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Hanjo Kesting

Bis der reitende Bote
des Königs erscheint

Über Oper und Literatur

 

 

 

 

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Für Jürgen, den frühesten Gefährten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

ISBN (Print) 978-3-8353-3126-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4171-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4172-2

Inhalt

 

 

Wort und Ton
Zu einem Thema der Operngeschichte

I
18. Jahrhundert

Der Fürst der Librettisten
Pietro Metastasio

Der wahre Phönix Mozarts
Lorenzo Da Ponte

Die Kunst, durch Kontraste zu wirken
»Die Zauberflöte«

II
19. Jahrhundert

Höllenvision aus Biedermeierminiaturen
»Der Freischütz«

Der vergessene Meister
Felice Romani

Die Dioskuren der Großen Oper
Giacomo Meyerbeer und Eugène Scribe

Verdis unentbehrlicher Geselle
Francesco Maria Piave

Verdis später Glücksfall
Verdi und Arrigo Boito

»Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan«
Goethes »Faust« auf der Opernbühne

Im musikalischen Dufte meiner Schöpfung berauscht
Wie gut sind Wagners Operntexte?

Die Liebe ist ein rebellischer Vogel
Prosper Mérimée und Georges Bizet

III
Operette oder Die kleine Oper

Der Mozart der Champs-Élysées
Jacques Offenbach

Der Genius der leichten Muse
Johann Strauß

Der Abgesang der Operette
Ralph Benatzky und das »Weiße Rössl«

IV
20. Jahrhundert

Der Dichter als Librettist
Hugo von Hofmannsthal

»Die schweigsame Frau«
Zur Uraufführung der Oper von Richard Strauss

»Welch sonderbarer Trödelkram steht hier heute zum Verkauf!«
Igor Strawinsky und die Oper

Bis der reitende Bote des Königs erscheint
Bertolt Brecht und das Musiktheater

Die Wahrheit des Singens
Wystan Hugh Auden, der letzte Operndichter

Anhang

Nachweise

Personenregister

Werkregister (Opern, Operetten, Musiktheater, Ballette)

 

 

 

I
 
18. Jahrhundert

 

Der Fürst der Librettisten
Pietro Metastasio

Seine Dramen zu lesen ist verhängnisvoll. Man darf sie niemals anhören, außer im Zusammenhang mit der Musik.

Stendhal

 

Henri Beyle aus Grenoble, der sich als Schriftsteller Stendhal nannte, begann seine literarische Laufbahn mit einem Buch, das er in wenigen Frühjahrswochen 1814 in Paris einem Kopisten diktierte und unter dem Namen Louis Alexandre César Bombet herausbrachte. Es trug den umständlichen Titel Briefe aus dem österreichischen Wien über den berühmten Komponisten Joseph Haydn, vermehrt durch ein Leben Mozarts und Betrachtungen über Metastasio und den gegenwärtigen Zustand der Musik in Italien. Das Buch war von der ersten bis zur letzten Seite ein Plagiat, mit dem Stendhal zum ersten, aber nicht zum letzten Mal die Maxime Molières befolgte: »Je prends mon bien où je le trouve« (»Ich nehme mir mein Gut, wo ich es finde«). Was war der Grund des fragwürdigen Unternehmens? Vermutlich wollte Stendhal, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und bevor er erneut nach Italien aufbrach in eine ungewisse Zukunft, seinem Leben durch die literarische Tätigkeit einen neuen Sinn geben. Das gelang im Ganzen gesehen und führte zuletzt zu Meisterwerken der Romankunst wie Rot und Schwarz und Die Kartause von Parma. Das Debütwerk über Haydn, Mozart und Metastasio erwies sich allerdings als Misserfolg, denn es verstrickte Stendhal nicht nur in Auseinandersetzungen mit den plagiierten Autoren, sondern es wurden auch lediglich einhundertsiebenundzwanzig Exemplaren verkauft. Trotzdem kann das Buch als Beleg dafür dienen, dass Pietro Metastasio, der unumschränkte Herrscher unter den Librettisten des 18. Jahrhunderts, dreißig Jahre nach seinem Tod noch immer ein großer Name war. Erst einige Zeit später setzte die Epoche der Geringschätzung ein, von der er sich bis heute nicht völlig erholt hat. Wann immer ein Grund dafür gesucht wird, dass etwa Mozarts letzte Oper La clemenza di Tito nicht mehr an die Erfolge von Le Nozze di Figaro, Don Giovanni oder Die Zauberflöte heranreicht, die Verfasser von Opernführern und Opernlexika sind sich einig: Es habe, sagen sie, an Metastasios Textbuch gelegen. Zur Zeit der Komposition sei es mehr als ein halbes Jahrhundert alt gewesen, geschrieben für eine ganz andere Opernform, eine längst tote. Mozart selbst, sagen sie, habe den Untergang der prunkvoll-steifen Barockoper mit verursacht. Auf ihren Grabsteinen stünden die Namen Figaro und Così fan tutte. Unter ihnen hätte der alte Metastasio nicht wieder hervorgeholt werden dürfen.

Nun hatte Mozart aber nicht nur nichts gegen Metastasio, vielmehr kannte er ihn gut und schätzte ihn. Die Schwester des Komponisten hat berichtet, dass sich beide des Öfteren in Wien trafen. Metastasio verwendete sich für Mozart, als ein Wiener Theaterdirektor die Aufführung der Oper La finta semplice hintertrieb, für die der zwölfjährige Komponist einen kaiserlichen Auftrag erhalten hatte. Mozart gab Metastasio mehrfach Proben seiner Improvisationskunst am Cembalo. Vor allem aber vertonte er dessen Libretti, außer dem späten Titus schon in früher Zeit Il sogno di Scipione (Scipios Traum) mit sechzehn Jahren in Salzburg und Il re pastore (Der König als Hirte) mit neunzehn Jahren, ebenfalls in Salzburg.

Wichtig ist, dass in beiden Fällen der Text geändert wurde, zu Lebzeiten Metastasios, also mit dessen Wissen. Der Librettist erklärte sich sogar bereit, einen Text von Giovanni de Gamerra für Mozart umzuändern, was ebenfalls für seine Wertschätzung des jungen Komponisten spricht. Noch wichtiger scheint, dass alle genannten Opern zu fürstlichen Jubelanlässen komponiert wurden. Dafür galt damals eben nichts als geeigneter als ein »dramma per musica« oder eines der »feste teatrale« von Metastasio. Die Textwahl der Böhmischen Stände für La clemenza di Tito erschien Mozart ganz normal. Der Rückgriff auf eine »opera seria«, eine ernste Barock-Oper, bereitete dem Komponisten, der damals gerade an der Zauberflöte arbeitete, keine Schwierigkeiten, auch wenn der berühmte Librettist und Herrscher seines Jahrhunderts bereits seit neun Jahren tot war. Fragen der dramatischen Wahrscheinlichkeit waren für ihn zwar nicht irrelevant, aber kein unüberwindliches Hindernis. Entsprach Così fan tutte, die Verwechslungskomödie, in der zwei junge Aristokraten sich verkleiden, um jeweils die Braut des anderen zu verführen, der Forderung nach Wahrscheinlichkeit? Es war dem Namen nach eine »opera buffa«, die zwei betrogene Betrüger aufbot nebst einem Philosophen als Anstifter und einer Zofe als Fallenstellerin. Das alles mündete in ein Happy End, obendrein in C-Dur, aber nur nach einem unerhörten Spiel der Gefühle zwischen Lüge und Wahrheit, in dem die Personen des Stücks wie in Treibsand den Boden unter den Füßen verloren haben. Der Ausgang war nicht viel wahrscheinlicher als der Gnadenerweis des Kaisers Titus, der seinen Feinden, die früher seine Freunde waren, verzeiht, obwohl sie ihn gerade noch hatten ermorden wollen. Opernschlüsse dieser Art beenden jede zweite Handlung, die Metastasio in Verse setzte. Großmut rangierte als oberste Fürstentugend, oder vielmehr: Sie sollte es. Man überhört heute allzu leicht die appellierende Mahnung, die in solchen damals geläufigen Schmeicheleien steckte. Einen Fürsten der Barockzeit bei seiner Krönung oder Hochzeit mit einem huldvollen Kaiser der Antike zu vergleichen hieß nicht, dass solche Huldigungen aus der Gewissheit kamen, der Fürst würde sich genauso wie sein antikes Vorbild verhalten. Es konnte nur heißen, dass man dringlich wünschte, er möge es tun, weniger im Interesse des Herrschers als in dem der Beherrschten.

Was La clemenza di Tito anging, wurde Metastasios Text auf Mozarts Wunsch von Caterino Mazzolà, dem Dresdner Hofpoeten, umgearbeitet, verwandelt in eine wirkliche Oper, eine »vera opera«, wie Mozart eigenhändig in sein Werkverzeichnis eintrug. So ward aus dem alten Rock ein neuer. Den Text der Finalszene und des Chores hat Mazzolà geändert, ohne aber das vorausgehende Rezitativ des Kaisers auch nur in einem einzigen Wort anzutasten. Denn hier verkündet Titus den Entschluss, seinem aufwallenden Zorn entgegen alle Verschwörer zu begnadigen. Die für die Wertvorstellungen Metastasios wichtigen Vokabeln tauchen darin in seltener Häufung auf: la virtù, die Tugend der Pflichterfüllung, la clemenza, die Tugend der Großmut, ferner die Festigkeit und die Selbsttreue, schließlich – da spricht der in Wien exilierte Römer Metastasio – das Ansehen der Vaterstadt:

 

Sia noto a Roma

Ch’io son l’istesso, e ch’io

Tutto so, tutti assolvo e tutto oblio

 

Rom soll es wissen,

dass ich bleibe, der ich bin, und dass ich

alles weiß, alles vergebe und alles vergesse.

 

Mozart war nicht der letzte, der einen Text von Metastasio vertonte. Auch Cherubini, Donizetti und Conradin Kreutzer stützten sich auf seine Libretti, obwohl sie schon fünf oder sechs Jahrzehnte zurücklagen, und noch 1819 komponierte Giacomo Meyerbeer für das Teatro Regio in Turin das Libretto der Semiramide riconosciuta, das Metastasio neunzig Jahre zuvor verfasst hatte. Man kann daran seinen Rang und seine überragende Stellung ablesen, die noch bis ins 19. Jahrhundert nachwirkte. Gute Opernverse gab es zwar vor und nach Metastasio, aber kein Librettist vorher und nachher erreichte jemals seinen Einfluss auf die Komponisten seiner Zeit. Seine Textbücher waren bestimmt für die Kunst äußerst virtuoser Sänger, darunter berühmte Kastraten. Ihre dramatischen Situationen bieten meist fünf bis sechs Charaktere auf, die in tragische Interessenkonflikte (in der Regel zwischen Liebe und Pflicht) geraten und in ihrem überlegten Handeln als typische Vertreter des Zeitalters des aufgeklärten Absolutismus anzusehen sind. Metastasios Sprache war getragen von der Idee der edlen Einfachheit: Die wohlklingenden, vokalreichen und klar gegliederten Arientexte boten den Komponisten eine ideale Grundlage für musikalische Vertonungen, häufig mit reicher Ausgestaltung der poetischen Bilder und dramatischen Situationen.

All das war Metastasio nicht an der Wiege gesungen worden. Der einflussreichste Operndichter der Geschichte wurde buchstäblich auf der Straße entdeckt, aufgelesen von einem Musikkenner, der ihn singen hörte und beschloss, den Knaben ausbilden zu lassen. Sein Vater, Felice Trapassi, war aus Assisi nach Rom gezogen, wo der Sohn 1698 geboren wurde. Der ihn adoptierte, Gian Vincenzo Gravina, dachte freilich weniger daran, aus ihm einen Dichter zu machen, auch wenn ihm die Leichtigkeit aufgefallen war, mit der der Zehnjährige im Gemüseladen seines Vaters Verse und Reime erfand und dazu sang. Gravina sah in seinem Schützling, den er zum Erben bestimmte, mehr einen Juristen oder Staatsmann, womöglich einen Kirchenfürsten. Also studierte Pietro, der den Namen Metastasio – die griechische Entsprechung von Trapassi, »überschreiten« oder »wechseln« – erhielt, außer den Klassikern und Philosophen auch Rechtskunde und Theologie. Mit sechzehn bekam er die niederen Weihen, was damals nicht unbedingt auf eine Priesterlaufbahn vorauswies, sondern eine soziale Absicherung enthielt. Die Kirche war eben ein mächtiger Brotherr.

Gravina starb, ehe er den Ruhm seines Schützlings bewundern und auskosten durfte. Dieser verjubelte in ein paar Jahren das Vermögen seines Patrons, fünfzehntausend Scudi, aber nach reuevoller Fron in einer Anwaltspraxis in Neapel hatte er das Glück, einen neuen Förderer zu finden, eine Förderin diesmal: Marianna Benti Bulgarelli, unter dem Namen »La Romanina« als Sopranistin landesweit gefeiert. Sie war vermögend, einflussreich und verheiratet, wichtige Voraussetzungen für die ältere Protektorin eines jüngeren Mannes. Statt der Gesetzestexte nahm sich Metastasio nun die Regeln von Harmonie und Kontrapunkt vor. Sein Lehrer Nicola Porpora, zwölf Jahre älter, gehörte zu Neapels berühmtesten Komponisten und hat später eine ganze Reihe der Libretti seines Kompositionsschülers vertont.

In Begleitung der Romanina kam der junge Mann durch ganz Italien und sammelte Theatererfahrungen. Metastasio war kein blutleerer Schreibtischpoet, zu dem ihn später das 19. Jahrhundert gelegentlich herabwürdigte. Als Wiener Hofpoet war er weit davon entfernt, die Komponisten kraft seiner Stellung dazu zu zwingen, artifiziell gedrechselte Verse unverändert zu vertonen. Er hatte den Opernbetrieb bereits aufs Genaueste kennengelernt, ehe er seinen ersten Operntext schrieb. Hatte er bis dahin Gedichte und Dramen verfasst, so wandte er sich mit fünfundzwanzig Jahren dem Libretto zu. Das erste beschränkte sich noch darauf, ein Textbuch von Domenico David aus dem 17. Jahrhundert zu bearbeiten. Doch schon das zweite Libretto, sein erstes selbständiges Werk, wurde ein sensationeller Erfolg und etablierte den jungen Mann als Autorität in seinem Fach. Im Teatro San Bartolomeo in Neapel kam, vertont von Domenico Sarro, im Februar 1724 die Oper Didone abbandonata heraus, über die von Aeneas, dem späteren Gründer Roms, verlassene Königin von Karthago und tragische Heldin der Verse Vergils. Die Gazzetta di Napoli schrieb über das Ereignis:

 

Am Abend wurde die Premiere einer neuen Oper, »Didone abbandonata«, mit allgemeinem Beifall aufgenommen von einem Publikum, das in großer Zahl herbeigeströmt war wegen des Textes eines berühmten Autors, wegen der Musik von Kapellmeister Sarro und wegen der Sänger. Unter ihnen ragte Cavaliere Nicolò Grimaldi heraus, ausgezeichnet als Aeneas, ferner die virtuose Marianna Benti Bulgarelli als Dido und die virtuose Antonia Merighi als Jarba. Die Schönheit des Werkes wurde gesteigert durch die Kostüme der Sänger und die Bühnenbilder, sämtlich in bestem Geschmack, vor allem das letzte, eine täuschend echte Wiedergabe des Brandes von Karthago. Der Erfolg der gesamten Inszenierung ist der umsichtigen und kompetenten Leitung des Theaters zu danken.

 

Ein aufschlussreiches Zitat, nicht zuletzt dafür, wie wenig sich der nichtssagende Inhalt mancher Musikkritiken samt einschmeichelnder Nachfrage um Freikarten bei den Bühneninstanzen durch die Jahrhunderte geändert hat. Prima la scenario, poi la musica e le parole – das Spektakel war wichtiger als Musik und Textbuch, von letzterem wurde nicht einmal der Name des Verfassers genannt, vielleicht aus Missgunst gegen den Günstling der Primadonna.

Wie ungleich auch immer die Gewichte der Kritik verteilt waren: Es gab riesigen Beifall. Metastasio erlebte drei Dutzend weitere Vertonungen dieses Librettos, und noch vier Jahre nach dem Tod des Textdichters komponierte Luigi Cherubini seine Didone abbandonata, die gleichzeitig mit Mozarts Figaro herauskam.

In der Erstvertonung durch Domenico Sarro erschien Metastasios frühes Meisterwerk knapp vier Wochen vor Giulio Cesare, einem der größten Erfolge Händels in London, vier Jahre vor dem unerwarteten Dolchstoß, den die populäre Beggar’s Opera von Gay und Pepusch dem italienisch orientierten Musiktheater des deutschen Komponisten versetzte.

Nun folgte eine Metastasio-Vertonung der anderen: Siroe, Ezio, Alessandro nell’Indie, Demetrio – die Premieren überschlugen sich. Nicht immer freilich garantierte der Name des Librettisten einen Erfolg des musikdramatischen Endprodukts. Händels Version des Ezio zum Beispiel war ein Fehlschlag und lief am Theater am Haymarket, der langjährigen Londoner Hochburg des Komponisten, nur ganze fünf Abende. Damit spielte man auch damals nicht einmal die Kosten der Kulissen ein. Die Handlung der Oper spielt in Rom, nach dem Niedergang des Hunnenkönigs Attila, kurz vor dem Untergang des Römischen Reiches. Der Sieg des Feldherrn Ezio erregt den Neid des Kaisers Valentinian. Der römische Patrizier Maximus, dessen Frau der Kaiser vergewaltigt hat, bittet Ezio, ihm bei dem Versuch zu helfen, den Kaiser zu beseitigen. Als der Plan scheitert, lenkt Maximus den Verdacht des Kaisers auf Ezio und plädiert für dessen Tod, in der Absicht, das Volk, bei dem der Feldherr sehr beliebt ist, gegen den Kaiser aufzuwiegeln. Daraus schuf Metastasio eine Liebesintrige, in die noch verschiedene andere Figuren verwickelt sind. Im Gegensatz zur historischen Vorlage, wonach der Kaiser Ezio hinrichten ließ, wird der Feldherr am Ende freigesprochen, wie es die Dramaturgie der opera seria vorsah – die Milde des Kaisers war nicht allein auf Titus beschränkt.

Niemand machte den Librettisten für den Fehlschlag des Ezio verantwortlich, zumal der Text in London erheblich geändert worden war. Noch reichte der Einfluss Metastasios nicht bis in die englische Metropole. Sein Libretto zu Ezio wurde übrigens ein Vierteljahrhundert später – da war er längst Hofpoet in Wien – von Christoph Willibald Gluck für die Prager Karnevalssaison des Jahres 1750 ein weiteres Mal vertont, zwölf Jahre bevor er in Wien seine Reformoper Orfeo ed Euridice herausbrachte. »Lui ha un fuoco meraviglioso, ma pazzo«, »Er hat ein wunderbares Feuer, ist aber verrückt«, soll Metastasio bei dieser Gelegenheit über den jungen Gluck gesagt haben.

Der Ruf nach Wien erreichte ihn 1730, im Alter von zweiunddreißig Jahren. Von nun an war er, wie gesagt worden ist, ein Gefangener in Seide. Sein Vorgänger im Amt des kaiserlichen Hofpoeten, Apostolo Zeno, war selbst einer der großen Librettisten seiner Zeit. Als gebürtiger Venezianer hatte er Metastasio in einem wichtigen Punkt vorgearbeitet. Die in seiner Heimatstadt benutzten Operntexte erschienen ihm ungenügend, zu wenig anspruchsvoll. Er pflichtete seinen Kollegen bei, die in vielen Vorworten zu ihren Libretti über den Zustand des Operntheaters klagten. Dort herrsche allein die Geldgier der Impresari, und jedermann verletze ungestraft die Gesetze des Dramas. Zeno widersetzte sich diesen Tendenzen, indem er sich an das klassizistische Theater Frankreichs, an Autoren wie Racine und Corneille, anlehnte. Von Haus aus Historiker, im Besitz einer wertvollen Sammlung alter Münzen, trieb Zeno genaue Quellenstudien, ehe er ein Textbuch verfasste. Selten nahm er eine fiktive Person hinzu, und wenn er es tat, entschuldigte er sich im Vorwort: »Sestia, die Tochter des Fabrizius, die zusammen mit anderen Römern von Pyrrhus gefangengenommen wird, ist hier eingeführt worden, damit sich eine Liebesgeschichte entwickeln kann, ohne die heutzutage kein Stück sein Glück machen kann.«

Geschrieben 1729, in Zenos letztem Jahr als Hofpoet in Wien. Auch an diesem Befund hat sich in der Folgezeit bis in unser Jahrhundert kaum etwas verändert. Immerhin verschaffte Zeno dem hohen Stil nach französischem Vorbild Geltung, und damit ging eine stärkere Betonung der moralischen Conclusio einher. Das war nicht dazu angetan, den Librettisten ihr Geschäft zu erleichtern. Die Handlung sollte plausibel sein, musste aber nach schier ausweglosen Konflikten zwischen Pflicht und Neigung am Ende eine befriedigende Lösung präsentieren. Die einfachste Weise, den dramatischen Knoten zu durchschlagen, schied dabei von vornherein aus: der Tod. Die barocke Opernbühne war noch nicht das Musiktheater Wagners, Verdis und Puccinis. Einem Fürstensohn, der zur Feier seiner Hochzeit eine Oper in Auftrag gab, war es schwerlich zuzumuten, am Ende der Aufführung, bevor er die Loge mit dem Brautgemach vertauschte, eine Bühne voller Leichen vorzufinden. Gerade in Südeuropa suchte man die Oper nicht auf, um zu schluchzen, sondern um sich zu unterhalten. Der französische Opernreisende Charles de Brosses hat berichtet – es ist die Zeit um 1740 –, was man in den Pausen und während der Rezitative meist zu tun pflegte. In Mailand spielte man Pharao, in Rom Schach, in Venedig schaute man dem Treiben der Gondolieri zu, in Florenz – vornehm wie immer – wurde ausgiebig gespeist. Kein höheres Lob für den Librettisten als das, man habe seinen Versen sogar dann zugehört, wenn gerade keine Arie erklang.

Zeno war einer der ersten, dem gelegentlich zugehört wurde. Er verstand es, seine Helden am Ende einer Oper in genau dem Punkt nachgeben zu lassen, in dem sie zweieinhalb lange Akte hindurch niemals auch nur in Gedanken hatten weichen wollen. Natürlich erkannte er die Unwahrscheinlichkeit manch plötzlich aufgegebener Leidenschaft, mancher Tyrannen-Einkehr nach vorausgegangener Grausamkeit und Härte. Im Vorwort seines Librettos zu Venceslao, uraufgeführt in Venedig 1703, verteidigt er die Kehrtwende des Königssohnes, der von seinem Vater – dem Titelhelden – zum Tode verurteilt wird. Der Sohn Kasimir hat seinen Bruder ermordet, unwissentlich freilich, im Verlauf einer Rivalität um eine Prinzessin, die Kasimir nach dem Willen des Königs nicht heiraten soll. Eine Geschichte nach dem Geschmack der Zeit mit schuldiger Unschuld, Vater-Sohn-Konflikten und Brüderrivalitäten, ein bisschen Kain und Abel bzw. Romeo und Julia inclusive. Sie findet dennoch ein glückliches Ende, denn Kasimir nimmt einfach eine andere zur Frau und wird daraufhin begnadigt. Böhmische Geschichte, zubereitet alla veneziana. Zeno, der Librettist, verteidigte den glücklichen Ausgang gegen den Vorwurf der Unlogik und Unwahrscheinlichkeit: »Der plötzliche Wechsel im Charakter des Kasimir widerspricht weder den Moralgesetzen noch den Lehren der Dichtkunst. Es ist wahr, dass ein böser Mensch nur unter großen Schwierigkeiten zu einem guten wird. Die Abgründe der Sünde wie die Höhen der Tugend erreicht man nur schrittweise. Ein Sinneswandel wird jedoch manchmal auch ausgelöst durch die Furcht vor dem drohenden Tod oder die Angst vor großem Schrecken.«

Zeno kehrte mit nur einundvierzig Jahren Wien den Rücken und kehrte nach Venedig zurück. Sein Nachfolger Metastasio bezog das Haus eines neapolitanischen Freundes spanischer Herkunft namens Nicolò Martinez und verbrachte dort den Rest seines Lebens – das waren immerhin noch zweiundfünfzig Jahre. Gehalt und Pension wurden kaiserlich bemessen, abgesehen von dem, was die Romanina ihm bei ihrem Tode 1734 vermachte: fünfundzwanzigtausend Scudi, ein großes Vermögen. Metastasio schlug das Erbe aus. Er mochte seine Stellung am Wiener Hof nicht gefährdet sehen durch den Eindruck, der ausgehaltene Liebhaber einer Sängerin gewesen zu sein. Er hatte sich schon geweigert, sie mit nach Wien zu nehmen. Obendrein galt es, Rücksicht zu nehmen auf die lebende Gönnerin, die Gräfin d’Althann, gleichfalls Marianna mit Vornamen, vermögend, einflussreich, verheiratet usw. Als Metastasio auch diese Freundin durch den Tod verlor, umsorgte den Librettisten fortan die Tochter des Hauses Martinez, wieder eine Marianna, die dritte des Namens. Nicht nur seine Libretti, sagten die Spötter, seien alle gleich.

Im Jahre 1733 veröffentlichte Metastasio zwei seiner erfolgreichsten Opernbücher: L’Olimpiade und Demofoonte. L’Olimpiade (nicht zu verwechseln mit Spontinis Olimpie nach Voltaire) treibt vor dem Hintergrund olympischer Spiele (der Antike natürlich) die Ausweglosigkeit zweier Liebespaare auf eine raffiniert ausgeklügelte Spitze. Ein Freund kämpft in der Maske des anderen um den Preis, der in der Königstochter besteht, sozusagen Meistersinger und Götterdämmerung in einem, wie ja überhaupt beim Durchlesen vieler Libretti offenkundig wird, dass Opernkonfigurationen seit den Tagen Zenos und Metastasios nicht viel Neues unter der Sonne erlebt haben. Kompliziert wird es in diesem Fall dadurch, dass beide Freunde die Königstochter lieben.

Demofoonte, gleichfalls eine Liebesodyssee, zuerst vertont von Antonio Caldara, nimmt im Schaffen Glucks und Mozarts eine besondere Stellung ein. Gluck errang damit 1742 in Mailand, acht Jahre vor dem Prager Ezio – seinen ersten großen Erfolg; und Mozart hat zwischen 1779 und 1782 nicht weniger als sieben Arien aus Metastasios Textbuch einzeln vertont. Nachdem damit die Hauptarbeit einer Oper bereits getan war, verwundert es, dass er sich nicht die Mühe machte, daraus ein komplettes Werk zu gewinnen. Aber dem sechsundzwanzigjährigen Mozart war eine Handlung, über der ein Orakelspruch hängt, der von den handelnden Personen lediglich falsch ausgelegt wird, etwas zu mechanisch konstruiert, zumal er gerade mit Idomeneo den entscheidenden Schritt getan hatte, sich musikdramatisches Neuland zu erobern. Das hinderte ihn nicht, sich aus weiteren Libretti von Metastasio einzelne Perlen herauszuholen, aus der Didone abbandonata ebenso wie aus Ezio. Besonders schätzte er die Arie des Königs Kleisthenes aus L’Olimpiade. In ihr bahnt sich die Lösung der verworrenen Situation an, weil der Vater in einem der Widersacher gegen seine Pläne den eigenen, verloren geglaubten Sohn zu erahnen beginnt und dies dem Alcandro, seinem Vertrauten, eröffnet:

 

Alcandro, lo confesso, Alcandro, ich gestehe,
Stupisco di me stesso. ich staune über mich selbst.
Il volto, il ciglio, Das Antlitz, die Miene, die Stimme
La voce di costui nel cor mi desta   erregen in meinem Herzen
Un palpito improvviso, eine unwillkürliche Bewegung,
Che le risente in ogni fibra il sangue die das Blut in allen Adern spürt.
Fra tutti i miei pensieri In allen meinen Gedanken
La cagion ne ricerco, suche ich den Grund,
E non la trovo. und finde ihn nicht.
Che sarà, giusti Dei, Was ist’s, gute Götter,
Questo ch’io provo? das mir widerfährt.
   
Non sò d’onde viene Ich weiß nicht, woher
Quel tenero affetto, jenes zärtliche Gefühl rührt,
Quel moto che ignoto jene unbekannte Regung
Mi nasce nel petto, die in meiner Brust entsteht,
Quel gel, che le vene jener Schauer, der mir
Scorrendo mi va. durch die Adern läuft.
Nel seno destarmi In meiner Brust spüre ich
Sì fieri contrasti so heftige Gegensätze,
Non parmi che basti für die mir bloßes Mitleid
La sola pietà. nicht Grund genug zu sein scheint.

 

Mozart hat diesen Text zweimal vertont: 1787 für den Bassisten Ludwig Fischer, der in der Premiere der Entführung aus dem Serail den Osmin gesungen hatte; und bereits neun Jahre zuvor hatte er die Arie für Sopran gesetzt, als er seiner damaligen Liebe Aloysia Weber, der Schwester seiner späteren Frau Constanze, ein Bravourstück schreiben wollte. Die Texte Metastasios waren für solche Glanznummern nicht nur besonders geeignet, sondern eigens dafür gedacht. In den Arien trat der Librettist hinter den Komponisten zurück, sofern dieser die dramatische Struktur und die Rezitative unangetastet ließ – das war die stillschweigend getroffene Absprache, der heimliche Kontrakt.

Die Komponisten flogen nur so auf Metastasios Arien. Zählt man in Non sò d’onde viene einmal die Vokale und Konsonanten, so sagt deren zahlenmäßiges Verhältnis etwas über den Zauber seiner Poesie aus. Doppelkonsonanten einfach gezählt, entfallen in diesen zehn Zeilen auf fünfundsiebzig Konsonanten siebenundsechzig Vokale. Musikalischere Gebilde lassen sich kaum denken, und gar im Zeitalter der Koloraturen. Zudem sind diese Gebilde komplexer als die Sprache vermuten lässt, auch wenn der König Klystenes, äußerlich betrachtet, nicht mehr sagt als: Ich weiß nicht, wie mir geschieht, es kann doch nicht nur Mitgefühl sein, was ich empfinde.

Es ist eine der berühmten Arien, in denen Metastasio die Handlung angeblich stillstehen lässt und seinem Sänger einen fulminanten Abgang verschafft, nachdem dieser ein bestimmtes Gefühl, eine bestimmte Leidenschaft, einen »Affekt«, gut oder schlimm, sanft oder wild, zum Jubel des Publikums ausgesungen hat. Aber ist es nicht zugleich ein Weitertreiben der Handlung – der inneren Handlung womöglich –, wenn der Zuschauer und Zuhörer im Verhältnis einer Bühnenperson zu einer anderen eine wichtige Veränderung spürt? Prinzipiell besteht kein großer Unterschied zwischen einer scheinbar statischen Arie von Metastasio, aus der das Publikum erfährt, dass der König und sein Widersacher in einer engen, noch geheimnisumwitterten Beziehung zueinander stehen, und – zum Beispiel – dem Geständnis Don Josés: »Carmen, je t’aime!« in Bizets Oper, einer Arie, der niemand Bühnendramatik abspricht. Hinzu kommt, dass der Wettstreit der Komponisten um eine neue, bessere Vertonung der immer gleichen, lockenden Verse von Metastasio zweifellos eine Bereicherung der damaligen Opernbühne darstellte. Das Publikum kannte den Stoff, kannte sogar den Text, es verglich die Musik, fühlte sich angeregt zu kritischem Vergleich, was die Komponisten beflügeln musste. Mozart schrieb an seinen Vater, den musikalischen Vertrauten, vor dem er keine Berufsgeheimnisse zu hüten brauchte, über die erste Vertonung von Metastasios »Alcandro, lo confesso«: »Ich habe auch zu einer übung, die aria, non sò d’onde viene etc., die so schön vom Bach componirt ist, gemacht« – er meint Johann Christian Bach, einen von Johann Sebastians Söhnen – »aus der ursach, weil ich die vom Bach so gut kenne, weil sie mir so gefällt, und immer in ohren ist; denn ich hab versuchen wollen, ob ich nicht ungeacht diesen allen imstande bin, eine Aria zu machen, die derselben von Bach gar nicht gleicht? – – sie sieht ihr auch gar nicht, gar nicht gleich. Diese Aria habe ich anfangs dem Raff zugedacht, aber der anfang gleich schien mir für den Raff zu hoch, und um ihn zu ändern gefiel er mir zu sehr, und wegen sezung der instrumenten schien er mir auch für einen Sopran besser, mithin entschloss ich mich diese Aria für die Weberin zu machen.«

Ein unschätzbarer Blick in die Werkstatt, den man nicht mit der Bemerkung abtun kann, hier habe Mozart lediglich das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Die lange Rechtfertigung läuft darauf hinaus, dem Vater – der seinen Metastasio kannte – zu erklären, warum hier eine berühmte Bass-Arie für Sopran gesetzt wurde. Naiv sagt Mozart: Es lag am melodischen Einfall – was er bescheiden »den Anfang« nennt. Der lag zu hoch. Kein Wunder, mit der Stimme der Weberin im Kopf fiel ihm nichts für den Sänger Anton Raaff ein. Das holte er erst neun Jahre später nach, als die Weberin nur noch die Schwägerin war. Dennoch: Wie ist Mozart hier verfahren? Zuerst war da Metastasios Text, benutzt wahrscheinlich nach der Turiner Ausgabe, die Graf Firmian, der österreichische Generalgouverneur in Mailand, dem angereisten vierzehnjährigen Landsmann Mozart 1770 geschenkt hatte. Die Verse inspirierten den »Anfang«. Der war so gut, dass Mozart ihn nicht ändern mochte. Die Melodie lag für einen Bass zu hoch, das traf sich gut. Und sie klang besser als die »vom Bach«, obwohl er die liebte und nur schwer aus dem Ohr verlor. Auch Johann Christian Bach hat nicht die ganze L’Olimpiade vertont. Mozart und er kannten sich seit der London-Reise des achtjährigen Wunderkindes und sahen sich später in Mailand wieder. Sie spielten Hexenkunststücke zusammen, Sonaten, in denen je einer nur jeweils einen Takt spielte, dann der andere den nächsten und so fort. Den älteren Freund in einer seiner beliebtesten Bravourarien zu überbieten – mit demselben Text – war ein besonderer, aber heikler Anreiz, dem Mozart wohl nur nachgab, um ein besonderes Bravourstück für Aloysia zu schaffen.

Es war ein Musizierprinzip dieser Zeit: Die Musik musste neu, der Text durfte alt sein, dadurch wurden beide, wenn sie gut waren, nur umso beliebter. Die Strophen Metastasios haben die Komponisten also nicht etwa in Unkenntnis, sondern in genauer Kenntnis früherer Vertonungen gereizt. Nach der L’Olimpiade-Premiere in Wien 1733 mit Musik von Caldara erlebte das Stück eine zweite Fassung zur Karnevalssaison in Venedig mit Musik von Antonio Vivaldi, Anfang 1734. Die Partitur war lange verschollen und wurde erst 1927 in Turin wiederentdeckt. Alfredo Casella und Virgilio Mortari brachten sie 1939 in Siena zur Aufführung. Vivaldis Vertonung und eine weitere von Pergolesi, die für den gefeierten Komponisten der Serva padrona ein böser Reinfall war, stellten wahrscheinlich rein musikalisch die Höhepunkte der Ära Metastasio dar, nimmt man zwei spätere Fälle aus, den Temistocle von Johann Christian Bach und Mozarts La clemenza di Tito.

Metastasios Arien – Ensembles schrieb er nur an Aktschlüssen, die barocken Helden waren einsame Menschen – wurden eine Kunstform für sich, Dichtung zweifellos die meisten, und sorgsam konstruiert. Sie unterscheiden sich nach der Silbenzahl der Verszeilen etwa so, wie sich in der Musik die Tonarten voneinander abheben. Ob Metastasio eine Gefühlsäußerung sechssilbig oder neunsilbig fasste, das sagte den Komponisten bereits etwas über die Vorstellungen, die der Dichter bezüglich der Musik hegte. Denn Metastasio seinerseits war, wenn auch in bescheidenem Maße, ein Komponist. Er schrieb zwar keine großformatigen Werke, aber viele Lieder, Duette oder Kanzonetten für mehrere Stimmen.

Metastasios Aufbau der Akte und Szenen brachte in die Oper eine bis dahin unbekannte Ordnung. Sie besaß mehrere Vorzüge. Erstens erhielt jeder Starsänger die ihm zugemessene Zahl an Bravour-Arien. Dadurch wurde die oftmals unleidliche Eifersucht der männlichen wie der weiblichen Primadonnen wohltuend kanalisiert, eine Eifersucht, die Benedetto Marcello in seiner Satire Il teatro alla moda 1720 als Geißel der italienischen Opernbühne bezeichnet hatte. Was die Sänger im 18. Jahrhundert waren, wurden die Pianisten im 19. und die Dirigenten im 20., mit guten Aussichten, dass im 21. Jahrhundert die Regisseure sich den Spitzenplatz sichern, der in ihrem Fall noch fragwürdiger anmutet. Ein weiterer Vorzug von Metastasios Arien war es, dass ihre geschickte Reihung – man hat sie mit den Säulengängen antiker Tempel verglichen – deren Austausch bei Neubearbeitungen zuließ. Sie mögen nicht immer im Sinne des Librettisten gewesen sein, gaben aber den meist ausländischen Bearbeitern alle erwünschten Freiheiten zur Anpassung der Texte an die Fähigkeiten der örtlichen Sänger; sie wirkten stilbildend, allerdings nicht immer auf dem höchstmöglichen Niveau.

In welchem Ausmaß die von Metastasio gesetzten Normen die üblichen Querelen der Opernbühne verringerten, geht aus der Bereitwilligkeit der Operndirektoren hervor, sie zu akzeptieren. Sie ersparten sich dadurch Ärger mit den Sängern. Carlo Goldoni hat in seinen Memoiren, die allerdings erst 1787 erschienen, als er mehr im Zorn als in Milde zurückblickte, die Rigorosität geschildert, die etwa im Mailand von 1733 herrschte. Damals hatte er, Goldoni, der dortigen Operndirektion sein Libretto Amalasunta eingereicht, das ihm mit dem Bemerken zurückgegeben wurde, darin würden die Regeln der Opernkunst verletzt. Man teilte ihm auch belehrend mit, worin diese Regeln bestünden:

 

Die drei Hauptpersonen des Dramas müssen jede fünf Arien singen, zwei im ersten Akt, zwei im zweiten und eine im dritten. Die zweite Schauspielerin und der zweite Diskant dürfen nur drei bekommen, und die kleineren Rollen müssen sich mit einer oder höchstens zwei begnügen. Der Verfasser des Textes muß dem Komponisten die verschiedenen Stimmungen liefern, welche das Halbdunkel der Musik ausmachen; auch muß er aufpassen, daß nicht zwei pathetische Arien aufeinanderfolgen; ebenso vorsichtig muß er die Bravourarien, dramatischen Arien, halbernsten Arien, Menuette und Rondi verteilen. Vor allem muß man sich hüten, den Nebenpersonen etwa leidenschaftliche Arien oder Bravour-Arien oder Rondi in den Mund zu legen. Diese armen Leute müssen sich zufrieden geben mit dem, was für sie abfällt, und es ist ihnen verboten, sich Ehre zu erwerben.

 

Der jeweilige Impresario konnte sich glücklich schätzen, dass die von Metastasio entwickelte Form der Oper ihm die endlosen Szenen ersparte, in denen berühmte Sänger hier noch eine Extra-Arie verlangten und dort die Arie des Rivalen gestrichen sehen wollten. Man hat die Kunstgebilde dieser Operntexte mit der prästabilierten Harmonie des Philosophen Leibniz verglichen, wobei die Arien als Monaden fungierten. Das entspräche dem typischen Nachhinken der Oper als Kunstform hinter den geistigen Strömungen der jeweiligen Zeit: Leibniz war ein halbes Jahrhundert älter als Metastasio.

Was das von Goldoni – einem der meistbeschäftigten Librettisten unter den großen Dramatikern des Jahrhunderts – so schonungslos kritisierte Korsett der metastasianischen Opernform angeht, so war der Wiener Hofdichter gerade umgekehrt berühmt dafür, mit welcher Leichtigkeit und Flexibilität er seine eigenen Regeln handhabte. Übergänge vom handlungsfördernden Rezitativ zur Arie, in der reflektiert, kommentiert, geklagt oder ein Entschluss gefasst wird, waren seine Spezialität wie auch der Reichtum seiner Arienformen. Donald Grout in seiner Geschichte der Oper schrieb dazu: »Eines der Geheimnisse der Erfolge Metastasios war, dass er ein Musikdrama entwerfen konnte, das die kategorischen Vorschriften seiner Zeit erfüllte, ohne durch sie allzu offenkundig eingeschränkt zu erscheinen.«

Metastasios Textbuch zu Artaserse wurde nach den Forschungen des italienischen Musikologen Rolandi von nicht weniger als einundachtzig Komponisten vertont. Die Fassung des englischen Komponisten Thomas Arne kam 1762 in London heraus und war ein ungeheurer Erfolg. Drei Jahrzehnte später kam Joseph Haydn in die britische Hauptstadt und staunte, dass ein so relativ altes Werk in zwei Theatern gleichzeitig gegeben wurde. Zu Beginn der Oper beklagen in den Gärten des Königs von Persien dessen Tochter und ihr heimlicher Liebhaber Arbace die Heraufkunft der Morgendämmerung, der uralten Feindin der Liebe bis hin zu Tristan und Isolde. Klage, Exposition der Situation und Abschiedsarie der Königstochter folgen aufeinander in nur fünf Minuten, die Wiederholung des Arienbeginns nicht mitgerechnet. Ist das undramatisch? Übrigens war Thomas Arne, Komponist von »Rule Britannia«, sein eigener Übersetzer des Librettos.

Nun verließ sich der Dichterfürst Metastasio nicht darauf, dass selbst erstklassige Komponisten seine Verse so setzten, wie er sich das wünschte. Wie ein Meisterarchitekt überließ er es nicht jedem beliebigen Maurer, seine genialen Entwürfe zu ruinieren. Er suchte dadurch Einfluss zu nehmen, dass er die Erstaufführungen seiner Opern an vertrauenswürdige, erprobte Komponisten vergab. Es waren im Wesentlichen elf an der Zahl: Domenico Sarro, Pietro Auletta, Luca Antonio Predieri, Giuseppe Bonno, Francesco Conti, Giovanni Conforti, Leonardo Vinci, Antonio Caldara, Georg Christoph Wagenseil, Georg Reutter (der Jüngere) und Johann Adolph Hasse. Die meisten der Namen sagen uns heute nichts mehr. Caldara war der meistbeschäftigte Komponist, er besaß als Hofkomponist in Wien eine Vorzugsstellung, wie seine Vorgänger oder Nachfolger Reutter, Predieri und Bonno.

1740 schrieb Metastasio ein Werk, in dem er alle Errungenschaften seiner Kunst zu vereinen versuchte. Ein in Karthago gefangener römischer Feldherr wird heimgeschickt. Er soll Friedensbedingungen aushandeln, die, würden sie angenommen, für sein Vaterland von Nachteil wären, ihm aber die Freiheit brächten. Eine Geiselsituation, die unserer Zeit alles andere als abwegig erscheinen müsste. Die Senatoren wollen sich auf den üblen Handel einlassen, um den geliebten Feldherrn und Konsul zu retten. Der aber, ein wahrer Patriot, lehnt in barockem Stoizismus ab. Er kehrt mit leeren Händen zum Feind zurück und hat damit den eigenen Tod besiegelt.

Dieser Stoff, Attilio Regolo, brachte mit seinem tragischen Ausgang ein Abweichen vom gewohnten Schema Metastasios. Der ließ denn auch das Libretto zehn Jahre liegen, ehe er Johann Adolph Hasse mit der Komposition beauftragte – so muss man es formulieren. 1750 kam das Stück in Dresden heraus. Zuvor aber erhielt »il divino Sassone«, wie die Italiener den in Bergedorf geborenen, aber lange in Dresden wirkenden Hasse nannten, im Oktober 1749 einen Brief Metastasios aus Joslowitz, dem böhmischen Landsitz von Metastasios geliebter Marianna II, der Gräfin d’Althann: »Mein hochverehrter Monsieur Hasse ist seit meiner Abreise aus Wien meinem Herzen nicht etwa fern gewesen. Aber bisher habe ich mich Ihnen nicht widmen können, da ich vor lauter Müßiggang kaum mein eigener Herr bin, außer zur Nachtruhe. So sehr lenken mich Spaziergänge, Jagdvergnügen, Musik, Kartenspiel und Gespräche ab, dass mir kein Augenblick für meine eigenen Gedanken bleibt, andernfalls ich meine Gesellschaft vernachlässigen müsste. Doch ungeachtet all dieser Zerstreuungen erfüllt mich das Bedauern darüber, dass ich Ihnen so lange nicht geschrieben habe.«

Das alles wird Hasse überflogen haben, dergleichen nahm man erst beim zweiten Durchlesen zur Kenntnis. Metastasio wollte jedoch, das ging aus der bloßen Länge des Briefes hervor, Wichtigeres erörtern. Hasse hatte ihn um Erläuterungen zu Attilio Regolo gebeten, und die zu geben war der Dichter nur zu bereit: »Weil also ›Attilio Regolo‹ der Gegenstand meines Briefes sein soll, beginne ich am besten mit einer Darlegung der Charaktere.« Regolo, so stellt sich heraus, ist der Held aller metastasianischen Helden, und das Adjektiv »metastasianisch« spielte in der italienischen Operngeschichte damals bereits eine große Rolle: »Seine Tapferkeit ist vielfach erprobt und widersteht jeder Laune des Glücks. Er ist empfänglich für alle menschlichen Regungen, aber er steht über ihnen. Ein großer Feldherr, guter Staatsbürger und treusorgender Vater. Niemals aber trennt er diese Eigenschaften von seiner Liebe zu seinem Lande … Ein Freund des Ruhms, diesen aber bloß als einen Lohn betrachtend, dem der Einzelne nachstreben soll, indem er seinen eigenen Vorteil, sein persönliches Glück dem Gemeinwohl opfert. Mit diesen inneren Eigenschaften meines Prototyps verbinde ich ein anziehendes Äußeres, ohne Pompösität, nachdenklich aber heiter, ehrfurchtgebietend aber menschlich … Seine Stimme und seine Gebärden sollten nicht Willkür verbreiten, das wünsche ich nicht.«

Obwohl der Komponist mit solchen allgemeinen Vorzügen des Helden wenig anzufangen wusste – wer kann schon die Tugend selbst in Noten setzen –, so folgten nun genauere Anweisungen für die Musik: »Jetzt kommen wir … zur siebten Szene des ersten Aktes. Nach der Zeile für Manlio: ›T’acheta, ei viene‹ hätte ich gern ein kurzes Orchesterzwischenspiel, damit Zeit bleibt für den Konsul und die Senatoren, Platz zu nehmen, und für Regolo, langsam nach vorn zu kommen, in Gedanken versunken. Die Art des Zwischenspiels sollte majestätisch sein, langsam, mehrfach unterbrochen. Es müsste den Gemütszustand des Regolo ausdrücken, denn er denkt darüber nach, dass er jetzt als Unfreier erscheint, wo er früher als Konsul auftrat. Ich fände es gut, wenn während einer der Unterbrechungen des Zwischenspiels Amilcare einfiele und diese Verse spräche: ›Regolo, a che t’arresti? / forse nuove / per te questo soggiorno?‹ Und das Zwischenspiel sollte erst beendet sein nach Regolos Antwort: ›Penso qual ne partii, qual vi ritorno.‹ Nach diesen Worten müssten die Instrumente rasch zum Ende kommen.«

So geht es in Metastasios Brief über Seiten hinweg mit Wünschen, die wie Ratschläge, und mit Ratschlägen, die wie Befehle waren. Der Brief zeigt den Dichter nicht nur auf der Höhe seines Ruhms, sondern auch in seiner Rolle als der eigentlich Hauptverantwortliche einer Oper – die Vorstellungen des Komponisten stehen erst an zweiter Stelle. Für uns die völlige Umkehrung der heute geläufigen Vorstellung, der zufolge selbst der beste Textdichter der Diener des Komponisten zu sein habe. Die Autoren von Otello und Rosenkavalier sind in unseren Augen eben nicht Boito und Hofmannsthal, sondern Verdi und Strauss. Übrigens schätzte Metastasio von allen seinen Opern Attilio Regolo am höchsten, wie Casanova bezeugt hat, der ihn 1753 in Wien besuchte: »Das will aber noch nicht sagen, daß sie die beste ist«, soll er hinzugefügt haben. Casanovas Schilderung belegt eindrucksvoll Metastasios dichterisches Selbstbewusstsein, das von Selbstgenuss kaum zu unterscheiden ist.

 

… in einem einstündigen Gespräch fand ich die Gelehrsamkeit des Dichters noch größer, als es seine Werke versprachen. Seine Bescheidenheit hielt ich anfangs für unnatürlich; aber sehr rasch merkte ich, daß sie echt war. Sie verlor sich nämlich, sobald er etwas aus seinen Werken vortrug und dabei selbst auf die Schönheiten hinwies. Ich erwähnte seinen Lehrmeister Gravina, und er rezitierte fünf oder sechs Stanzen, die er bei dessen Tod gedichtet, aber nicht in Druck gegeben hatte; und ich sah ihn, von dem Wohlklang seiner eigenen Poesie gerührt, Tränen vergießen. Nachdem er sie mir rezitiert hatte, fragte er unvermittelt:

»Sagen Sie mir die Wahrheit, kann man es besser sagen?«

Ich antwortete, nur ihm allein stehe es zu, das für unmöglich zu halten.

Ich erkundigte mich, ob ihn seine schönen Verse große Mühe kosteten; daraufhin zeigte er mir fünf oder sechs Seiten voller Streichungen, die er für notwendig gehalten hatte, um vierzehn Verse zur Vollkommenheit auszufeilen. Er versicherte mir, er habe an einem Tag nie mehr schaffen können. Er bestätigte mir eine bekannte Tatsache, daß die Verse, die einen Dichter die meiste Mühe kosten, auf die uneingeweihten Leser den Eindruck machen, als seien sie mühelos entstanden.

 

In der Mitte des 18. Jahrhunderts war Metastasio ohne Zweifel der Herrscher der barocken Oper. Dennoch musste er diese Position, wie der Brief an Hasse zeigt, unablässig verteidigen. Die Kritik nahm zu, je mehr das Jahrhundert der Leichtlebigkeit und schließlich der Revolution sich gegen alle Reglementierungen auflehnte. Anfangs hatte Metastasio darauf gar nicht reagiert. Bereits 1735 war ein erster, noch anonymer Angriff auf sein Libretto zu Demofoonte