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Helden und Legenden
oder:
Ob sie uns heute noch
etwas zu sagen haben

 
Herausgegeben von
Martin W. Ramb und
Holger Zaborowski

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INHALT

Einleitung

PATRICK ROTH
Tombstone. Letzte Begegnung mit Henry Fonda

LUKAS BÄRFUSS
Die schwarze Halle

JOACHIM HOFMANN-GÖTTIG
Meine Helden:
Die Koblenzer Trümmerfrauen und -männer

THEO ZWANZIGER
Helden im Sport

THOMAS BROSE
Antiheld – Übersetzer – Brückenbauer
Zur Erinnerung an den Dichter Henryk Bereska

ECKHARD NORDHOFEN
Karl macht langsam oder:
Wie einer mit dem Pinsel gegen die Zeit kämpft

»Helden sind für mich meine Kinder.«
MARKUS LÜPERTZ über die Bedeutung von Helden

SIBYLLE LEWITSCHAROFF
Über Helden und eine große Figur, die kein Held ist

HENRIKE MARIA ZILLING
Die »Torheit des Kreuzes« als Heldengeschichte?

HERMANN KURZKE
Maria

ALEXANDER HOLZBACH SAC
San Vincenzo Pallotti.
Ein Porträt von Michael Triegel

JENS ZIMMERMANN
Bonhoeffer: Held des Glaubens?

»Mir sind die Demütigen lieber.«
Ein Gespräch mit Abt ANDREAS RANGE O.CIST. über Helden und Heilige

ANDREAS TACKE
Die Helden-Legenden-Schmiede:
Das 19. Jahrhundert

ANJA KRUKE
Karl Marx – ein Held für heute?
Eine Spurensuche

PETER STEINACKER
Bemerkungen zu Wagners Vorliebe für Heldensagen und Mythen

OLAF MÜCKAIN
Richard Wagners Siegfried.
Vom Archetypus zum Helden der Zukunft

MARIE-LUISE REIS
Heldengedenken. Ein Gedichtzyklus

THOMAS MENGES
Odysseus 2015. Zu Marie-Luise Reis’ Bild
»Der Tomatenpflücker« und ihrem Gedicht »Für Bootsflüchtlinge«

THOMAS MENGES
Das Fenster des »Wiederaufbauers« von
Markus Lüpertz in der Dorfkirche Gütz bei Landsberg

JOSEF FRÜCHTL
Das Spiel ernst nehmen.
Zur Selbstreflexion der Heldenfigur im Film

STEPHAN GRÄTZEL
Der Held aus philosophischer Sicht

JÜRGEN HARDECK
Idole und Idolatrie

MICHAEL HOCHSCHILD
Das Nano-Ego des postmodernen Helden

CHRISTOPHER PAUL CAMPBELL
Der absurde Held als eindimensionaler Mensch

ALFRED DENKER
Der Mann von la Mancha: ein unerwarteter Held

MARTIN W. RAMB
Der Esel als Antiheld im Reich der Tiere

»Wenn es darauf ankam, hat er immer sehr klare Entscheidungen getroffen.«
Ein Gespräch mit BRIGITTE SEEBACHER über Willy Brandt

JENS REICH
Menschen haben gehandelt.
Kein Determinismus des geschichtlichen Ablaufs

HOLGER ZABOROWSKI
Von der Zukunft der Helden

Verzeichnis der Mitwirkenden

Dank

Einleitung

Über den Gipstorso auf dem Gemälde, das den Umschlag dieses Buches ziert, sagte Michael Triegel:

Der Narziß auf dem Stuhl ist der Gipsabguß des Diskuswerfers von Myron, der früher komplett im Vestibül der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig stand, während der Sanierungsarbeiten der Hochschule zerschlagen und von mir aus dem Müll gezogen wurde. Daher ist er mir schon symbolisch für mein ganzes Tun: aus den Bruchstücken im Lapidarium der Geschichte etwas Neues und Eigenes zu bauen.

Vielleicht stellt sich diese Aufgabe auch, wenn man heute über Helden und Legenden nachdenkt: aus den Bruchstücken des Überlieferten etwas Neues und Eigenes zu bauen. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes versuchen daher in je neuer und eigener Weise die Frage zu beantworten, ob Helden und Legenden uns heute noch etwas zu sagen haben und, falls ja, was das sein könnte. Diese Frage ist alles andere als selbstverständlich. Denn man könnte meinen, dass Helden und Legenden der Vergangenheit angehören und dass auch sie auf dem Müll dahindämmern, ja, dort verdämmern sollen. Viele Helden wurden unmodern, ja unverständlich und vergessen; Legenden wurden durch wissenschaftliche Texte, politische Statements oder unterhaltsame Literatur ersetzt. Kein Bedarf mehr, so scheint es, an etwas, das einer längst vergangenen Zeit angehört. Doch vielleicht warten sie auch darauf, dass man sie aus dem Müll zieht und etwas Neues mit ihnen anfängt – weil sie uns vielleicht doch noch etwas zu sagen haben und weil es sich lohnt, auf sie zu hören. Das trotz aller Kritik nie versiegende Interesse an Helden und Legenden – nicht zuletzt ist dies ja das Motto des Kultursommers 2015 des Landes Rheinland-Pfalz – spricht dafür.

PATRICK ROTH

Tombstone.

Letzte Begegnung mit Henry Fonda

»Kaum eineinhalb Jahre ist’s her«, erzählte ich dem Freund bei der Heimfahrt ins San Fernando Valley, »ich war noch verheiratet und hatte uns zwei Karten ergattert für – niemand wußte das damals – das letzte Theaterstück, in dem Henry Fonda live auftrat.

Das Stück hieß The Oldest Living Graduate, wurde in einem alten Beverly Hills Theater auf dem Wilshire Boulevard Ecke Hamilton Drive aufgeführt. Wir saßen dann leider ziemlich weit hinten. Es war lächerlich, ich konnte ihn dort auf der Bühne kaum sehen: In einem Rollstuhl saß er, von den Köpfen, die vor uns saßen, oft so gut wie verdeckt.

Meine Frau hatte ein kleines Fernglas dabei; das holte ihn, wenn er sich, aus meiner Perspektive, auf der Bühne mühsam in eine Lücke zwischen den Köpfen gerollt hatte, für kurze Zeit näher ran. Für die Dauer von ein paar Repliken vielleicht. Aber er war hier hinten auch schlecht zu hören. Und schon daher umso schlechter zu sehen. Es war grauenhaft, ein Desaster, fand ich.

Ich weiß nicht mal mehr, ob er sich, den Applaus am Ende entgegenzunehmen, aus dem Rollstuhl erhob. Sicherlich, wir standen alle. Eine standing ovation für den großen alten Mann – die ihn mir wieder verstellte.

Dann fiel der Vorhang, man verließ den Saal, verließ das Theater. Und irgendwie sagte ich mir, mein Gott, das kann es doch nicht gewesen sein. Dafür bin ich doch nicht gekommen!

Wir gingen raus, es war später Nachmittag, noch nicht dunkel. Ich weiß nicht mehr, wo wir das Auto geparkt hatten. Vielleicht auf Hamilton Drive. Jedenfalls war unmittelbar hinterm Theater ein leerer Platz damals, Parkplatz vielleicht. Ich erinnere mich nicht mehr an Autos. Nur daß ich im Ärger über diese zwei Stunden auf den Platz lief, am Gebäude entlang, als suchte ich nach einem Eingang.

Da … – da sah ich das Zeichen. In Hollywood-Filmen der dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre war überm hinteren Bühnenausgang immer ein Schild angebracht. So auch hier. Über einer in die Betonwand eingelassenen, grauweiß lackierten Metalltür stand:

 

STAGE DOOR

 

Ich sage zu meiner Frau: »Da klopf ich mal an.«

Klopfe also an.

Und als hätte ich hier – zweimal leichter, einmal stärker – den einzig richtigen code geschlagen, wird mir aufgetan.

Ein Mann in Theateruniform, noch jung, aber älter als ich, öffnete sogleich die Tür. Als habe er dahinter gewartet. Auf uns gewartet.

»Wir hätten gern Mr. Fonda gesprochen«, sage ich.

Erwarte jetzt: »Sie und die letzten Zehntausend.« Erwarte, daß er die Tür, als habe er sie irrtümlich geöffnet oder nur, um schnell eine zu rauchen, sofort wieder schließt. Höre – höre ich’s noch? –, sagt der tatsächlich: »Bitte. Kommen Sie rein.«

 

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Abb. 1: Patrick Roth und Henry Fonda (1980).
Foto: privat

 

Sagte er das noch? Jedenfalls sah ich die Geste. Die war unmissverständlich: »Bitte …«

Und noch im Schritt über die Schwelle sah ich sie, rechts, gleich rechts vom STAGE DOOR-Eingang. Sah eine Tür, an der, von zwei Metallkufen gehalten, das Namensschild des Stars angebracht war:

 

MR. FONDA

 

Der Türhüter oder, was immer er war, lief bereits den Korridor hinab, als sei’s nun an uns: Weiter kann er uns nicht helfen, here’s your chance, up to you now.

Nochmals klopfe ich an – eine Handbreit unterm Namensschild –, klopfe ich … vorsichtig … an.

Dann höre ich die – endlich die – aus wie vielen Filmen? – vertraute Stimme Fondas.

»Come on in.«

Als rufe Lincoln, honest Abe oder Wyatt Earp uns herein.

Und wir treten ein. Treten tatsächlich ein.

Da steht er, steht vor uns – Fonda. In Jeans und einem alten Western-Shirt.

Er lächelt hinter seiner großen schwarzen Hornbrille. Vielleicht über die Vorsicht, mit der ich den Raum betrete. Vielleicht freut er sich auch: Schau mal, die haben’s gewagt. Noch mal Besuch.

Die Zeit bei ihm verging natürlich im Fluge. Ich erzählte ihm tatsächlich, wie ich ihn, zum ersten Mal damals, im Karlsruher Jugendheim-am-Engländerplatz auf der Leinwand sah: Im Monument Valley vor »Tombstone« seine Herde zusammentreibend – in My Darling Clementine. Es seien vor allem seine John-Ford-movies, die’s mir angetan hätten. Er wiederholte unmittelbar: »The Ford movies.«

Als wisse er, was da zurückgelassen worden war. Auch zurückgelassen worden war, als er sich in den Fünfzigern mit Ford zerstritt, danach nie mehr in dessen Filmen auftrat. Vielleicht setzte ich auch deshalb hinzu: »I taught myself English – American pronunciation – listening to you reading from ›The Ox-Bow Incident‹.«

»Oh, yeah? – Where you from?« fragte er.

»Germany.«

Fonda nickte ruhig, als habe er das alles gesehen, »all of Germany«, von jeder Leinwand herab, auf die er projiziert worden war. Als kenne er »uns alle« dort.

»You speak German there«, sagte ich. »You probably know that. You’re dubbed.« Synchronisiert. »Young Mister Lincoln – speaks German!«

»I bet he does«, sagte Fonda.

Gegen Ende unserer Unterhaltung meinte er, er werde in den nächsten Tagen noch einmal zu einem großen Fonda-Familientreffen reisen müssen. Noch einmal. Das klang nach Abschied. Und er fügte hinzu, als habe er’s selbst bemerkt: »Wie alle Jahre.«

Ob er sich noch an Dialoge aus Ford-Filmen erinnere, fragte ich ihn zum Schluß.

»Aw … hardly. You know, some of the best lines – Ford would hand em to you just before they rolled camera.«

Jude, meine Frau, hatte eine kleine instamatic camera in der Hand. Ich wußte, da war nur noch ein unbelichtetes Bild drauf, ein letztes, der Rest war verschossen. Wußte auch – im Moment, als sie die Kamera zückte, uns bat zusammenzurücken, damit sie ein Photo von uns machen könne –, daß der verdammte kleine Blitzwürfel nicht mehr funktionierte. Wußte, daß wir hier, im fensterlosen Raum seiner Garderobe, nicht genug Licht hätten – für den Film war’s einfach zu dunkel. Aber es war zu spät, war ja völlig unmöglich, ihn gar hinauszubitten. Auf den Parkplatz etwa? Vor die Betonwand? Da blitzte es schon – blitzte! Und Jude war happy, ich war happy, Fonda lächelte. Alles war völlig glatt gelaufen, als ginge das gar nicht anders in seiner Gegenwart, klar.

Ich war schon dabei, mich abzuwenden, Jude stand bei der Tür, hatte sie bereits geöffnet, da sagt er: »Good night!«

Als hätten wir lange bei ihm verbracht, als sei’s Nacht darüber geworden.

Sein Bild, dieses letzte Bild samt seiner Stimme – als habe er wie in »Young Mister Lincoln« zur Menge gerufen: »That’s all I have to say. Good night!« –, hat sich in mir festgemacht. Wie das Bild unterm Lid, das bleibt, wenn – auf helles Licht hin – unser Auge sich schließt.

LUKAS BÄRFUSS

Die schwarze Halle

Frau Hoffmann, was haben Sie mir mitgebracht.

 

Einige Fragen, Hot Berry.

 

Nichts weiter.

 

Was haben Sie erwartet.

 

Alles, Frau Hoffmann, ich erwarte immer alles.

 

Vergangene Woche hat der Staatsanwalt formell Klage gegen Sie erhoben. Er wirft Ihnen Steuerbetrug in Millionenhöhe vor. Wie sehen die Grundzüge Ihrer Strategie aus.

 

Welche Strategie.

 

Wie werden Sie sich verteidigen.

 

Ich verteidige mich nicht. Ich habe mich noch nie verteidigt.

 

Ihnen drohen sechs Jahre Gefängnis.

 

Keine Sorge, Frau Hoffmann, mir droht gar nichts.

 

Man hat in den letzten Jahrzehnten wiederholt versucht, Sie des Betrugs, der Gründung einer kriminellen Organisation, der Nötigung und des sexuellen Missbrauchs zu überführen. Jedes Mal vergeblich. Ihre Organisation und Sie selbst waren bis anhin unantastbar. Und nun könnten Sie wegen einiger Steuermillionen die nächsten Jahre hinter Gitter verbringen. Man fragt sich, warum Hot Berry nicht einfach seine Steuerrechnung bezahlt.

 

Weil ich niemandem nichts schulde, Frau Hoffmann.

 

Das heißt, Sie haben Ihre Steuern beglichen.

 

Hören Sie nicht zu. Ich habe keine Schulden. Wie könnte ich begleichen, was ich nicht schulde. Wenn man mir den Vertrag zeigt, auf dem meine Unterschrift steht, wenn man mir den Schuldschein präsentiert, mit dem ich irgendeine Verpflichtung eingegangen bin, dann werde ich gerne meine Obliegenheiten regeln.

 

Steuern werden voraussetzungslos geschuldet. Das müsste Ihnen bekannt sein.

 

Eine voraussetzungslose Schuld. In die man geboren wird und von der man sich nie befreien kann. Ich dachte, unsere Gesellschaft hätte dieses Stadium überwunden.

 

Der Staat braucht Mittel, um die Infrastruktur zu unterhalten, Infrastruktur, auf die auch Sie angewiesen sind, Straßen, Wasserleitungen, die Gehälter für das öffentliche Personal.

 

Wie können Sie wissen, worauf ich angewiesen bin, Frau Hoffmann. Wie lange kennen wir uns. Ich habe nicht um diese Dinge gebeten. Nicht um Wasserleitungen, nicht um Straßen. Um gar nichts habe ich gebeten.

 

Sie haben Bücher geschrieben über die emanzipatorische Kraft der Armut, über das wahre Glück, über die innere Befreiung. Doch offensichtlich sind Sie selbst nicht frei von niederen Trieben.

 

Was sind niedere Triebe.

 

Gier zum Beispiel.

 

Ich werde Ihnen sagen, was passiert ist. Dieser Staat, der sich an die Stelle der alten Götter gesetzt hat, kommt und verlangt Geld. Ich sage: Ich anerkenne dich nicht. Ich werde dir nicht opfern. Der Staat, dieser Götze, sagt: Du musst bezahlen. Ich sage: Gut, ich werde die Schuld begleichen, wenn du mir sagst, wie ich mich verpflichtet habe. Der Staat antwortet: Du hast dich nicht verpflichtet, du bist verpflichtet. Und ich sage: Zeige mir wenigstens den Schuldschein, den Vertrag, unter den ich meine Unterschrift setzte. Das ist mein gutes Recht. Und der Staat, dieser große Gott, antwortet: Es gibt keinen Vertrag, es gibt keinen Schuldschein. Und ich frage: Warum sollte ich also das Opfer bringen. Und der Staat entgegnet: Weil wir dich sonst büßen. Weil du sonst ins Gefängnis wanderst. Weil wir dich mit Schande überhäufen. Mit welchem Recht, frage ich. Und als Antwort erhalte ich: Mit dem Recht des Stärkeren. Bin ich gierig, weil ich dieses Unrecht nicht anerkenne. Dann bin ich gerne gierig.

 

Sie haben diese Welt nicht leer vorgefunden. Sie leben von den Leistungen der Generationen vor Ihnen. Sollten nicht auch Sie etwas zurückgeben.

 

Ich gebe nicht, Frau Hoffmann, ich nehme nur.

 

Und Sie nehmen eine ganze Menge. Auf dem Weg zu Ihnen bin ich an riesigen Hallen vorbeigekommen, gefüllt mit gebrauchten Gütern des täglichen Lebens. Fernsehgeräte, Teppiche, Autos, Geschirr. Eine Halle, zum Beispiel, durfte ich besuchen, da lagen in schweren Kisten nichts als Orangenpressen, in einer anderen stapeln sich Wäschetrockner, ferner allerhand Sportgeräte wie Skier, Tennisschläger, Bein- und Armschoner aller möglichen Disziplinen, daneben Schraubenzieher, Lötkolben, Mikroskope, und, sehr berührend, einige Hallen voller Teddybären und Kuscheldecken. Hot Berry, warum bringen Ihnen die Menschen ihr gesamtes Hab und Gut.

 

Weil ich nicht frage. Weil ich nicht prüfe. Weil ich alles nehme, jeden Dreck und jede Schande.

 

Man bringt nicht nur Dreck. Ich sah auch eine Halle voller Preziosen, Diademe, Hochzeitsringe, Krawattennadeln.

 

Das ist der größte Dreck. Was man Ihnen wegnehmen könnte. Worauf Sie aufpassen müssen, jeden Tag und jede Stunde.

 

Womit werden die Menschen für diese Geschenke entschädigt.

 

Geschenke, Frau Hoffmann, das sind keine Geschenke. Mit Geschenken macht man Sklaven. Für jedes Geschenk erwartet man ein Gegengeschenk, und dafür ein Gegengegengeschenk, und immer so weiter, ad infinitum.

 

Was ist Ihre Gegenleistung.

 

Ich verstehe nicht.

 

Was erhalten die Menschen von Ihnen.

 

Nichts.

 

Sie gehen leer aus.

 

Was verstehen Sie daran nicht, Frau Hoffmann.

 

Ich verstehe nicht, warum ein vernünftiger Mensch auf seinen hart erarbeiteten Besitz verzichtet, wenn er ganz und gar leer dabei ausgeht.

 

Genau deshalb. Um leer auszugehen.

 

Man hat gehört, dass man Ihnen alles, das ganze Vermögen überlassen muss. Einzelne Teile würden Sie nicht akzeptieren.

 

Wie gesagt, ich nehme alles. Ich frage nicht.

Ich kann Ihnen also zum Beispiel mein altes Frittieröl bringen.

 

Sie dürfen gerne damit anfangen, Frau Hoffmann. Die meisten, die zu mir kommen, beginnen mit dem Leichten.

 

Und überschreiben Ihnen schließlich den ganzen Besitz, das ganze Vermögen, bis sie dastehen im Unterhemd.

 

Es standen tatsächlich viele Menschen nackt vor mir, genau an der Stelle, wo Sie jetzt stehen. Und es ging ihnen nicht schlecht dabei, das kann ich Ihnen versichern.

 

Sie predigen Besitzlosigkeit – und gehören selbst zu den Reichsten unter den Reichen.

 

Ich predige nicht, Frau Hoffmann, ich habe nie gepredigt.

 

Das Material, das Sie den Menschen abnehmen, verscherbeln Sie zu Schleuderpreisen und machen damit weltweit die Märkte kaputt. Zum Schaden der normalen Geschäftsleute, die ihre Ware nicht geschenkt bekommen, sondern kaufen müssen. Ist das gerecht.

 

Sind das Ihre Fragen, Frau Hoffmann. Sind Sie wirklich deswegen gekommen. Um mich der Scharlatanerie zu überführen, der Lüge und der Heimtücke. Sind Sie gekommen, um Hot Berry die Maske des Menschenfreundes vom Gesicht zu reißen, um der Welt zu zeigen, welche Fratze sich hinter diesem ungemein liebevollen Lächeln verbringt. Das war doch stets Ihre Aufgabe, nicht wahr. Sie haben Georg Brandt getroffen und geknackt, Sie haben William Cage getroffen und geknackt, die Dietrich, so hat man mir erzählt, hätten Sie nach vierundzwanzig Minuten geknackt gehabt, und das im Alter von keinen fünfundzwanzig Jahren. Ihr Ruf als Knackerin ist unerreicht. Monumente haben Sie vom Sockel gerissen, den Mächtigen die Maske vom Gesicht. Die Kollegen nennen Sie den Nussknacker, habe ich recht, weil Sie alle Widerstände überwinden, jeden Trick durchschauen. Und jetzt also, Frau Hoffmann, habe ich diesen Soldaten zu erwarten, der mich zwischen seine Kiefer nehmen und mich der Schale entledigen wird, die mich geschützt hat ein Leben lang, bis zur Erstarrung, zur Versteinerung. Sind Sie wirklich gekommen, um mich mit anfänglich harmlosen Fragen einzulullen, wie Sie es mit Maréchal gemacht haben, diesem Tyrannosaurus Rex der modernen Soziologie, wie Sie ihn beiläufig genannt haben, und der Sie viel zu lange und fatalerweise als Komplizin wähnte, bevor Sie ihm mit der dreizehnten Frage das Messer in die Rippen stießen und umdrehten, dreimal, mit einer Triole von kurzen, präzisen Nachfragen. Oder lieber die andere Methode. Gleich zu Beginn einen rhetorischen Pflasterstein ins Gesicht und meine Visage zerschmettert zurückzulassen wie bei diesem philosophischen Langstreckenläufer, der danach seine Plattitüden über den inneren Marathon der menschlichen Psyche zu sich selbst nur noch undeutlich mit blutigen Lippen stammeln konnte, bis Sie ihn nach der Endlosigkeit von dreiundvierzig Fragen mit Ihrer berühmten Schlussformel »Ich danke Ihnen aufrichtig für dieses Gespräch« zurück in die Peinlichkeit seiner Existenz entließen. Welche Instrumente haben Sie für mich bereitgelegt, werden Sie mich aufschneiden, kitzeln, sprengen, was. Möchten Sie nun auch Hot Berry erlegen, sind Sie es nicht langsam müde, Frau Hoffmann, haben Sie nicht genug Trophäen. Und haben Sie keine Angst vor dem, was zum Vorschein kommen könnte, Frau Hoffmann, vor diesem Entblößten, der, wenn Sie Erfolg haben, bald vor Ihnen stehen könnte.

 

Angst nicht, Hot Berry, aber ich muss zugeben, dass der Gedanke an Ihre Blöße nicht nur mit angenehmen Empfindungen verbunden ist. Und nein, ich bin meiner Arbeit nicht überdrüssig. Weil ich der Wahrheit nicht überdrüssig bin. Ich möchte zum Beispiel wissen, was es mit der schwarzen Halle auf sich hat.

 

Die Menschen bringen nicht nur, was Sie als Preziose bezeichnen, nicht nur das Hübsche, Harmlose.

 

Tatsächlich besteht ein großer Teil des Geländes aus ganz gewöhnlichem Müll.

 

Hat Sie der Müll erschreckt, Frau Hoffmann. Mögen Sie seinen süßen Geruch nicht. Es gibt nichts, was mehr Wahrheit enthält als der Abfall. Er müsste Ihnen gefallen.

 

Also bestätigen Sie die Existenz der schwarzen Halle.

 

Die Menschen brauchen Begriffe für jene Dinge, die ihre Vorstellungskraft übersteigen.

 

Die Öffentlichkeit ist beunruhigt. Man weiß nicht, was Sie in jener Halle lagern. Man fürchtet, es könnten schädliche Substanzen in die Umwelt gelangen.

 

Schädliche Substanzen, das gefällt mir.

 

Werden Sie mir Zugang zu dieser Halle gewähren.

 

Das möchte ich Ihnen lieber ersparen.

 

Ich kann einiges ertragen.

 

Aber nicht das. Und ich rede nicht von den Zahnspangen, den Beinprothesen, nicht von den ausgeschlagenen Zähnen, die man mir auf die Schwelle legt, ich rede nicht von den Geschwülsten, die man den Liebsten aus dem Bauch geschnitten hat, ich rede nicht von den blutverschmierten Laken, nicht von den Bildern, die man nach dem Tod des Vaters in einer versteckten Schublade seines Schreibtisches fand, ich rede nicht von den nie abgeschickten Briefen, nicht von den hinterlassenen Tagebüchern, nicht von den Geständnissen, den Bekenntnissen, den Beichten. Ich rede von den Geheimnissen der menschlichen Seele, die man nicht hinter einer Tür verschließen kann.

 

Und alle diese dunklen, dunklen Geheimnisse darf man Hot Berry bringen.

 

Möchten Sie sich ein bisschen gruseln, Frau Hoffmann, ist Ihnen doch langweilig in Ihrer Existenz. Oder wollen Sie die Scheußlichkeiten der Menschheit mit Ihren eigenen vergleichen, um sich zu beweisen, welch reines Mädchen Sie sind, wie tugendhaft und ehrlich.

 

Ich glaube nicht, dass es hier und heute um meine Scheußlichkeiten geht.

 

Gewiss nicht. Darum geht es nie. Sie demaskieren die Menschen, aber sich selbst offenbaren Sie nicht. Sie haben von Gier gesprochen. Ich spreche von Feigheit, Frau Hoffmann.

 

Ich habe nichts gegen Sie, Hot Berry. Sie sind mir nicht besonders sympathisch, das gebe ich zu. Ich möchte verstehen, wer Sie sind, wie Sie funktionieren. Und wie Sie es geschafft haben, so viele Menschen zu verführen.

 

Schau an, Sie interessieren sich für die Verführung.

 

Rein beruflich, ja.

 

Lassen Sie das doch, Frau Hoffmann. Sie sehnen sich nach Befreiung. Frau Hoffmann hat genug von Frau Hoffmann. Doch Sie haben Angst vor dem Schmerz, vor dem Verlust. Aber das eine wird ohne das andere nicht zu haben sein. Ihre Feigheit kaschieren Sie mit kritischem Geist. Und jene, die es gewagt haben, bezeichnen Sie als Verführte.

 

Sie sollten nicht versuchen, mich zu manipulieren, Hot Berry. Das wäre zwecklos.

 

Weil ich mich nicht von Ihnen täuschen lasse, fühlen Sie sich manipuliert. Langsam werde ich neugierig, Frau Hoffmann. Es muss etwas an Ihren Geheimnissen sein, dass Sie sie mit aller Kraft zu verstecken versuchen.

Sie möchten meine wahren Empfindungen kennen, Hot Berry. Im Augenblick ist es vor allem Enttäuschung. Nach allem, was man sich über Sie erzählt, durfte ich doch erwarten, zumindest in eine Orgie zu geraten und angekettete Kreaturen in der Ecke verdämmern zu sehen. Ich durfte doch mit einigem Recht annehmen, die üppigsten Formen würden mich empfangen, ich rechnete mit Geräuschen, die mich täuschen, ich erwartete Gerüche, die mich betäuben, Opiumdämpfe, Amberschwaden, den Odem der Ausschweifung, von Schweiß, Sperma, Blut, den Ausdünstungen der Metamorphose, ich war bereit für unauslöschliche Bilder, die mich signieren würden auf ewig, ich rechnete mit Verdammten, die den Weg nach draußen suchen, mit Labyrinthen, mit Schreien, die durch die Korridore gellen, Gesänge der auf ewig unerlösten Seelen, Ausstoßungen und Absonderungen habe ich in jedem Winkel erwartet. So, sagte ich mir morgens, heute nun treffe ich Hot Berry, und ich treffe ihn in seiner eigenen Höhle, in seinem verwunschenen Garten, in seinem Tümpel, Hot Berry, der Menschenfischer, der Verführer, der Manipulator, Hot Berry, der dir, wenn du nicht achtgibst, die Seele rauben und sie sich einverleiben wird, Hot Berry, der jeden Willen bricht, dem die Mütter ihre Töchter bringen, damit er sie entjungfere, dem Männer, ehrbar und wohlhabend, den ganzen Besitz übertragen, Haus, Vermögen, das letzte Hemd, den letzten Schuh, Hot Berry, die größte Heimlichkeit, der nie geboren wurde, von dem kein Bild existiert, der dreiundsechzig Bücher geschrieben hat, dessen Auflagen die HundertMillionen-Grenze längst überschritten haben, dessen Weisheiten Ministerpräsidenten und Vorstandsvorsitzende in ihre Memoiren schreiben wie Schulmädchen Maximen der ersten Liebe in ihre Tagebücher, Hot Berry, der seit dreiundzwanzig Jahren kein Interview gegeben hat, dessen Gespräch mit Gay Talese ein Klassiker geworden ist, von mir studiert als junges Ding an der Universität, so tief, so wahr, so unvorhergesehen. Ein großer Name, ein großer Tag, die Weltpresse wird mich beneiden. Und was finde ich. Statt Furien Empfangsdamen mit hochgesteckten Haaren und in weißen Blusen, mit dumpfem Blick und fadem Atem, statt Lasterhöhlen Schulungsräume, wo ein Strenggescheitelter einer braven Eleven-Schar farbige Diagramme des geglückten Lebens präsentiert, statt Giftphiolen Muranoschalen mit makellosem Obst. Ich erwartete die Gegenwelt, Hot Berry, und finde mich in einem staubgesaugten Konferenzzentrum wieder. Ich hatte Angst, ich hielt mich nicht für stark genug, ich fürchtete, auch ich könnte Ihnen verfallen, aber es gibt ja nichts. Bloß leere Gänge, am Ende eine Tür, dahinter ein alter, müder Mann, der sich vor dem Gefängnis fürchtet.

 

Möchten Sie Absinth trinken, Frau Hoffmann, einen Tropfen Blut von einer aufgesprungenen Lippe lecken, sehnen Sie sich nach sprungbereiten, bocksfüßigen Dämonen, nach jemandem, der ihre rosa Spitzen in Unordnung bringt.

 

Ich trage keine Spitzen.

 

Sie haben etwas mitgebracht, Frau Hoffmann, und Sie brennen darauf, es mir vor die Füße zu legen. Sie zögern noch, weil Sie Angst haben, ich könnte Sie zurückweisen.

Sie reden vom Schuldgefühl, das man überwinden soll, und dabei züchten Sie es selbst. Sie reden den Menschen ein, dass in ihrem Innern ein schmutziges Geheimnis verborgen liege, etwas, wofür man sich schämen muss und das man loswerden will, loswerden kann dank Hot Berry, dem großen Erlöser, der alles entgegennimmt, ohne zu fragen. Natürlich habe ich Angst. Ich habe Angst, nicht zu genügen. Angst, Ihnen die falschen Fragen zu stellen, nicht vorbereitet zu sein und schließlich eine schlechte Arbeit abzuliefern. Und weil ich diese Angst empfinde, habe ich mich vorbereitet, habe das halbe Dutzend Biografien studiert, die man Ihnen zu Ehren verfasst hat, und sogar einige Ihrer, verzeihen Sie, unsäglich langweiligen, mit Plattitüden gefüllten Schriften gelesen. Ich habe geflissentlich einen Leitfaden erstellt, mich mit Kollegen ausgetauscht, ich habe mich vorbereitet. Und während dieser Tage hat meine Tochter, wie es halt so kommt, sich in eine ungewollte Schwangerschaft verwickeln lassen, so hat sie sich ausgedrückt, mit diesen Worten hat Sie es gestanden. Ich begleitete Sie zum Arzt und ließ mich von ihr in den ersten hormonellen Aufwallungen zusammenstauchen. Und ja, ich fühlte mich schuldig. Weil ich mich zu wenig um sie gekümmert habe, weil ich nicht bei ihr war, als sie mich brauchte. Sie sagen Schuldgefühl. Ich sage Verantwortung. Es ist der Preis der Liebe. Wie lieben Sie, Hot Berry, wenn nicht mit einem Schuldgefühl.

 

Liebe, Frau Hoffmann, was ich darunter verstehe. Jedenfalls mehr als das Abstottern einer Schuld in Raten, einer Schuld, die letzten Endes niemals beglichen werden kann. Ich möchte nicht so leben. Ich möchte nicht mit dem ständigen Gefühl vegetieren, bloß ein halbwegs respektabler Schuldner zu sein. Ich sehe, Frau Hoffmann, welche Last Sie tragen, in welcher Scham Sie Ihr Dasein fristen, welche Anstrengung es sie kostet, als verlässliche Kreditnehmerin zu scheinen, jeden Augenblick, wie bemüht Sie sind, Ihre Gläubiger nicht zu verprellen, wie dieses Gefühl an Ihnen nagt, niemals dafür aufkommen zu können, was andere in Sie investiert haben. Ihre Rechnung möchten Sie ausgeglichen halten, Sie schreiben Ihre Buchhaltung, füllen die Kolonnen mit Soll und Haben, Sie zählen Ihr Hab, Ihr Gut, erstellen Inventare jener Sachen, von denen Sie annehmen, dass Sie sie besitzen. Und ja, Sie besitzen die Dinge, wie Vögel ihre Brut besitzen, angekettet an die Kostbarkeit, die Ihrer Wärme bedarf, Ihrer Fürsorge, Sie hegen und pflegen die Dinge, bürsten Ihre Schuhe, polieren das Silber, entstauben die Regale, ölen das Getriebe, Sie widmen sich Ihrem Besitz, dem beweglichen und dem unbeweglichen, schütteln morgens die Kissen aus, streichen das Laken glatt, Sie spülen das Geschirr, schnüren die Schuhe, schließen die Tür ab, werfen Geld in den Automaten, blättern in Zeitschriften, entfachen Streichhölzer, legen das Kleingeld ins Münzfach, Sie halten sich an Ihre Sicherheiten, an die Zeichen Ihres Gegenwertes. Aber es hilft nichts. Nie ist genug genug, der Saldo bleibt unveränderlich im Minus, zu wenig haben Sie der Welt zu geben, zu wenig Liebe, zu wenig Anerkennung, und Sie können nur auf die Nachsicht und die Geduld Ihrer Gläubiger hoffen, dass sie einen weiteren Vorschuss in ihre Existenz setzen, entgegen jeder wirtschaftlichen Vernunft, die Frau Hoffmann längst abschreiben müsste als faulen Posten im Portfolio. Und diese Angst nennen Sie dann Liebe.

Ihre Kritik an den Sachwerten berührt mich ungemein, Hot Berry, vor allem wenn ich sehe, in welcher Armut Sie hier vegetieren. Mit wie wenig Sie sich bescheiden, worauf Sie verzichten, wie vollständig Sie dem Luxus abgeschworen haben. Sie haben gerafft, ein Leben lang haben Sie genommen, mit beiden Händen. Und die Währung, mit der Sie ihr Vermögen gemacht haben, war das Schuldgefühl der Menschen. Sie haben weise Worte in die Welt gesetzt, Lehren der Bescheidenheit, der Entsagung und der Schuldlosigkeit. Aber jetzt sehe ich Ihren Wanst, Ihren Bauchumfang, der die Distanz markiert zwischen Ihren Reden und dem Sein.

 

Frau Hoffmann, was Sie als meinen Besitz betrachten, was Sie hier blendet und wovon Sie gelegentlich träumen mögen, das ist in Wahrheit eine Bürde. Sie wäre es für jeden von uns. Und es ist besser, wenn dieser ganze Tand nur einem zur Last wird. Und zu einer Last ist er mir längst geworden.