboren. Er erzählt in diesem Buch auf rührende Weise von seiner Kindheit und seinen späteren Erlebnissen im Warschau kurz nach der Jahrhundertwende sowie während der stürmischen und weichenstellenden Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und der versuchten Revolution von 1905. Der Leser lernt eine Vielzahl bunter Charaktere kennen und erfährt vieles über längst in Vergessenheit geratene Lebensgewohnheiten im damaligen jüdischen Warschau. Am Ende der Lektüre wird er einige Beweggründe der Menschen kennen, die zwischen verschiedenartigen, mitunter radikalen Strömungen, wie dem Sozialismus oder Zionismus, die Wahl hatten. Er hat auch etwas über ihren Durst nach Kultur erfahren: Der Beginn der berühmten Blütezeit jiddischen Kulturlebens nimmt Gestalt ebenso an wie zahlreiche der beteiligten Persönlichkeiten. Viele der erwähnten Orte, Gebäude und Straßen sind verschwunden, dennoch kann man auch im heutigen Warschau noch gut auf ihren Spuren wandeln und in verschiedenen Institutionen den erwähnten Persönlichkeiten nachspüren.

Die jüdischen religiösen Bräuche werden zum besseren Textverständnis in einer Fußnote erläutert. Diese Erläuterungen gehen dabei bewusst über den Rahmen des bloßen Textverständnisses hinaus, um den Leser ein wenig in die Vorstellungswelt des Judentums zu versetzen, die das Leben der in diesem Buch erwähnten Personen bestimmte.

Zum weiteren Lebenslauf von Abraham Teitelbaum sei erwähnt, dass er, nachdem er, wie im Buch beschrieben, schon früh mit dem jiddischen Theater in Kontakt gekommen war, später eine erfolgreiche Karriere als jiddischer Schauspieler – vor allem als Charakterdarsteller, aber auch als Bühnenregisseur – verfolgte. Nach einer Anstellung als Souffleur im Jahr 1907, die ihn, auch dies wird im Buch beschrieben, nach Sankt Petersburg führte, erhielt er ein Jahr später seine erste Bühnenrolle. Er spielte während der folgenden Jahre in verschiedenen Ensembles und reiste nach Paris, London und Buenos Aires. Während des Ersten Weltkriegs hielt er sich in London auf, unmittelbar nach Ende des Kriegs verschlug es ihn in die USA, wo er Direktor des Schauspielstudios der Peretz-Gesellschaft wurde. Noch im selben Jahr zog er nach Minsk und arbeitete dort als Regisseur der dortigen »Dramatischen Gesellschaft«, auch in der »Wilnaer Truppe« (Wilna gehörte in jener Zeit zu Polen) war er tätig. Ab 1919 lebte er wieder in den USA und spielte an den Häusern in Chicago, Philadelphia und New York. 1928 / 1929 unternahm er eine Gastreise nach Polen, musste das Land aber infolge eines gegen ausländische Schauspieler gerichteten Erlasses wieder verlassen. Mit der Rückkehr in die USA im Jahr 1930 begann seine Filmkarriere mit Rollen in »Tsvay tekhter« – »Zwei Töchter« und in Jacob Mestels »Der vandernder yid« – »Der wandernde Jude« (1933), auch unter dem Titel: »Jews in Exile«; Teitelbaum hatte allerdings zuvor schon in Paris eine Filmrolle erhalten. Im Sommer 1932 unternahm er, auch dies erwähnt er im Buch, eine Reise ins Heilige Land, das damals britisches Mandatsgebiet war. Er arbeitete unter anderem als Essayist und Theaterkritiker und verfasste einige Werke in jiddischer Sprache über das Theater und die Schauspielkunst sowie eine Shakespeare-Biographie. Außerdem übersetzte er zahlreiche Stücke aus dem Jiddischen ins Englische.

Abraham Teitelbaum starb am 16. Oktober 1947 im Alter von 58 Jahren in New York.

Anmerkung zur Übersetzung

Soweit möglich, ist die Transkription der jiddschen Namen und Begriffe der deutschen Sprache angeglichen. Da es keine »offizielle« Transkription der jiddischen Sprache gibt, wurde bei den bekannten Namen mitunter die geläufigste internationale Schreibweise übernommen, verschiedene Versionen wurden gegebenenfalls angegeben (dabei entspricht die Buchstabenkombination »kh« dem deutschen »ch«, »sh« dem deutschen »sch« und »z« dem stimmhaften »s«, wie in »Rose«). Einige Namen stehen in ihrer polnischen Transkription. Hierzu sei allgemein angemerkt, dass die Buchstabenkombination »sz« dem deutschen »sch« entspricht, »ck« getrennt gesprochen wird und das »z« ebenfalls wie das »s« in »Rose«. Desgleichen gibt es im hebräischen Alphabet, in dem die jiddische Sprache geschrieben wird, keine Groß- und Kleinschreibung; in der Transkription wird sie deshalb von Fall zu Fall unterschiedlich gehandhabt.

Darüberhinaus sei bemerkt, dass das Jiddische grob in zwei Dialekte unterteilt werden kann. Beispielsweise wird, was im polnischen Jiddisch wie »u« klingt, im litauischen Jiddisch »o« ausgesprochen, das litauische »u« wiederum wird im polnischen Jiddisch zu »i«, wobei das Schriftbild jedoch unverändert bleibt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass heute – vor allem in den USA – eine artifizielle Aussprache Verbreitung gefunden hat. Aus diesen und anderen Gründen kann die Transkription des Jiddischen in diesem Buch nie konsequent sein, sie ist immer nur eine von mehreren Optionen.

 

Teitelbaums Erinnerungen »Varshever heyf« (Warschauer Innenhöfe) erschienen in der bedeutenden jiddischsprachigen Schriftenreihe »Dos poylishe yidntum«[1], die Mark Turkow in Buenos Aires seit 1946 für den Zentralverband der Polnischen Juden in Argentinien herausgab. Ihr Ziel war es, dem untergegangenen polnischen Judentum ein literarisches Denkmal zu setzen. Teitelbaums Buch erschien als Nummer 23 in dieser Reihe, inmitten der bedeutendsten jiddischen Historiker und Schriftsteller seiner Zeit, unter ihnen Chaim Grade, Schalom Asch, Rochl Korn, Y. Y. Trunk, Max Weinreich und Filip Friedman. Auch Mordechai Strigler, Elie Wiesel und Ka-Tzetnik publizierten in diesem Rahmen. In Tausenden von jüdischen Haushalten – von Montreal bis Paris und von Buenos Aires bis Melbourne, aber auch in Polen und in den europäischen Displaced-Persons Lagern – standen die schwarzen Bände mit der charakteristischen roten Schrift oder die Taschenbuchausgaben mit ihren dramatischen Einbandzeichnungen. »Dos poylishe yidntum« hatte bis in die fünfziger Jahre eine globale jiddische Leserschaft, und nicht weniger als 175 Bände erschienen insgesamt bis zur Einstellung der Reihe im Jahr 1966. Neben Erfahrungsberichten der Überlebenden aus den Lagern erschienen auch Bände zu kulturgeschichtlichen Themen, ebenso wie Romane.

Unter den Büchern der Reihe befinden sich mehrere, die sich mit der Rolle des Theaters in der polnisch-jüdischen Kultur der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen, ein Thema, das dem Herausgeber Mark Turkow besonders am Herzen lag, denn einige seiner Brüder waren Schauspieler, Regisseure und Dramatiker. Auch er selbst hatte eine Reihe von Artikeln über das Theater geschrieben. Unter den Werken, die der künstlerischen Szene in Polen einen großen Raum geben, sind die Memoiren von Zygmunt Turkow, die von dessen Schwester verfasste Biographie von Jizchak Katzenelson – und eben die Arbeit von Abraham Teitelbaum: Varshever heyf.

 

Frank Beer Daniel Wartenberg
(Herausgeber) (Übersetzer)

Muranowski-Platz 19

Der Hof am Muranowski-Platz Nr. 19 war kein sonderlich großer Hof, er war schmal und lang, so wie Hunderte andere seiner Art in diesem engen Stadtteil des jüdischen Warschau. Die eine Seite des Hofes, die am innersten gelegene, wurde durch ein zweistöckiges Gebäude gerahmt; die übrigen Seiten, die ihn umgaben, von einstöckigen Gebäuden. In der Mitte des Hofes stand eine kleine Pumpe, an der alle Bewohner ihr Trinkwasser holten. Diese diente auch als Treffpunkt für die Frauen, die dort in ihren freien Minuten ein Schwätzchen hielten, oder für die Kinder, die sich hier zum Spielen trafen.

Der Hof war wie ein Spiegel seiner Bewohner. Stand in ihrem Leben alles zum Guten, war niemand krank, Gott behüte, und hatte sich bei keinem etwas Sonderliches ereignet, war der Hof lebendig, gemütlich und freundlich. Hatte aber jemand etwas Schweres durchgemacht, oder war jemandem ein Unglück widerfahren, so war der Hof menschenleer, sorgenvoll und düster. Denn die Not eines seiner Bewohner war immer auch die Not und Sorge des ganzen Hofes. Trotz aller Unterschiede und gelegentlichen Reibereien lebten die Menschen des Hofes wie eine große, weitverzweigte Familie zusammen. Man stritt und vertrug sich, mochte und hasste sich, so wie es einander sehr nahestehende Menschen zu tun pflegen, die fast wie aus demselben Fleisch und Blut sind.

Und dieses familiäre Gefühl auf dem Hof hielten nicht unbedingt die Erwachsenen aufrecht. Die Väter ließen sich wochentags selten sehen. Sie waren mit der Sorge um das tägliche Brot beschäftigt, die sie früh hinaustrieb und erst spät wieder heimkehren ließ. Auch die Mütter waren den größten Teil des Tages entweder an die Küche gebunden oder mit Putzen und Waschen beschäftigt. In den ärmeren Familien unterstützten sie zudem auf verschiedene Art und Weise ihre Männer beim Broterwerb. Es waren die Kleinen, die Kinder, die das familiäre Netz knüpften und es über den ganzen Hof spannten. Sie hatten nahezu sämtliche Schranken zwischen einem Heim und dem nächsten abgeschafft; sie wussten, was in allen Töpfen gekocht wurde. Bis spät in die Nacht saßen sie bei den Nachbarn, bis man sie gutmütig wegschickte: »Geh nach Haus’, es ist schon spät, deine Mutter ruft dich …«

Die Kinder waren es, die den Hof beherrschten, sie mochten sich oder waren sich feind, spielten miteinander oder schlugen sich, vertrugen sich wieder. Die Jungen gründeten kleine kolejkes[1], »Schlangen« genannt, die von Zeit zu Zeit Krieg mit anderen Jungenbanden von benachbarten Höfen führten. Und für uns Kinder – ich als Acht- oder Neunjähriger gehörte mit einigen Gleichaltrigen dazu – war der einfache Hof gar kein einfacher Hof. Für uns war er schon deshalb ein ganz besonderer Hof, weil er an den Muranowski-Platz grenzte, wo sich damals einer der wichtigsten jüdischen Marktplätze befand. In späteren Jahren ist dieser typisch jüdische Markt abgeschafft worden. Der Muranowski Markt diente Hunderten jüdischer Familien als Erwerbsquelle, die dort ihre Verkaufsstände, Marktbuden und Klapptische aufstellten. Der Muranowski Markt wurde auch einfach nur »der Muranów« genannt. Was wurde nicht alles auf dem Muranów gehandelt! Dort standen Buden, an denen Fisch verkauft wurde, Karpfen, Schleien, Hechte und Zander. Buden mit Broten, Hefezöpfen für den Sabbat, Striezeln,[2] Semmeln und Kaisersemmeln. Buden mit Eisentöpfen, Blechgabeln, Nudelhölzern, irdenen Durchschlägen, Schüsseln aus Ton und Tellern aus Porzellan. Buden mit Schnüren, Bändern, Knöpfen, Haken, Schleifen und Spitzen. Buden, an denen man verschiedene Stoffe, Seidenwaren, Cord, Kammgarn, bunte Baumwollstoffe und Cretonne[3] kaufen konnte. Buden, an denen es Äpfel, Pflaumen, Melonen, Birnen, Kürbisse, Stachelbeeren und Johannisbeeren gab. Fässer mit Heringen, Käse, Butter, Sauerkraut und Gurken. Buden mit Hunderten von Tischtüchern, Bettzeug, Hüten, Hosen und Eisenwaren. Jüdische Frauen mit breiten Schürzen und jüdische Männer mit Lederbörsen, darin Silber- oder Kupfermünzen, handelten dort, wogen ab, maßen und hantierten mit Geld. Von morgens früh bis abends spät, im Sommer wie im Winter, bei gutem und bei schlechtem Wetter hörte man dort das Stimmengewirr und den Lärm von Hunderten jüdischen Kunden, die aus allen umliegenden Straßen strömten, um Schnäppchen zu suchen, zu feilschen, die Waren zu durchstöbern, zu begutachten und zu kaufen.

Für uns Kinder war der Muranów eine ganze Welt für sich. Der Platz war das Herz und das Zentrum von allem, was unser kindliches Bewusstsein erfassen konnte. Vom Muranów zweigten alle Straßen ab und führten weit, weit weg … Am Muranów begann die berühmte Nalewki-Straße, die lange jüdische Straße mit all ihren Geschäften und prall gefüllten Schaufenstern. Vom Muranów gingen auch die beiden Schmale Mile und Breite Mile[4] genannten Straßen ab, auf denen sich die Chaddurim,[5] die Talmud-Torah-Schulen und die Synagogen befanden. Hier begann auch die Pokorna-Straße, die zum Wojna-Platz führte und zum Bahnhofsgelände, den einzigen Grünflächen in der Umgebung, zu denen jeden Sabbatnachmittag die jüdischen Kinder hinausschwärmten, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. In der Nähe vom Muranowski-Platz befand sich auch die Bonifraterska-Straße, wo eine große Irrenanstalt stand. Dort stellten wir Kinder uns oft stundenlang hin und blickten zu den vergitterten Fenstern hinauf. Durch diese konnte man die sonderbaren Gestalten zwar kaum erkennen, dennoch erschreckten sie uns, zogen uns gleichzeitig aber auch an. Nicht weit vom Muranowski-Platz befand sich auch die Nowiniarska-Straße mit »Zirreles Festsaal«, dem großen Saal, in dem jüdische Hochzeiten gefeiert wurden. Jedes Kind träumte davon, einmal dort hineinzugelangen. Auf dem Muranowski-Platz befand sich auch der »cyrkuł«[6], die Polizeiwache, wo für gewöhnlich die Diebe, Radaumacher und Betrunkenen hingebracht wurden, was immer aufregend für uns Kinder war, und wo wir unsere Neugierde stillten. Sozialisten und Streikende hat man in diesen Jahren – gegen Ende des 19. Jahrhunderts – noch nicht gesehen. Von solchen Dingen hörte man im jüdischen Warschau damals wenig.

Für uns Kinder war es von großer Bedeutung, dass unser Hof auf den Muranowski-Platz hinausging. Die meisten unserer Nachbarn verdienten dort ihren Lebensunterhalt. So zum Beispiel Herr Hersch, der nur »der Mann von Frau Sprintze, der Kurzwarenhändlerin« genannt wurde. Man nannte ihn nach seiner Frau, nicht etwa weil sie die Brotverdienerin gewesen wäre, Gott behüte. Nein, er ging schon einem Beruf nach, er handelte, gemeinsam mit seinen drei Söhnen, mit Kurzwaren. Aber seine Frau war schwach und wehleidig, und Herr Hersch war in permanenter Sorge um sie, gab ihr in allem ständig nach, sodass es schien, als ob er nur von ihrer Gnade lebte. Herr Hersch war ein zarter Mensch, mit einem blassen Gesicht und einem kurzen, schütteren, blond-gräulichen Bärtchen. Bestimmt war er auch sehr gebildet,[7] obwohl er nie die Gelegenheit bekam, dies zu beweisen. Er war ständig abgeschlagen und blickte sorgenvoll drein. Auf dem Markt besaß er einen Stand mit Kurzwaren, wo er in großen, offenen Holzkisten jede Menge Bänder, Schnüre, Haarbänder, Kämme, Socken, Knöpfe, Häkchen sowie Steck- und Nähnadeln feilbot.

Die Wohnung des Kurzwarenhändlers zog uns Hofkinder magisch an. Fast den ganzen Tag lang war es dort dunkel, denn die beiden kleinen Fensterchen, die auf den zweiten, kleineren Hof hinausgingen, wo sich der von allen geteilte Abort befand, ließen weder Licht noch Luft hindurch. Das Halbdunkel war ständig mit Sprintzes Stöhnen und Klagen über ihren ewigen Rheumatismus erfüllt. Abends aber nahm das armselige Zimmer, welches gleichzeitig als Schlaf-, Ess- und Gästezimmer diente, ein sehr verlockendes und äußerst liebenswürdiges Aussehen an. Herr Hersch pflegte in den großen Geschäften verschiedene Restposten aufzukaufen, alle möglichen, bunt gemischten Warenreste. Diese wurden in zugenagelten Kisten zu ihm nach Hause geschafft, um dort sortiert zu werden. Zu diesem Zweck wurden alle Kinder des Hofes mobilisiert. Rund um den großen Tisch, über dem eine helle Kerosinlampe brannte, saßen die versammelten Kinder aus der ganzen Nachbarschaft. Aus den Kisten wurden haufenweise ineinander verhedderte Sachen genommen, die wir Kinder dann entwirren und sortieren mussten. Und mit was für einem Herzklopfen und was für einer Neugier betrachteten wir jedes neu herausgenommene Knäuel! Als stamme es aus der verzauberten Kiste eines Magiers oder eines Trickkünstlers. Was konnte man da nicht alles finden! Bunte Seidenbänder, Haarnadeln und Schnürbänder. Zerknitterte Spitzen, die sich mit einem Haufen Häkchen und Stecknadeln verheddert hatten. Und plötzlich blitzte ein kleines, an den falschen Ort gelangtes, perlmutternes Messer auf oder sogar ein kleines elfenbeinernes Kinderkaleidoskop, in welchem man, sah man hinein, kleine Figuren erblicken konnte. Plötzlich rollte da eine kleine seidene Geldbörse heraus oder dort ein bunt angemaltes Kästchen, aus dem, öffnete man es, ein lachender Clown heraussprang. Die Kinderaugen leuchteten bei der Entdeckung solcher Fundstücke hell auf, ein allgemeiner Ausruf des Erstaunens löste sich aus den jungen Kehlen, und man sortierte mit umso größerer Lust weiter die Knöpfe, Strumpfbänder und Nähnadeln. Die Leitung beim Aussortieren übernahmen immer die Söhne von Herrn Hersch, unter der Oberaufsicht der verhätschelten Sprintze. Inzwischen aber legte sich Herr Hersch todmüde, noch in seinen Kleidern, zum Schlafen. So saßen wir mit roten Köpfen und wie trunken bis spät in die Nacht beim Kurzwarenhändler und fühlten uns wie in einer verzauberten Welt.

Wir Kinder liebten nicht nur die Wohnung des Kurzwarenhändlers, sondern auch ihn selbst, seine treuherzige Frau und seine Kinder, besonders den ältesten Sohn, mit Namen Lejser, der als Schönling des Hofes galt. Er war ein rothaariger Bursche von 16 Jahren, mit guten, wenngleich auch etwas stolzen Augen. Er war sehr begabt und hatte sich selbst das Geigenspielen beigebracht. An den Sommerabenden füllte sich unser kleiner Hof mit Lejsers sehnsuchtsvollen Weisen, die er sich zum größten Teil selbst ausgedacht hatte. Und nicht nur ein Instrument spielen konnte er: Lejser dachte sich auch jiddische Lieder und dazu passende Melodien aus. Ein solches Lied, an das ich mich erinnern kann, handelte von einem Talmudschüler, der zu seinem Bedauern gezwungen war, bei fremden Leuten seine Mahlzeiten einzunehmen. Eine der Strophen des Liedes ist mir im Gedächtnis geblieben:

Wi ich ti sich nor in klois baam tisch setzen,
hayb ich schoin un tzi trachtn
wi neymt men tzi esn.

Und nach jeder Strophe folgte der Refrain:

Oy way, ich urim bucherl,
oy way, ich urim bucherl.[8]

Lejsers künstlerisches Talent und überhaupt sein ganzes Benehmen übten einen großen Zauber auf die Kinder aus. Alle Mädchen waren in ihn verliebt. Er war jedoch zu aufrichtig, um sich etwas darauf einzubilden, außerdem hatte er alle Hände voll zu tun, seinen Vater beim Broterwerb zu unterstützen.

Auch der zweite Sohn, Chaim, half mit voller Hingabe, die schweren Kisten mit der Ware zum Markt hin und wieder zurückzutragen. Er war von einfachem Gemüt und im Vergleich zu seinem älteren Bruder eher schüchtern. Ein ganz eigener Charakter unter den Hofkindern war jedoch der jüngste Sohn des Kurzwarenhändlers, der rothaarige, zehnjährige Jossele, ein Stotterer, den man halb im Spott und halb mit Zuneigung bei seinem Spitznamen »Ko-Ko-Koselech« (»Zi-Zi-Zicklein«) rief.

Der Spitzname war folgendermaßen entstanden: In jenen Tagen, als Polen unter der Herrschaft des Zaren stand, spielten dessen Kosaken eine wichtige Rolle bei der »Aufrechterhaltung der Ordnung« in Warschau. An jedem Sommerabend, wenn es Zeit wurde, die Verkaufsstände auf dem Muranowski Markt zu schließen, die Juden sich aber nicht beeilten, das Geschäftstreiben zu beenden, fiel auf dem Muranów eine Bande von Kosaken auf ihren kleinen, flinken Pferden ein und verjagte die Händler. Dies war keine geringe Plage, aber weil sich die Szenerie regelmäßig Abend für Abend wiederholte, hatte man sich bald daran gewöhnt und machte sich geradezu einen Spaß daraus. Die Kosaken knallten mit ihren Peitschen und stellten dabei eine beträchtliche Grausamkeit zur Schau, aber die Leute hatten gelernt, die Jäger auszutricksen. Sobald die Kosaken die Leute auseinandergetrieben hatten, kehrten diese schon bald wieder an Ort und Stelle zurück und zwangen so die Kosaken, sie abermals zu verscheuchen. Dies zog sich so lange hin, dass man fast glauben konnte, es handele sich um eine Art Spiel, bei dem es darum ging, wer zuerst müde werde. Schlussendlich leerte sich der Markt langsam. Während einer solchen Jagd war der rothaarige Jossele einmal atemlos in den Hof gestürzt und hatte sich bei dem Versuch, kundzutun, dass die Kosaken mit der Jagd begonnen hätten, stärker als gewöhnlich verhaspelt, und alles, was er herausgebracht hatte, war: »Die Ko-Ko-Koselech …!« Und so war er zu seinem Spitznamen gekommen.

Ein weiterer Bewohner des Hofes, der sein Auskommen auf dem Muranów fand und der auf uns Kinder einen unwiderstehlichen Zauber ausübte, war der Topfhändler Fulje mit seiner Frau, genannt »die Fuljecherin«. Herr Fulje, ein Mann mit einem derben, vom Wetter gegerbten Gesicht, war kinderlos und seiner alten Frau sehr verbunden. Man sah die beiden nie allein, immer nur zusammen. Ihnen muss immer kalt gewesen sein, denn der alte, grauhaarige Herr Fulje trug sommers wie winters ein kurzes gefüttertes Jackett und ein Lammfellhütchen auf dem Kopf, und seine Frau war stets in ihr dickes Schultertuch eingehüllt, das sie an beiden Ecken hinter ihrem Rücken zusammengebunden trug. Ihr ganzes eigentümliches Leben steckte, wie es schien, ausschließlich in den irdenen Töpfen und Schüsseln, mit denen sie an ihrem Stand auf dem Markt handelten.

Einmal in der Woche, an jedem Mittwochabend, fuhr ein großer, bis oben mit Töpfen vollgepackter Wagen auf den Hof. Die Töpfe wurden ausgeladen und vor Herrn Fuljes Fenster auf die Erde gestellt. Zum Ausladen setzte man auch die Kinder des Hofes ein, die auf dieses Ereignis nur gewartet hatten. Wir stellten uns dazu in zwei Reihen auf. Oben auf dem Wagen stand der Pole, der die Ware von irgendwoher gebracht hatte, und reichte uns die irdenen Gefäße herunter. Und wir Kinder stellten sie unter der Aufsicht von Herrn Fulje und seiner Frau auf dem Boden in schnurgeraden Reihen auf weichem Heu gebettet auf, damit sie nicht zerbrächen. Dabei musste man darauf achten, die großen Töpfe zu den großen, die kleinen zu den kleinen, große Schüsseln zu großen, kleine zu kleinen zu stellen, entweder nach Größe oder Machart oder sogar nach Farbe angeordnet. Wir hatten gelernt, dies sogar in der Dunkelheit zu unterscheiden. Am nächsten Morgen sah der Hof wie eine modern gepflasterte, vielfarbige Allee von Töpfen aus, zwischen denen man kaum hindurchgehen konnte, bis die ganze Ware schließlich hinaus auf den Markt getragen war, um dort über die Woche verkauft zu werden. Dieses Ausladen verwandelten wir Kinder in ein höchst fröhliches Unterfangen, das seinen Teil dazu beitrug, eine familiäre Atmosphäre auf dem Hof zu schaffen.

Ebenfalls ein für uns Kinder sehr interessantes gemeinschaftliches Unternehmen waren die Donnerstagabende im Haus des Bäckers, der am Hof wohnte. Er hatte nur eine kleine Bäckerei. Ich erinnere mich nicht mehr, ob der Hausherr überhaupt noch lebte, wir bekamen ihn nie zu Gesicht. Die Bäckerei leiteten die beiden schönen Töchter und der ältere Sohn. Sie lebten sehr zurückgezogen, und die ganze Woche hörte man nichts von ihnen. Nur selten hatten wir das Glück, einmal in die Bäckerei selber hinunterzusteigen, dort wo die halbnackten, mehlbestäubten Bäckergesellen über den Trog gebeugt standen und den Teig kneteten oder die Hefezöpfe flochten.[9] Jeden Donnerstagabend jedoch mussten die Möbel in der großen Stube an die Wände gerückt und auf dem leergeräumten Fußboden die großen heißen Hefezöpfe und Striezel, die die Bäckergesellen aus der Backstube heraufbrachten, zum Auskühlen ausgebreitet werden. Und das Zimmer sauber zu bekommen war keine so einfache Angelegenheit. Ich weiß nicht zu welchem Zweck, aber die Bäckerstöchter hielten die ganze Woche über Kaninchen in der Wohnung. Die Kaninchen, die frei herumliefen, mussten also gefangen und eingesperrt werden, bis die Hefebrote wieder weggebracht wurden. Dazu brauchte es eine gewisse Erfahrung und Geschicklichkeit – und die Spezialisten hierfür wurden unter den Kindern ausgesucht. Wir legten uns auf den Fußboden, ein Körbchen mit Grünzeug vor uns haltend, ein wenig Kraut oder Möhren darin, und versuchten auf verschiedene Art und Weise die ihre Ohren spitzenden Kaninchen zu überlisten, auf dass sie in die Körbe hineinhoppeln und das Grünzeug essen sollten.

Die Kaninchen schauten von Weitem mit ihren roten Äuglein herüber und schnupperten mit ihren weißen Näschen, trauten sich erst nicht, kamen dann aber nach und nach doch näher, steckten ihre Köpfchen in die Körbchen und krochen schließlich ganz hinein. In dem Moment mussten wir das Körbchen ganz schnell senkrecht aufrichten und dafür sorgen, dass das Kaninchen darin blieb. Es war fast wie ein Wettbewerb, der uns viel Freude bereitete. Erst wenn alle Kaninchen gefangen waren, wurden die heißen, duftenden, spitz zulaufenden Hefezöpfe, einer neben dem anderen, auf dem Fußboden in langen Reihen ausgebreitet. Bis spät in die Nacht hinein zogen sich diese fröhlichen Donnerstagabende, an denen wir uns zum »Wettkampf« in der Wohnung der sich geradezu herrschaftlich aufführenden Bäckerstöchter trafen.

Ein allseits beliebter Nachbar des Hofes war Herr Isruel[10], der Zigarettenhersteller, der in einer ärmlichen Wohnung im ersten Stock wohnte. Er war ein magerer, schweigsamer Mensch mit traurigen Augen. In der kleinen, häuslichen Zigarettenfabrikation, die er in seiner bescheidenen, engen Wohnung betrieb, war er Fabrikant und der einzige Arbeiter zugleich. Er schleppte allein die großen Schachteln mit den Hülsen herbei, saß einsam den ganzen Tag und die ganze Nacht in seiner Wohnung und befüllte die Hülsen mithilfe einer kleinen, handbetriebenen Maschine mit Tabak, packte sie wieder ein und brachte sie zurück in irgendeine große Fabrik, von wo er diese Arbeit zuvor mit nach Hause gebracht hatte. Alle Nachbarn, insbesondere die Kinder, mochten ihn sehr, aber noch mehr als das bemitleideten sie ihn. Zum einen, weil er Witwer war und sich allein um Haushalt und Kinder kümmern musste, und zum anderen, weil er an der Schwindsucht litt.

Noch mehr als den Vater, Herrn Isruel, mochten wir alle seine Tochter, die vierzehnjährige Sure[11], gleichwohl ohne sie zu bemitleiden. Sie war ein fröhliches Mädchen, temperamentvoll und sehr begabt. Sie half den Haushalt zu führen, das spärliche Essen zu kochen und wusch ihren Geschwistern die Haare. Darüber hinaus führte sie den ganzen Hof an: Sie brachte den Kindern die verschiedensten Spiele bei, kannte alle vertrauten Lieder auswendig und befahl, wer mit wem befreundet sein durfte und wer mit wem die bei Kindern üblichen, unschuldigen Liebschaften führen sollte. Und noch wegen eines anderen Umstandes genoss Sure in den Augen von uns Kindern ein hohes Ansehen: Sie arbeitete in einer Schokoladenfabrik. Dort sortierte sie die Schokolade, wickelte sie in Silberpapier und verpackte sie in kleine Kästchen. Ihre Arbeit war vermutlich nichts Besonderes, aber unter uns Kindern ließ der bloße Gedanke daran, dass sie freien Zugang zu den leckeren Naschereien hatte, sie als privilegiert erscheinen. Ich erinnere mich, mit welch klopfendem Herzen wir immer zu dem Keller in der Pokorna-Straße gingen, wo Sarah arbeitete. Die geöffneten Fenster der Kellerfabrik waren mit Gittern versehen, aber das störte uns nicht, wir konnten die Köpfe hindurchstecken und zuschauen, wie Sure die Schokoladentäfelchen flink in die glänzende, silbrige Umhüllung verpackte. Wie groß war die Spannung, wenn Sure eine Minute abpasste, in der keiner hinschaute, und uns durch das offene Fenster etliche silberverpackte Schokoladentäfelchen heraufwarf. Die gute, lausbubenhafte, fröhliche Sure …

Nicht wenig Interesse, gepaart mit ein bisschen Neid, rief auf dem Hof ein gewisser Herr Abba hervor, ein Mann in mittleren Jahren, mit einem stets lächelnden Gesicht, aber nie ausgeschlafenen Augen. Der Neid rührte daher, dass man ihn für etwas zu geschäftstüchtig hielt. Jeder normale Mensch ging zwei Erwerbstätigkeiten nach, einer im Sommer und einer im Winter. Herr Abba aber hatte es zuwege gebracht, in seiner engen Zweizimmerwohnung sowohl eine kleine Sodawasserfabrik als auch eine kleine Wattefabrik einzurichten. Wie er das geschafft hat, weiß ich nicht. Aber in seiner Wohnung war ständig etwas »am Laufen«. Im Sommer lief die Maschine, die Sodawasser herstellte und dieses dann in kleine Ballons aus Kupfer oder in gläserne Siphonflaschen abfüllte, und im Winter wiederum die Maschine, die ganze Stränge von weicher weißer Watte zerpflückte und in Form brachte. Reich wurde er mit seinen beiden Erwerbstätigkeiten jedoch offensichtlich nicht. Das konnte man sowohl an der Kleidung der Mitglieder des Haushalts erkennen, als auch daran, dass er keine Angestellten hatte, sondern alle Arbeiten allein ausführte. Wo er im Winter die Sodawassermaschine lagerte oder im Sommer die Wattemaschine, wusste niemand. Herr Abba ließ selten jemanden seine kleine Fabrik betreten. Daher war es für uns Kinder ein ganz großes Ereignis, wenn wir uns einmal hineinstehlen und zusehen konnten, wie die Maschinen brummten, während wir manchmal halfen, die Siphonflaschen mit Sodawasser oder die Wattepacken hinauf- oder herunterzutragen.

Einen ganz besonderen Rang in der Nachbarschaft nahm die Wohnung der »Litvaker«,[12] wie sie genannt wurden, ein. Was für einer Tätigkeit sie nachgingen, wusste niemand so genau. Man rief sie mit diesem Beinamen, um auf ihr befremdliches Anderssein hinzuweisen, aber auch um sich bei ihnen zu rächen, mit einer Prise spöttischem Humor. Ihre Wohnung betrat fast nie jemand. Dies zu tun oder nicht zu tun lag ohnehin nicht in den Händen von uns Kleinen, obwohl es uns auf Biegen und Brechen dort hinzog, denn die Wohnung war umwittert von Geheimnissen. Eines dieser Mysterien zum Beispiel war, dass dort, anders als in allen anderen uns bekannten Stuben, nicht zwei getrennte Betten für die Eltern standen, sondern nur ein gemeinschaftliches.[13] Dass so etwas überhaupt möglich war, konnten wir uns in unseren jungen Köpfen gar nicht vorstellen. Ich erinnere mich, wie viel Schrecken und unglaublich große Spannung wir, ein Grüppchen von Kindern, empfanden, als wir heimlich und auf Zehenspitzen an einem Nachmittag irgendeines Feiertags in die Wohnung der Litvaker geführt wurden und man uns durch die leise aufgesperrte Tür hineinließ. Alles war sauber und aufgeräumt, der Fußboden war mit frischem Sand bedeckt, die Möbel standen in stiller Sittsamkeit, und, ja wirklich, im großen weiß bezogenen Bett lagen der Litvak und seine Frau und hielten mit Genuss ihr Feiertags-Nachmittagsschläfchen … Wir Kinder liefen vor Schreck und Scham davon und stürmten mit großem Gepolter und Geschrei die Treppe hinunter. Dafür wünschte uns Zirrel, die zwölfjährige Tochter der Litvaker, genannt »die Zigeunerin«, noch wochenlang einen »vorzeitigen Tod«.[14]

Zirrel unterschied sich von allen anderen Kindern im Hof durch ihre ungezähmte Wildheit. Sie war ein eigenartiges Mädchen, dunkelhäutig, hässlich, mit einem Paar funkelnder, hexenhafter Augen und fest zusammengepressten Lippen. Alle ihre Bewegungen, die ihres Kopfes, ihrer Schultern und ihrer Hände, waren ruckartig. Sie schien wie von einem Dämon besessen. Selten spielte sie zusammen mit den anderen Kindern. Meist stand sie abseits und schaute zu. Völlig unvermittelt aber konnte sie urplötzlich eines der spielenden Mädchen anfallen, sich mit ihrer ganzen Kraft in dessen Haaren festkrallen und ihm dabei ganze Haarbüschel herausreißen. Manchmal fiel sie sogar einen der Jungen an und zerkratzte ihm das Gesicht oder stieß ihn in die Seite. Normalerweise begann dann ein lautes Geschrei, und alle Kinder eilten dem oder der Bedrängten zu Hilfe. Aber bevor sie die Gelegenheit hatten, Hand an Zirrel zu legen, war diese schon, barfuß wie sie war und mit geschürztem Kleid, davongelaufen. Eine Minute später jedoch stand sie schon wieder etwas weiter entfernt da und provozierte uns mit ihren dämonischen Augen auf gehässige Art und Weise. Das Erstaunlichste dabei war, dass wir Kinder Zirrel nicht hassten. Obwohl sie dunkelhäutig und hässlich war, besaß sie doch tausend Reize mit ihren hoch aufgetürmten, wirren Haaren und den funkelnden Augen. Irgendetwas lag in ihren stürmischen Anfällen, in ihrem zigeunerhaften Wesen, das uns magisch anzog. Man hielt es sogar für einen Glücksfall, wenn Zirrel sich mit jemandem anfreunden oder mit jemandem spielen wollte. Meistens aber war sie mit ihrem Bruder zusammen, der ein oder zwei Jahre älter war als sie, der ihr aber keine Widerworte geben durfte und dem sie ziemlich oft fast die Knochen gebrochen hätte. Eines Morgens lief der ganze Hof zusammen, weil es sogar so weit gekommen war, dass sie ihn mit einem Messer verletzt hatte, und man einen Arzt rufen musste …

Unser Heim spielte eine besondere Rolle am Hof. Und das nicht nur, weil unsere selige Mutter, Ruchele[15] »die Gelehrte« (ihr Mädchenname war Gelernter), als tüchtigste und klügste Frau des Hofes galt, zu der alle Frauen aus der Nachbarschaft kamen, um sich Rat zu holen, oder um ihr das verbitterte Herz auszuschütten. Alle hielten sie für eine wundervolle Frau. Obwohl sie sich so schwer plagen musste, um die Familie zu ernähren – unser seliger Vater war ein glühender Chassid und brachte lange Wochen und Monate beim Rabbi zu und kümmerte sich nicht um den Broterwerb –, fand sie trotzdem die Zeit, allen Frauen des Hofes als Vorleserin zu dienen. Jeden Sabbatnachmittag pflegten die Nachbarinnen zusammenzukommen, um Ruchel zuzuhören, wie sie aus dem Zenerene[16] vorlas. Am 9. Aw[17] setzten sie sich um sie herum auf den Boden und weinten bittere Tränen, wenn unsere Mutter von der Zerstörung des Tempels in Jerusalem vorlas. Und nicht nur das: Zum allgemeinen Erstaunen las sie von Zeit zu Zeit sogar ein Kapitel aus Büchern wie »Di umglikliche Amalia« [»Die unglückliche Amalie«], »Der blutiger Adieu« [»Der blutige Abschied«] oder aus dem Roman »Kapitan Dreyfus« [»Hauptmann Dreyfus«[18]] vor. Obwohl sie streng religiös war, las sie doch gerne auch »weltliche« Bücher und war eine begierige Käuferin der damals weit verbreiteten Heftchenromane, die der fliegende Buchhändler jede Woche anbot. Etwas später, als der Roman »Der shvartser yungermantshik«[19] erschien, sah ich unsere Mutter genauso viele Tränen über das Schicksal von Dinesons Helden vergießen, wie über die herzzerreißenden Geschichten aus der Bibel von Jakobs Klage über Josef oder von Rachel, die um ihre vertriebenen Nachkommen weint.

Wir hatten unsere Wohnung nicht für uns allein, denn wir betrieben eine Garküche, eine Art Restaurant mit traditionellen jüdischen Gerichten. Die verschiedensten Leute kamen zu uns zum Essen, die Händler vom Markt oder, mehr noch als diese, andere, auserlesene Essensgäste, die durch den guten Ruf unserer Mutter angelockt wurden, der ihr vorauseilte, weil sie die Leute gut behandelte. Und in der Tat spürten, soweit ich mich erinnere, die Gäste eine ganz besonders familiäre Atmosphäre. Speziell eine ebenfalls »die Litvaker« genannte Gruppe fühlte sich bei uns wie zu Hause. Soviel mir in Erinnerung geblieben ist, wurden sie die »Kobriner« genannt, denn sie stammten aus Kobryń.[20] Es handelte sich um eine Gruppe von Leuten, die sich mehrere Wochen im Jahr in Warschau aufhielt. Sie waren vom Baufach und nahmen stets einen Auftrag an, der sie verpflichtete, mehrere Häuser auf einmal zu bauen. Die große Gruppe bestand sowohl aus dem Unternehmer, dem Vorarbeiter und den Maurern, oder die »mularze«, wie sie [auf Polnisch] genannt wurden, als auch aus den Zimmerleuten. Sie waren zum größten Teil mittleren Alters, einige von ihnen trugen einen Bart, andere wiederum waren glatt rasiert (schließlich waren sie ja »Kreuzköpfe«[21]). Ihr Betragen war sehr anständig. Sie wurden für ihre nüchterne Intelligenz geschätzt und dafür, dass sie immer fröhlich aufgelegt waren. Aber das Beste an ihnen war, dass sie begeisterte Musikanten waren und gerne sangen. Jeden Abend, wenn der offizielle Teil des Abendessens beendet war und sich die anderen Gäste zerstreut hatten, blieben die Litvaker beisammen, um den Abend in geselliger Runde zu verbringen, ganz so, als wären sie bei sich zu Hause. Dabei sangen sie all die Lieder, die zu jener Zeit bei den einfachen Leuten beliebt waren. Sie saßen dann bei heißem Tee, mit dem unsere Mutter sie bewirtete, und sangen Lieder von Eljakum Zunser,[22] Abraham Goldfaden[23] oder einfache Volkslieder. Die Stube war hell erleuchtet, und viele der Nachbarinnen pflegten, nachdem sie sich sauber gewaschen hatten, vorbeizukommen und sich dazuzusetzen und genussvoll zu lauschen. Dabei fehlten auch die Kinder vom Hof nicht, die von ihren Müttern schon auf dem Hinweg mit einer Arbeit beauftragt wurden, und so saßen wir alle zusammen und trennten die wurmstichigen Erbsen oder Bohnen von den guten. Die Mütter waren währenddessen entweder damit beschäftigt, das Fleisch koscher zu machen,[24] oder sie kneteten den Teig, der ganz früh am nächsten Morgen gebacken werden musste.

Außergewöhnlich fröhlich waren bei uns zu Hause in jener Zeit die Freitagabende und die Vorabende der Feiertage. Die »Litvaker« (in ihrem Fall hatte die Bezeichnung den Beiklang von etwas Lieblichem und Besonderem) begingen den Sabbat immer bei uns. Jeden Freitagabend feierten sie in ernster, aber gelöster Stimmung den Beginn des heiligen Tages bei uns in der Wohnung, im Gegensatz zu den anderen Nachbarn, die zum Beten in die Synagoge gingen und zum Essen wieder heimkehrten. Dabei war der ganze Hof von dem fröhlichen Gesang ihrer Sabbatlieder erfüllt; und später am Abend, nachdem sie das erste Sabbatmahl eingenommen hatten, erfreuten ihre »litvakischen« Weisen einem das Herz. Sie waren ein liebenswertes Grüppchen, die »Litvaker«, sie erzählten gerne Geschichten und machten Späße. Dabei drehte es sich selbstverständlich zumeist um den ewigen gutmütigen Zwist zwischen den Litvakern und den »paylischen« Juden,[25] wie sie es spöttelnd aussprachen.

Weil unsere Wohnung immer allen offen stand und es in ihr fröhlich zuging, wurde sie als das Zentrum des Hofes betrachtet. Deswegen waren ich, der achtjährige Chejderjunge und meine zwölfjährige Schwester Riwkele,[26] die der Mutter im Haushalt half, allgemein beliebt. Der gute Ruf unserer Mutter hatte uns dazu verholfen. Meine anderen beiden Schwestern, die 17-jährige Ettel und die 18-jährige Perele, kümmerten sich schon fast nicht mehr um das Leben im Hof, sie waren schon junge Damen, gingen oft ins »Theater« und fühlten sich nicht mehr so recht wohl auf dem Muranów. Es zog sie schon zu anderen Dingen hin. Ettel, die sehr geschickt im Nähen und im Sticken war, arbeitete als Hutmacherin, und Perele war Verkäuferin in einem großen Geschäft. Am Sabbat oder am Feiertag zogen sie sich gern schön an, um spazieren zu gehen, begleitet von den bewundernden Blicken der Anwohner des ganzen Hofes.

Kurzzeitig erlangte unser Zuhause einige Berühmtheit wegen des kuriosen Umstandes, dass bei uns spontane Opernkonzerte gegeben wurden, die unserer Mutter allerdings starken Verdruss bereiteten … Die Konzerte gab der Sohn des damals namhaften Kantors Fugelnest[27] aus dem Stadtteil Praga, ein junger, äußerst gut aussehender Bursche von zwanzig Jahren. Er war mit einer außergewöhnlichen Tenorstimme gesegnet und wollte unbedingt Opernsänger werden. Man schickte ihn später tatsächlich zum Studium nach Italien, dort ließ er sich taufen und wurde zu einem der Starsänger am berühmten Theater La Scala in Mailand.[28] Aber bereits zu jener Zeit, noch in Warschau, kannte er die Arien aller Opern auswendig und sang sie, wo er nur ging oder stand. Er konnte auch das Benehmen und die Künstlerallüren der aus den Kreisen der Bohème stammenden Opernsänger imitieren. Gewöhnlich trug er kurze Hosen aus Samt, sein Hemd über das Jackett gekrempelt und auf den zerzausten Haaren einen breiten Hut. Er machte damals meiner Schwester Ettel den Hof. Freitagabends kam er immer mit einem großen Strauß Blumen zu uns in die Wohnung auf dem Muranów und wartete auf Ettel. Schon sein ausgefallenes Äußeres bewirkte für gewöhnlich einen Aufruhr auf der Straße, manchmal liefen ihm die Leute sogar bis in den Hof hinterher. Und wenn er sich dann aufstellte und mit seiner goldenen Stimme am offenen Fenster sang, lief endgültig der »ganze Muranów« zusammen, um das große Wunder zu bestaunen. Unsere Mutter wollte sich jedes Mal fast umbringen und wusste vor Verlegenheit und Schande nicht wohin mit sich. Ihm zu untersagen herzukommen, brachte sie wegen ihrer Gutmütigkeit nicht fertig, und so wiederholten sich die kostenfreien Konzerte zu ihrem großen Leidwesen also regelmäßig. Wie wir den Serenadensänger letztlich wieder loswurden, habe ich bis heute nicht erfahren.

Das letzte Mal, dass ich ihn singen hörte, war auf der Hochzeit meiner Schwester Perele. Bei jener Gelegenheit hörte ich auch seinen Vater, Schimen[29] Fugelnest singen, den Kantor aus dem auf der anderen Seite der Weichsel gelegenen Stadtteil Praga, der das freudige Ereignis durch die Darbietung von etlichen liturgischen Liedern ausschmückte. Der Bräutigam meiner Schwester, Nachem, war nämlich ein wohlhabender, aber bodenständiger Mann aus Praga, der viel Geld für die Große Synagoge in seinem Stadtteil gespendet hatte.

Überhaupt rief jene Hochzeit, wie ich mich entsinne, großes Aufsehen bei den Leuten auf unserem Hof hervor, denn es war eine gute Partie, die meine Schwester gemacht hatte, und man sagte, dass der Bräutigam Perele »glücklich machen« werde. Aber auch ein wenig unterdrücktes Missfallen war damit verbunden, denn die Hochzeit wurde geradezu nach »deutscher« Art[30] gefeiert. Die Familie des Bräutigams hatte darauf bestanden, die Hochzeit gemäß ihres Standes auszurichten und nicht in der Tradition der ärmeren Familie der Braut. Demzufolge blieb bei uns zu Hause der ganze Wirbel aus, der normalerweise mit Kochen, Backen, Braten und all den anderen Vorbereitungen für eine Hochzeit einherging. Wir kamen also fein angezogen in den Festsaal, gerade so als ob wir selber zu den geladenen Gästen gehörten. Ich erinnere mich, dass ich im Trubel der Hochzeitsfeier zwischen den reichen, fremden »Deutschen« wie ein Verlorener umherirrte.

Die Hochzeit wurde im riesigen, eleganten Festsaal in der Nowiniarska-Straße gefeiert. Eine der Hauptattraktionen der Hochzeit war der berühmte Juntel, der mit seiner Klesmerkapelle aufspielte. Der Name Juntel war zu jener Zeit in Warschau ein Begriff. Nicht jeder hatte das Glück, ihn für seine Hochzeit engagieren zu können. Über Juntel erzählte man sich viele, fast schon legendenhafte Geschichten. Er war einer der Violinisten gewesen, die in der Warschauer Oper bei der Uraufführung von Moniuszkos »Halka«[31] gespielt hatten. Und als später die berühmte Warschauer Philharmonie eröffnet worden war, hatte man alle Schauspieler und Musiker zur Eröffnungsfeier eingeladen, die bei der Premiere der »Halka« mitgewirkt hatten. Einer von ihnen war also Juntel, zusammen mit den zwei anderen jüdischen Musikern Schulz und Sonnenfeld (Letzterer wurde später Dirigent des Polnischen Nationaltheaters) sowie dem jüdischen Sänger Rotmil.

Man erzählte auch, dass Juntel mit seiner jüdischen Klesmerkapelle aufgespielt hatte, als auf dem Grzybowski-Platz anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten von Zar Alexander III. unter freiem Himmel Tische mit kostenlosem, von der Regierung bereitgestelltem Essen und Trinken für die gesamte Bevölkerung aufgestellt worden waren. Als »Lohn« hatte er eine Platzwunde am Kopf davongetragen, und zwar von den Steinen, mit denen er aus der nahen Kirche heraus beworfen worden war. Das war das Werk jener Polen gewesen, die sich an den Festlichkeiten zu Ehren der Krönung des verhassten russischen Zaren nicht hatten beteiligen wollen. Auch soll Juntel mit seiner Kapelle einmal eingeladen worden sein, um vor dem ehemaligen Generalgouverneur[32] Gurkin zu spielen.

Als ich ihn auf der Hochzeit meiner Schwester zu Gesicht bekam, war Juntel bereits ein alter Mann, mit weißem Bärtchen und rötlichen Wangen. Gekleidet war er fast vollständig nach »deutscher« Mode, doch trug er ein Käppchen[33][34][35][36]