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Michael Gamper

Der große Mann

Geschichte eines
politischen Phantasmas

 

 

 

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Inhalt

1. Einleitung

2. Vorgeschichte(n)

Das Erbe der Antike

Machiavellis Pragmatik der Führung

Hobbes und die Macht der Verkörperung

Tragische Ästhetik der Größe

»Masaniello«: Grenzen des frühneuzeitlichen Parvenüs

3. Tugendhelden und die Größe der Könige

Von den ›hommes illustres‹ zu den ›grands hommes‹

Der große Mann als Tugendheld

Die Inszenierung eines großen Mannes: das Leibniz-Denkmal in Hannover

Friedrich II. und seine Erhebung zum Großen

Gefühlspolitische Machtdynamiken

4. Fiktionen des großen Mannes vor seinem Erscheinen

Prophezeiungen des ›großen Mannes‹: Burke und Wieland

Die Funktion der Fiktion: Imaginationsgeschichte und Imaginärpolitik

Dramatische Präludien

Wallensteins fehlende tragische Größe

Übertragungsphänomene des Halbwissens: Aberglaube und Gerüchte

Ordnungsmacht der Masse

Realpolitik der Fiktion

5. Weibliche Größe

Eine Bühne für die große Königin: Schillers »Maria Stuart«

Charisma in extremis: Schillers »Jungfrau von Orleans«

Weibliches Opfer: Grillparzers »Libussa«

Dekonstruktion der rhetorischen Bedingungen von ›Größe‹: Kleists »Penthesilea«

Vernichtung infernal-monumentaler Größe: Hebbels »Judith«

Luise von Preußen als »Königin der Herzen«

Luises Größe

6. Napoléons Größe

Merkmale neuer Größe

Mediale Übertragungen

Poetische Erhöhungen

Organisation des Nachruhms

7. Heines politische Nachträglichkeit

›Größe‹ als mythisches Medienereignis

Persönliche Exzellenz in Zeiten der Nivellierung

Imaginärpolitische Inszenierungen

Spiel mit dem großen Dichter

8. Geschichte machen

Konzepte individueller Geschichtsmächtigkeit: Hegel

Geschichte erzählen: Droysen

Größe im Komparativ: Grabbe

Roman als Gattung fehlender Größe

Biographische Fokussierung

Historische Größe im Scheitelpunkt: Burckhardt

9. Vermittelmäßigung und Radikalisierung

Der ›homme moyen‹ als ›grand homme‹: Quetelet

Vervielfältigung und Popularisierung: Emerson, Carlyle

Denkmäler als Medien der vielen kleinen ›großen Männer‹

Verzehrung des ›großen Mannes‹ durch Demokratie, Sozialismus und Soziologie

Größe in den Extremen: Nietzsche

Neufigurierung: der Massenführer

10. Nachleben

Vom Kriegshelden zum (Sport-)Star

Vom Ruhm zum Erfolg

Ökonomischer Erfolg: Soupaults »Le grand homme«

Die Größe des 20. Jahrhunderts: Max Webers Charisma

Führersehnsucht in der Weimarer Republik

Der Führer als Diktator

Affekt-Politik im Zeichen persönlicher Exzellenz

Literatur

Dank

Register

1. Einleitung

»Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühle mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken.« [1] Dies schrieb Georg Büchner in der zweiten Januarhälfte 1834 an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé, und rund ein Jahr später ließ er die Titelgestalt seines Dramas Dantons Tod seiner Frau Julie auf deren Ausspruch »Du hast das Vaterland gerettet« Ähnliches antworten:

Ja das hab’ ich. Das war Notwehr, wir mußten. […]

Es muß, das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?

Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht wie im Märchen. [2]

Wie im sogenannten ›Fatalismus-Brief‹ begreift Büchner »Größe« hier als bloßes Produkt des Zufalls und das Walten des Genies als »Puppenspiel«, das »von unbekannten Gewalten« geleitet wird. Der »Einzelne« sei »Schaum auf der Welle«, ein bloßes Oberflächenphänomen, getragen von zugleich diffusen und vergänglichen Elementen, deren Antrieb sich nicht erkennbaren Kräften verdankt. Büchner streitet nicht ab, dass es so etwas wie »Größe« gebe und dass sie für die Erfahrung von Geschichte und Politik wesentlich sei, allerdings stellt er vehement in Abrede, dass sie sinnvoll personal zurechenbar sei, wenn man über die historischen Kausalzusammenhänge Erkenntnis gewinnen wolle.

Diametral entgegen steht dem ein Diktum des Historismus: »Männer machen die Geschichte.« [3] Es stammt von Heinrich von Treitschke, der seine Historiographie ganz in den Dienst der nationalliberalen preußischen Staatsidee stellte und seine Deutsche Geschichte (1879-1894) in weiten Teilen biographisch ausrichtete. Der prominent hervortretende Einzelne war für Treitschke der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte, ihn galt es in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu stellen. Ausführlicher äußerte er sich zu den methodischen Implikationen seines Ansatzes in einer Passage seiner posthum gedruckten Vorlesung zur Politik, die er seit den 1860er Jahren regelmäßig hielt:

Das historische Denken ist viel complicierter als das in einfacher Schlußfolgerung vorschreitende Denken der Naturwissenschaften. Die Zeit wird wohl bald kommen, wo der thörichte Rangstreit zwischen Geistes- und exakten Wissenschaften aufhören wird. Die Geisteswissenschaften haben die höheren und idealeren Aufgaben, darum müssen sie immer inexact bleiben; sie können sich immer nur annähern an die Wahrheit. Für den Historiker sind die Resultate zugleich die Elemente seiner Wissenschaft; das macht das historische Denken so schwierig. Es scheint zwar, als ob der erzählende Historiker auch nur vom Früheren auf das Spätere schlösse, in Wahrheit folgert er umgekehrt vom Späteren auf das Frühere. Er will und kann von dem Geschehenen immer nur einen Ausschnitt geben; er muß sich also, wenn er an die Beschreibung einer Epoche herantritt, darüber klar sein, welche Ereignisse für die Folgezeit bedeutsam, für die Nachwelt wichtig geworden sind. Wäre die Geschichte eine exakte Wissenschaft, so müßten wir im Stande sein die Zukunft der Staaten zu enthüllen. Das können wir aber nicht, denn überall stößt die Geschichtswissenschaft auf das Räthsel der Persönlichkeit. Personen, Männer sind es, welche die Geschichte machen. Männer wie Luther, Friedrich der Große oder Bismarck. Diese große, heldenhafte Wahrheit wird immer wahr bleiben; und wie es zugeht, daß diese Männer erscheinen, zur rechten Zeit der rechte Mann, das wird uns Sterblichen immer ein Räthsel sein. Die Zeit bildet das Genie, aber sie schafft es nicht. Wohl arbeiten gewisse Ideen in der Geschichte, aber sie einzuprägen in den spröden Stoff ist nur dem Genius beschieden, der sich in der Persönlichkeit eines bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit offenbart. [4]

Treitschkes Überlegungen standen im Kontext der Auseinandersetzungen um den unterschiedlichen Wissenschaftsbegriff in Geistes- und Naturwissenschaften im späten 19. Jahrhundert, wobei der Historiker die Geisteswissenschaften als höherwertiger einschätzte als die Naturwissenschaften und dies bezahlt sah mit Inexaktheit und einer bloß partiellen Annäherung an die Wahrheit. Auch die Voraussagbarkeit historischer Entwicklungen war nicht gegeben, und all dies begründete sich in der epistemologischen Verfasstheit des Treitschke zufolge zentralen Untersuchungsgegenstands der Geschichte, des wirkmächtigen Individuums. Es war das »Räthsel der Persönlichkeit«, das im Herzen der Geschichtswissenschaft nistete und sie zu einem Ort des niemals sicheren Wissens machte. Dass die »Männer […] die Geschichte machen«, war dem Verfasser als allgemeine Einsicht zwar eine unverbrüchliche »Wahrheit«, die in ihrer ›Heldenhaftigkeit‹ Objekt und Subjekt der Geschichtsschreibung zu betreffen schien. Wie dies aber geschah, wie die in der Geschichte waltenden »Ideen« posthegelianisch von einem »Genius« dem »Stoff«, der konkret und bestimmt handelnden »Persönlichkeit eines bestimmten Menschen«, eingeprägt wurden, dies war ein immer wieder neu sich stellendes und je unlösbares »Räthsel«.

»Größe« als letztlich kontingentes, aber unübersehbares Oberflächenphänomen zum einen, die unverbrüchliche »Wahrheit« der ›Geschichte machenden Männer‹, die ewig ein »Räthsel« aufgibt, zum andern – gerade die ganz grundlegend gegensätzlichen Stimmen von Büchner und Treitschke exponieren das Phänomen des herausragenden Individuums und seiner gesellschafts- und geschichtsprägenden Wirkung für das 19. Jahrhundert als unhintergehbares Element einer Wirklichkeit, die konstituiert wird durch die Interaktion von sichtbaren Gegenständen und unsichtbaren Kräften. Büchner zeigt dieses Phänomen als eines, das künstlich konstruiert ist und deshalb auch wieder dekonstruiert werden muss, während Treitschke es als der Deutung und Auslegung bedürftig präsentiert, für die alle menschlichen Vermögen beansprucht werden müssen, um dem Geheimnis so nahe als möglich zu kommen.

Damit sind auch die Aufgaben gestellt, denen sich das vorliegende Buch zuwenden will. Es befasst sich mit einer Diskursfigur, die im langen 19. Jahrhundert machtpolitische und epistemologische Virulenz entfaltete und für die Geschichte des sozialen Imaginären dieser Epoche von schwer zu überschätzender Bedeutung gewesen ist: dem ›großen Mann‹. Damit soll freilich nicht die Ereignisgeschichte der ›großen Männer‹ rehabilitiert werden, die von der Sozial- und der Geschlechtergeschichte zu Recht kritisiert und diskreditiert wurde. Vielmehr soll gezeigt werden, wie und weshalb die Figur als Gegenstand der Diskurs-, Wissens-, Imaginations- und Mediengeschichte neues Interesse verdient.

Im Fokus steht damit erstens die Analyse von Techniken und Funktionen der Rede über den ›großen Mann‹. Gezeigt werden soll so, welche Argumente für dessen Stilisierung genutzt wurden und wie sich diese Aussagenketten in gesellschaftliche Machtkonstellationen einfügen. Zweitens wird untersucht, in welchen Wissensregistern dieser Diskurs angesiedelt ist und auf welche epistemologischen Elemente er sich stützt, wobei es nicht ausreichend sein wird, nur die rationalen Überzeugungen zur Kenntnis zu nehmen. Vielmehr gilt es drittens, die Wünsche, Hoffnungen und Phantasien in den Blick zu nehmen, die sich mit dem ›großen Mann‹ bei seinen Porträtisten, aber auch bei seinen Rezipienten verbinden. Viertens erschließt sich diese Imaginationsgeschichte des ›großen Mannes‹ wesentlich über die Formen und Formate seiner Darstellung in Text und Bild sowie über deren Distribution und Zirkulation.

Der ›große Mann‹ wird in diesem Buch also nicht als historische Realität betrachtet, sondern als Effekt von Diskursen, Phantom der Imagination und Manifestation von Medien. Es stellt sich mithin nicht die Frage, ob ›große Männer‹ tatsächlich geschichtsleitende Kräfte entfaltet haben oder nicht, interessant ist jedoch, dass ihnen diese Kraft attestiert worden ist – beziehungsweise dass über diese Frage heftig gestritten worden ist. Der ›große Mann‹ ist ein bestimmendes Phänomen der Geschichte des 19. Jahrhunderts, weil ihm Macht zugesprochen wurde und er in dieser Weise diskursive Macht entfalten konnte – eine diskursive Macht freilich, die auch in konkreten politischen Zusammenhängen nutzbar war, wenn es einem Einzelnen gelang, den Eindruck zu erwecken, er könne diese Rolle überzeugend ausfüllen. Die Macht des ›großen Mannes‹ ist damit stets eine zugestandene Macht. Sie wird verliehen von den Vielen, und der ›große Mann‹ ist derjenige, der es, ob aktiv oder passiv, versteht, die Imagination vieler Menschen auf sich zu lenken. Die Herrschaft dieser Figur wird nie mit rationalen Mitteln und auch nicht bloß mit Gewalt erreicht und ausgeübt, sie verdankt sich immer in entscheidendem Maße einer stets nur partiell zu kontrollierenden Imaginärpolitik. [5] Diese Imaginärpolitik wird betrieben in der direkten Konfrontation mit Menschen, oft aber – und im Verlauf der gesellschaftlichen Moderne immer öfter – durch Medien. Der ›große Mann‹ entsteht wesentlich in den und durch die Darstellungs- und Repräsentationsleistungen von Medien, und er ist meist zugleich Subjekt und Objekt von Medien, indem er diese für seine Zwecke benutzt und gleichzeitig ihrer Eigenlogik ausgeliefert ist.

In dieser Weise soll herausgearbeitet werden, inwiefern dem ›großen Mann‹ nach den Erschütterungen der Französischen Revolution zugetraut wurde, in einer Welt, in der die sozialen Bindungskräfte des im Untergang begriffenen Ancien Régime schwanden, Ordnung herzustellen. Es ist ein doppeltes machtpolitisches Phantasma, das sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im ideologischen Kontext des Idealismus auf den ›großen Mann‹ bezieht: Es ist dies zum einen die Erwartung, dass er in der Lage sei, eine ganze Nation in schwieriger Situation zu lenken und zu führen, und es ist zum andern die Hoffnung, dass er kraft seiner symbolischen Wirkmacht die sozial zunehmend gespaltene Gesellschaft repräsentieren und die zueinander in Gegensatz geratenden sozialen Gruppen zu einer neuen dauerhaften Einheit zusammenführen könne. ›Führung‹ und ›Verkörperung‹, so lautet eine der Hauptthesen dieses Buches, sind die wichtigsten Versprechungen des ›großen Mannes‹ im 19. Jahrhundert gewesen, weshalb die Figur im 20. Jahrhundert als relevante diskursive Herrschaftskomponente verschwindet, als der Glaube an diese Doppelfunktion des ›großen Mannes‹ nicht mehr aufrechtzuerhalten war.

Der ›große Mann‹ ist damit ein zutiefst historisches Phänomen, das seine spezifische Konturierung gewinnt durch die begriffliche Verfestigung, welche die Rede vom ›grand homme‹, ›great man‹ und ›großen Mann‹ im 18. und 19. Jahrhundert erfährt. Dabei sind zwei Konzepte zu unterscheiden: zum einen das in der französischen Aufklärung sich ausbildende Ideal des ›grand homme‹, das sich gegen den absolutistischen Staat und den Hof richtete und die herausragenden Individuen ausgezeichnet sah durch Geistesgröße und Verdienste um die Nation, nicht durch Geburt und kriegerische Heldentaten. Diese Form der ›großen Männer‹ konstituierte sich im Plural und implizierte, dass es stets mehrere ›große Männer‹ nebeneinander geben kann und muss. [6] Zum andern gab es ein weiteres Konzept, das auf die Verhältnisse nach der Französischen Revolution und die damit verbundenen strukturellen Umwälzungen in der Gesellschaft und im Bereich des Wissens reagierte. Dieser ›große Mann‹ war zugleich Reaktion auf das Aufkommen der ›Masse‹ als ein Phänomen der unzählbar Vielen, das in verschiedenen Bereichen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unabweisbare Erfahrung wurde. Einerseits wurde ›Masse‹ als Menschenmenge zum politischen Faktor, anderseits wurde sie manifest als Überhandnehmen der Daten und bekannten Ereignisse, die den Eindruck einer allgemeinen Unübersichtlichkeit hinterließen. Der ›große Mann‹ in dieser zweiten Form, so die These, fungierte als Widerlager zur verwirrenden Vielheit der Dinge und Ursachen, er versprach soziale Ordnung und Orientierung. Er war deshalb auch ein ›großer Mann‹ im Singular, denn nur als solchem wurde ihm zugesprochen, diese phantasmatische Leistung erbringen zu können. Gerade diese großen Hoffnungen, die auf den singulären ›großen Mann‹ gesetzt wurden, bewirkten einen nie einzulösenden semantischen Überschuss, den die Bezeichnung mit sich führte. Immer wieder neu aktualisiert wurde damit der metaphorische Charakter der Bezeichnung, was den ›großen Mann‹ zu einem eminenten Phänomen der Unbegrifflichkeit machte. [7] Definitionsversuche erreichten deshalb kaum je begriffliche Klarheit, sondern führten stets einen starken bildlichen Aspekt und emotionale Qualitäten mit und wiesen deshalb immer auch eine notwendige Offenheit und fehlende terminologische Präzision auf.

Wo aber wird diese behauptete phantasmatische Macht des ›großen Mannes‹ konkret fassbar? Die vielleicht prägnanteste Formulierung dieser in der Morgendämmerung des 19. Jahrhunderts heraufziehenden Figur findet sich bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in zwei vergleichsweise abseitig publizierten und überlieferten Texten, die deshalb hier etwas ausführlicher vorgestellt werden sollen. Es handelt sich dabei um Vorträge, die Schleiermacher jeweils am 24. Januar 1817 und 1826 vor der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt. Die Rede von 1826 wurde erst 1835 in den Sämmtlichen Werken gedruckt, und über die Rede von 1817, die ein Jahr darauf im Märkischen Provinzialblatt veröffentlicht wurde, schrieb Schleiermacher an Alexander zu Dohna, dass sie »kaum der Mühe werth« sei, »daß man Ihnen den ganzen Jahrgang schicke«. [8] Dieser Geringschätzung des Verfassers entspricht auch, dass die Reden keine nennenswerte Rezeption erfahren haben, entgegen steht ihr aber die Prägnanz der formulierten Gedanken, dank derer ihnen in der Theoriegeschichte der herausragenden Individuen und ihrer politischen Relevanz in der Moderne eine zentrale Stellung zuzusprechen ist. [9]

Bemerkenswert ist, dass Napoléon in den Vorträgen kaum eine Rolle spielt. Diejenige historische Figur, die wie keine zweite in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ›großer Mann‹ gesehen wurde, [10] hat nur einen kurzen Auftritt, und zwar in der Rede von 1817, und dort auch nur als »höllische Erscheinung« einer »westliche[n] Sündfluth« und als »Gespenst«. (242) Ein »Gespenst« ist Napoléon aber, weil er als blasser Abklatsch eines wahrhaft ›Großen‹ betrachtet wird, zu dessen Ehre die beiden Akademie-Reden gehalten wurden. Diese Person war für Schleiermacher unbestrittenermaßen Friedrich II., und der äußerliche Grund der beiden Reden war denn auch die 105. beziehungsweise die 114. Wiederkehr des Geburtstages des 1786 verstorbenen Königs. Friedrich II. wird darin als ›Großer‹ gewürdigt – aber nun nicht mehr als großer König, der die monarchische Tradition der ›Größe‹ fortsetzte und gleichzeitig vom moralphilosophischen Konzept des ›grand homme‹ affiziert war, [11] sondern eben als ›großer Mann‹ im neuen, postrevolutionären Stil.

In der Rede von 1817 unterschied Schleiermacher zwei Zeiten für »die Wirksamkeit eines großen Mannes«. Die erste beginne, »wenn er die ihm gebührende Stelle in der Welt eingenommen hat, und anerkannt zu werden beginnt für das, was er ist, wenn seine belebende Kraft die Stockungen auflöst im gesellschaftlichen Zustand oder in den geistigen Bestrebungen, wenn sein gebietender Muth das Böse und Verkehrte in die Flucht schlägt, wenn er seine Zeitgenossen hebt und erzieht, und das ihm angewiesene Theil der menschlichen Dinge allmählig ordnet und bildet«. Dazu ist er in der Lage, weil er, »indem er auf die bewegliche veränderliche Welt wirkt, in der ruhigen sich immer gleichen lebt« und seine »Ideen und Zwecke« sich in Übereinstimmung »mit der vorher bestimmten Ordnung« und »mit der nothwendigen Entwickelung der Dinge« befinden. (241) Dies verleihe ihm eine »unmittelbare Wirksamkeit«, die in der Hingerissenheit der Umgebung gründe: »Denn wenn er handelte bewunderte doch alles, wenn er hintrat unter die Menschen war doch alles bezaubert, wenn er gebot eilte doch alles zur Vollziehung.« (242) Dem gegenüber steht eine zweite, mittelbarere Wirkungskraft, die sich ergebe, wenn »der große Mann endlich ganz der Geschichte angehört, und von dort aus schon ungehemmt und immer gleich auf die fernen Geschlechter der Menschen wirkt nach dem Maaß der Empfänglichkeit eines jeden«. (241) Friedrich II. aber befand sich 1817 in einer schwierigen Zwischenzeit zwischen irdischer Entrückung und geschichtlicher Ruhe, im Zwischenreich zwischen Gegenwart und Geschichte, und aus diesem Grunde schien es Schleiermacher in besonderer Weise gerechtfertigt, das Wesen des ›großen Mannes‹ zu klären und Friedrich als Beispiel hierfür heranzuziehen. (242 f.)

Als Herrscher benötigte der ›große Mann‹ insbesondere die zwei folgenden Eigenschaften: Er sollte erstens »ausgezeichnet sein in seinem persönlichen Wesen«, zweitens muss er »das Leben seines Volkes in sich tragen, von dessen Bedürfnissen durchdrungen sein, dessen Bestrebungen und Neigungen in ihren Verhältnissen und Entwikklungen fühlen und theilen, dessen unentwikkelte Kräfte ahnden und zu befreien suchen«, er müsse mithin die »lebendige Seele« seines Volkes sein. (245) Schleiermacher bestand darauf, dass ein »großer Mann« nur genannt werden dürfe, wer diese beiden Eigenschaften in sich vereinigte, was insofern eine besondere Leistung sei, da diese »beiden Seelen […] nothwendig mit einander im Streit« lägen. Die vielfältigen Anforderungen des Regierungsgeschäfts, die damit verbundenen Sorgen könnten dazu führen, dass eine freie Ausbildung der Persönlichkeit behindert werde, und umgekehrt könne diese sich so dominant und selbstbezüglich ausprägen, dass die wohltätigen Wirkungen auf Volk und Staat ausblieben. (245 f.) Alleine »fester Wille und eisernes Gesez« waren Schleiermacher zufolge in der Lage, »den immer sich erneuernden Streit« zu schlichten. (246)

Friedrich II. nun sei Beispiel für den »härtesten Streit« und die »herrlichste Versöhnung« zugleich, was Schleiermacher von den grundsätzlichen Überlegungen zum ›großen Mann‹ auf den Anlass seiner Rede zurückkommen ließ – und in abschließende Überlegungen überleitete, die der Frage nachgingen, wie Friedrich in der Gegenwart von 1817 gewirkt haben möge (247), und die damit der prekären Lage Friedrichs im »Fegefeuer« zwischen »unmittelbare[r] Wirksamkeit« und »geschichtliche[m] Himmel« gerecht zu werden versuchten.

Neun Jahre später sprach Schleiermacher erneut vor der Akademie, erneut zum gleichen Thema. Diesmal aber trat der äußere Anlass gegenüber der grundlegenden Thematik stärker zurück. Die zweite Rede führte Aspekte der ersten Rede fort und wandte sich erneut der schwierigen Lage Friedrichs II. zwischen Tod und noch nicht eingetretener historischer Würdigung zu, (482) war aber bezüglich dessen, »was im allgemeinen über den Begriff und das eigenthümliche Wesen des großen Mannes mag gesagt werden«, (481) ausführlicher und prägnanter. Der ›große Mann‹ wird einleitend als »das größte Kunstwerk der geistigen Natur« bezeichnet, weshalb er, wie jedes »Kunstwerk höherer Gattung«, eine »Unendlichkeit« in sich schließe. (482) Er sei »unerschöpflich« und lasse immer wieder neue Töne in seinen Bewunderern anklingen. (481)

›Unendlichkeit‹ und ›Unerschöpflichkeit‹ exponieren eine Problematik der Erfassbarkeit, die zunächst eine Hermeneutik der Größe nach sich zieht, im Weiteren aber Darstellungsaufgaben stellt, die in neue mediale Schwierigkeiten der Rezeption führen. Denn aufgrund seiner Unergründlichkeit ist der ›große Mann‹ der Auslegung bedürftig, und die je immer schon interpretative Deutung wiederum ist auch die Voraussetzung jeglicher textuellen oder bildlichen Wiedergabe. Und diese ist dann gebunden an den Eigensinn der jeweiligen Medien, dem Interpret und Gegenstand gleichermaßen ausgeliefert sind. Schleiermacher macht auf diese Problematik aufmerksam, indem er zum einen auf die Tatsache hinweist, dass die meisten Menschen auf die lebendige Überlieferung der mündlichen Erzählung angewiesen seien, die jedoch schon nach wenigen Generationen verblasse, während nur für den »engen Kreis der Kundigen […] die schriftliche Ueberlieferung alle Zeitalter gleich nahe treten« lasse und überhaupt erst einen historischen Überblick über das Phänomen der ›Größe‹ erlaube. (482) Die Speicherkraft und die Übertragungsleistung der involvierten Medien war demnach entscheidend für die Validierung von ›Größe‹, doch selbst wenn diesbezüglich durch Schriftlichkeit eine gewisse Stabilität der Überlieferung garantiert war, konnte diese zum andern, oft aus »partheiischer Vorliebe«, affiziert sein von einem »Zauber der Darstellung«, der es erschwere, »die Gestalt zu sondern aus den farblosen und namenlosen Schatten der Masse«. (483) Die Erkenntnis von ›Größe‹ wurde so entschieden tangiert von ihrer poiesis, von der Weise ihrer zeichenhaften Konstruktion. Diese grundlegende Betroffenheit des ›großen Mannes‹ von Effekten des Medialen erkannt und benannt zu haben, gehört zu den wichtigen Verdiensten Schleiermachers – und berechtigt ihn unter anderem dazu, als zentraler historischer Gewährsmann des Phänomens zu gelten.

Ähnlich bedeutend wie die Berücksichtigung des medialen Faktors ist weiter die Insistenz, mit der Schleiermacher die ›Masse‹ in den Fokus seiner Abhandlung stellte und den ›großen Mann‹ mit den sozialen Tatsachen der Moderne konfrontierte. Die diesbezüglichen Überlegungen setzten an bei einer prekären Eigenschaft des Adjektivs in der Formel vom ›großen Mann‹, nämlich seiner Steigerbarkeit und damit auch seiner Relativität. Dagegen brachte Schleiermacher »die Forderung der Vernunft« in Anschlag, »daß ja unmöglich groß und klein nur könne ein fließendes, sondern daß auch hier wie überall in den Begriffen müsse etwas festes sein«. (484) Darauf aufbauend entwarf er ein dreistufiges Modell der Individualitäts-Konstitution, in dem diese von der »Masse« über das »[G]ewöhnliche« zum »große[n] Mann« ihren Aufstieg nahm. »Masse« definierte er dabei als einen Sozialzusammenhang, in dem »wir eine Menge auf einander wirkendes durcheinander wogendes einzelnes Leben sehen, in welcher aber weder eine wahrhaft organische Gestaltung hervortritt noch auch das Einzelne sich als selbständiges sondert«. Der »Einzelne« erscheine als ein bloßes »Element der Masse«, weil ihm ein »regelndes Princip«, »Eigenthümlichkeit« und der »innere Regulator« fehlten. Er ist damit nur als ein »Ort« bestimmt, »wo die verschiedenen in der Gesamtheit waltenden Bewegungen sich kreuzen und brechen oder verdrängen«. (484 f.) Darüber erhebt sich die mittlere Ebene des »[G]ewöhnlichen«, auf der dem Individuum »das Eigenthümliche, der Charakter, nicht fehlt« und deshalb »das Verhältnis der Gegenseitigkeit zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit, einer Gegenseitigkeit des Gebens und Empfangens[,] des Bestimmens und Bestimmtwerdens« vorherrscht. In dieser Sphäre gedeihen »alle Tugenden und Trefflichkeiten«, sind »Talente« und das »Genie« anzutreffen und »alles Gute und Schöne« zu finden – nicht jedoch das ›Große‹. (485) Denn, so Schleiermacher weiter, »der große Mann zeigt sich uns erst diesem allen gegenüber nicht etwa als der schönste und kräftigste aus der Masse oder als der begünstigste, […] sondern der ist es, der nichts von ihr empfängt und ihr alles giebt«. Er ist insofern »das vollkommene Gegentheil« der Masse, und er ist »kraft jenes inneren Regulators« weitgehend aus sich selbst schöpfend. (485 f.)

Johannes von Müller hatte bei seiner Akademie-Rede über Friedrich II. vom 29. Januar 1807 ebenfalls über den ›großen Mann‹ gesprochen und dabei gefragt: »[W]as haben wir denn gemein mit einem König, einem Krieger, einem unumschränkten Fürsten?« Diese Frage hatte Müller positiv beantwortet und die ›Größe‹ des ›großen Mannes »durch das, was in ihm lag, das auch in uns liegt«, begründet gesehen. [12] Schleiermacher betrachtete hingegen das im »großen Mann« waltende Individualitätsprinzip als radikal getrennt von der Individualität aller anderen. Gerade diese klare und diskrete Geschiedenheit war Schleiermacher die Voraussetzung, dass der »große Mann« derjenige sein könne, »welcher die Masse beseelt und begeistert, ganz herausgetreten aus dem Verhältnis der Gegenseitigkeit, er auf keine Weise ihr Werk, sie aber auf seine Weise das seinige«. Durch »die eigenthümlichen Ausströmungen seines Wesens, die Idole des Epikuros, die sich jeden Augenblick von ihm losreißen[,] in alles eindringen und alles in Bewegung sezen«, wirkt der »große Mann« auf die Menge ein (486) – und erreicht dadurch, dass »die Masse aufhört Masse zu sein, […] daß sie sich sondere[,] daß Selbstgefühl an die Stelle eines träumerischen Schlummerlebens trete« und dass sie »kraft des ihm [dem großen Mann] einwohnenden Gesezes sich zum organischen Gesamtleben entweder zuerst gestaltet oder auch sich nach einer Zeit des Verfalls und der Zerstörung neu entwickelt«. (486 f.)

Der »große Mann« ist nach Auffassung Schleiermachers also der »Urheber« (486) des sozialen Lebens und der Garant für eine funktionierende Gemeinschaft, die ihre ›Massenhaftigkeit‹ überwindet und in der der Einzelne mehr ist als ein Blatt im Wind. Er verkörpert das soziale Mysterium, dass »gemeinsames Leben von Einem ausgeht«, (487) und er ist damit Überwinder einer sozialen Entfremdungserfahrung, die schon in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung von einem die »Masse« bearbeitenden »Staatskünstler« erwartet worden war. [13] Gerade die Mächtigkeit der Wirkung dieser »göttliche[n] Werkzeuge« hatte aber auch etwas Unheimliches, wie Schleiermacher nicht verhehlte: »Große Männer« waren zwar »Heroen der Gattung«, sie waren aber auch ein »dämonische[s] Geschlecht«. (487)

Im Jahre 1826 konnte die einigende Wirkung des herausragenden Individuums aber nicht »dem ganzen menschlichen Geschlecht aller Zonen und Zeiten« zugeschrieben werden. (487) In der Epoche der modernen Nationenbildung und -verfestigung konnte die Belebung und Organisation sich nur auf eine »bestimmte[ ] Masse« beziehen. Die Masse, auf die der »große Mann« einwirkte, musste »ein zusammengehöriges und in sich abgeschlossenes entweder schon gewesen sein oder nun durch ihn werden«. (488) Die »großen Männer« waren deshalb »die Gründer und Wiederhersteller der Staaten« oder »die Stifter und Reiniger der Religionen«, womit die nationale Mythenbildung des weiteren 19. Jahrhunderts antizipiert war. Sie stifteten im günstigen Fall »ein Zeitalter«, Kunst und Wissenschaft konnten demgegenüber nur durch »Talent« oder »Genie« eine »Schule« hervorbringen und verblieben damit in der Sphäre des »gewöhnlichen« sozialen Lebens. (489)

Friedrich II. wiederum, auf den Schleiermacher sein Konzept ja beispielhaft beziehen musste, erwies sich angesichts der gestellten Anforderungen als einigermaßen sperrig in der Applikation auf das allgemeine Schema. Aus der Perspektive des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts war er als König eines deutschen Teilstaates und Verfechter von französischer Sprache und Kultur wenig geeignet, um als Erwecker der zur Nation bestimmten Masse gelten zu können. Gleichwohl erkannte Schleiermacher den Preußenkönig als denjenigen, der das »nördliche« Deutschland durch sein Wirken belebt habe – und der damit zum Vorbild wurde für die erhofften ›großen Männer‹ des 19. Jahrhunderts. (489)

Dieses ausführliche Schleiermacher-Referat sollte die Thematik des Buches anhand derjenigen zwei Texte vorstellen, die vielleicht am prägnantesten die weitreichenden Hoffnungen und Sehnsüchte formulierten, die sich im 19. Jahrhundert am ›großen Mann‹ festmachten. Die beiden Vorträge vermögen überdies einen Eindruck davon zu geben, was mit dieser Thematik auf dem Spiel steht: nämlich die Kausalität der Geschichte, die Herkunft und Begründung politischer Handlungsmacht, die Ordnung des Sozialen und der Zusammenhalt von Gemeinschaften.

In neun Kapiteln berührt dieses Buch zentrale thematische Aspekte, die sich mit dem Faszinosum des ›großen Mannes‹ verbinden. In Kapitel 2 werden Vorgeschichten des ›großen Mannes‹ erzählt und seine genealogischen Spuren in der Frühen Neuzeit erkundet. Dabei wird sich zeigen, dass hier schon ›Führung‹ und ›Verkörperung‹ als moderne Verfahren der Herrschaft begründet werden, dass sich aber gerade an der Figur des dramatisierten politischen Parvenüs auch die Grenzen ihrer Durchschlagskraft zeigen. Kapitel 3 wendet sich dem moralphilosophischen Diskurs des ›grand homme‹ zu und zeichnet dessen transnationale Ausprägung in England, Frankreich und im deutschsprachigen Raum nach. Dadurch verändern sich auch die Bedingungen für die Validierung der ›Größe‹ von Königen, wie am Beispiel Friedrichs II. vorgeführt wird. Im 4. Kapitel tritt der ›große Mann‹ dann erstmals in seiner neuen, man könnte sagen: in seiner Schleiermacher’schen Form auf. Allerdings tut er das noch nicht in der historischen Wirklichkeit, sondern in der Fiktion, zunächst im Rahmen der Revolutionsanalysen Burkes und Wielands, dann bühnenwirksam in Schillers Wallenstein. Dadurch verändert sich, wie Kapitel 5 darlegt, auch die Wahrnehmung herausragender weiblicher Individualität, wie ebenfalls Schiller und weitere Dramatiker wie Kleist, Grillparzer und Hebbel in ihren Werken reflektieren, während gleichzeitig mit Luise von Preußen als ›Königin der Herzen‹ ein neues weibliches Modell nationaler Verkörperung in die Welt tritt. Kapitel 6 widmet sich dann dem postrevolutionären ›großen Mann‹ par excellence, Napoléon Bonaparte, wobei vor allem die medialen Strategien der Organisation von Ruhm und Nachruhm im Mittelpunkt stehen. Inwiefern gerade der Nachruhm Napoléons nachhaltig war, wird in Kapitel 7 anhand von Heines insistierendem Nachdenken über den ›großen Mann‹ verfolgt. Heine arbeitet eine intrikate imaginärpolitische Nachträglichkeit heraus, die Politik als unbeherrschte Herrschaft durch abwesende Macht erscheinen lässt. Inwiefern der Historismus eine tragende, zugleich aber ambivalente Rolle für die Prominenz des ›großen Mannes‹ gespielt hat, wird in Kapitel 8 untersucht. Dabei zeigt sich anhand verschiedener Gattungen und Genres, von der idealistischen Geschichtsphilosophie über die Historiographie, das Drama, den Roman und die Biographie bis hin zur späthistoristischen Geschichtstheorie Burckhardts, wie jede historistische Postulierung von ›großen Männern‹ immer auch ihre Relativierung mit sich führt. Mit dieser Tendenz ist bereits die Axt an den Stamm gelegt. In Kapitel 9 wird denn auch vertiefend beschrieben, wie sich gerade in der positiven, ja emphatischen Behauptung von ›großen Männern‹ die Ausweitung und Entleerung des Konzepts vorbereitet – und wie dies dann von Nietzsche in die Extreme getrieben und überschritten sowie in der Massenpsychologie auf den Massenführer als neue dämonische, das Soziale beherrschende und verwandelnde Machtfigur umgeschrieben wird. Kapitel 10 fragt dann abschließend, was bleibt, wenn der ›große Mann‹ als Idee und soziales Rollenmodell die politische Wirkungskraft verliert und zur bloßen Worthülse verkommt. ›Startum‹, ›Erfolg‹, ›Führertum‹ und ›Charisma‹ sind dabei die neuen Konzepte, an denen entlang die Transformierung von Größe im 20. und 21. Jahrhundert erzählt wird – um schließlich mit Barack Obama zu enden, der als ›amerikanischer Präsident der Welt‹ beziehungsweise als ›Präsident der Herzen‹ auf neuer gesellschaftlicher und diskursiver Basis Phantasmen des ›großen Mannes‹ wiederaufleben lässt.

2. Vorgeschichte(n)

Große Männer hat es immer schon gegeben. Solon, Kleisthenes und Perikles in Athen, Alexander in Makedonien, Sulla, Cäsar, Augustus und Konstantin in Rom sind nur wenige exponierte Namen, denen wir schon für die Antike geschichtsprägende individuelle Macht zuzuschreiben bereit sind. Und für Gregor den Großen, Karl den Großen, Friedrich Barbarossa und Heinrich den Löwen gilt dies im Hinblick auf das Mittelalter nicht weniger – die Epitheta, welche diese Figuren unverwechselbar machen, deuten dies auch an. Insofern scheint die Aussage von der überhistorischen leitenden Kraft herausragender Individuen richtig, zumal Sagen und Mythen diesen Umstand weit in eine Zeit zurückprojizieren, für die uns historische Quellen fehlen.

Doch ebenso sehr ist die Feststellung auch falsch. Denn wenn es auch unabweisbar ist, dass zu allen historischen Zeiten herausragende Einzelne mit einem beträchtlichen Einfluss auf die Einrichtung des sozialen Zusammenhangs ausgestattet waren, so unterscheiden sich die Wahrnehmungsformen, Darstellungsweisen und Konzepte sehr, mit denen das überhistorische Phänomen begreifbar gemacht und damit oft auch mitproduziert wurde. Entscheidend ist es deshalb, nicht nur die großen Persönlichkeiten in den Blick zu nehmen, sondern auch und vor allem die sozialen Produktionsmechanismen, diskursiven Validierungen und medialen Konstruktionen, die sie haben groß werden lassen.

Das Erbe der Antike

So lässt sich zeigen, dass die antiken Diskussionen um individuelle Exzellenz präfiguriert sind durch die dichterischen Werke von Hesiod und Homer, die vom Handeln der Götter berichten und in diese Erzählungen auch Helden einflechten, die durch Abstammung und Taten mit den göttlichen Figuren interagieren. In der Theogonie und den Werken und Tagen, in der Ilias und der Odyssee erscheinen diese Helden aber immer auch als Figuren einer vergangenen großen Vorzeit. Diese Helden sind orientiert am Handeln der Götter, sie zeichnen sich aus durch in der Gegenwart der Rezipienten als übernatürlich und übermenschlich erscheinende Fähigkeiten wie Mut, Stärke, Kraft und Schlauheit. [1]

An diese Erzählungen schloss sich eine kultische Heldenverehrung an, die seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. auch auf jüngst verstorbene Personen überging, die für ihre Gemeinschaft Außerordentliches geleistet hatten, so etwa die athenischen Tyrannenmörder Harmodius und Aristogeiton (gestorben 514 v. Chr.) oder der spartanische General Brasidas (gestorben 422 v. Chr.). Und die Olympischen Spiele waren ein Forum, das zur Heroisierung herausragender Athleten führen konnte. Die Verherrlichung in Odendichtungen, die bekanntesten darunter von Pindar, sorgte für die entsprechende Zirkulation des Ruhms. [2]

In der hellenistischen Periode bildeten Aristoteles und Alexander ein biographisch eng verbundenes Paar, das für divergierende Tendenzen in dieser Epoche steht. Alexander verkörperte dabei den Typus des in der Welt präsenten königlichen Halbgottes, der gleichermaßen durch Abstammung und Leistung das Maß des Menschlichen übertraf. Dieser besondere Ruhm mag sein Substrat von Persönlichkeit und Taten des makedonischen Königs bezogen haben, produziert und distribuiert aber wurde er durch Dichter, Historiographen und Gelehrte, von denen sich Alexander auf seinen Heereszügen begleiten ließ und deren Aufgaben von ihm und seinen Beratern festgelegt waren. Sein bekanntester Geschichtsschreiber war Kallisthenes von Olynth, der Alexanders Asien-Feldzug miterlebte und sich als der Homer des neuen Achilleus Alexander verstand. Kallisthenes berichtete vom pamphylischen Meerwunder und dem Zug zum Ammon, mit dem sich die Erklärung Alexanders zum Sohn des Zeus verband. Trotz aller schriftstellerischen Heroisierung soll Kallisthenes sich aber der kultischen Praxis der Proskynese verweigert habe, die Alexander, zum Leidwesen des makedonischen Gefolges, aus persischen Gebräuchen übernahm. Einige Quellen führen darauf seine Hinrichtung 327 v. Chr. zurück. [3]

Aristoteles, der Erzieher Alexanders, wiederum entwickelte eine Lehre von der ethisch-moralischen Verfassung der herausragenden und mit besonderer gesellschaftlicher Verantwortung betrauten Einzelnen. Im dritten Buch der Ethik bestimmte er menschliche Größe als innerweltliche Eigenschaft und beschrieb sie als Resultat eines frei gewähltes Verhaltens des Einzelnen, der seine Entscheidungen überlegt und aus freiem Willen trifft [4] und der sich durch die sittlichen Tugenden der »Tapferkeit« und der »Besonnenheit« auszeichnet. [5] »Hochsinnigkeit« nannte Aristoteles dabei die herausragende ethische Verfassung eines Menschen, der »sich hoher Dinge für wert hält und es auch wirklich ist«. [6] Eine solche Verfassung war so das höchste zu erreichende Ideal, ließ sich aber auch nur sehr selten realisieren:

So erweist sich also der hohe Sinn gleichsam als krönende Zierde jeglicher Trefflichkeit, denn er verleiht einer jeden die größere Form und kommt andererseits ohne sie nicht zustande. Daher ist es schwer, hohen Sinn in Wahrheit zu verwirklichen, denn dazu ist eine ganz edle und vollendete Bildung des Charakters vorausgesetzt. [7]

Träger dieses ethischen Ideals der »Hochsinnigkeit« sollten die herausragenden politischen Akteure sein, die als staatliche Entscheidungsträger und Orientierungspunkte des Sozialen das Gute für die Gemeinschaft bewirken sollten. Dienten Aristoteles’ Bestimmungen zum einen als lebenspraktisches Maß des richtigen Handelns, so waren sie zum andern auch vorbildlich für einen sich neu herausbildenden historiographischen Stil. Dieser näherte sich der Biographie an und beschrieb Geschichte als Ergebnis der Handlungen einzelner Persönlichkeiten, die sich an moralischen Anforderungen messen lassen mussten. Diogenes Laërtius ist hierfür ebenso Beispiel wie der bereits erwähnte Kallisthenes, der ein Neffe des Philosophen war. Dessen Skepsis gegen Alexanders orientalischen Gotteskult mag sich so durch dieses ethische Ideal erklären. [8]

Wichtigster Vertreter eines moralisch ausgerichteten historischen Biographismus war Plutarch (45-125 n. Chr.) mit seinen Bioi paralleloi, seinen 22 griechisch-römischen Parallelbiographien von politischen Figuren, die er nach Ähnlichkeiten in den Anlagen oder den Lebensläufen zusammenstellte. Plutarch verstand sich selbst dezidiert als Biograph und nicht als Historiker, und er grenzte seine biographische Arbeit deutlich von der Geschichtsschreibung ab. So heißt es programmatisch in der Einleitung zu seiner Doppelbiographie über Alexander und Caesar:

Wenn ich in diesem Buche das Leben des Königs Alexander und das des Caesar, von dem Pompejus bezwungen wurde, darzustellen unternehme, so will ich wegen der Fülle des vorliegenden Tatsachenmaterials vorweg nichts anderes bemerken als die Leser bitten, wenn ich nicht alles und nicht jede der vielgerühmten Taten in aller Ausführlichkeit erzähle, sondern das meiste kurz zusammenfasse, mir deswegen keinen Vorwurf zu machen. Denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder, und hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten und die größten Heeresaufgebote und Belagerungen von Städten. Wie nun die Maler die Ähnlichkeiten dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der Charakter zum Ausdruck kommt, und sich um die übrigen Körperteile sehr wenig kümmern, so muß man es mir gestatten, mich mehr auf die Merkmale des Seelischen einzulassen und nach ihnen das Lebensbild eines jeden zu entwerfen, die großen Dinge und die Kämpfe aber anderen zu überlassen. [9]

Plutarchs Ziel war es, den Charakter und die moralischen Qualitäten der dargestellten Personen, ihre Tugenden und Fehler, deutlich werden zu lassen. Er wählte daher sein Material so aus, dass es dazu diente, die Persönlichkeit des Einzelnen herauszuarbeiten und seine Vorbildhaftigkeit hinsichtlich einer sittlichen Lebensführung aufzuzeigen beziehungsweise das Abschreckende seines Beispiels vorzuführen. Politische und historische Großereignisse wurden deshalb genannt, wenn sie für die Erklärung der Persönlichkeit wichtig waren oder sich deren Charakter an ihrem Verhalten in brisanten Situationen verdeutlichen ließ, ebenso wichtig aber waren Anekdoten und private Begebenheiten. [10]

Die Fokussierung auf den herausragenden Einzelnen, die narrative Emergenz von Geschichte aus dem Charakter der geschilderten Individuen sowie die Tendenz zur populären Aufbereitung machten Plutarchs Bioi zu einem prägenden Gründungstext der griechisch-römischen Idee des ›großen Mannes‹, gleichzeitig waren sie auch literarisches Exportmittel in andere Kulturen, im Besonderen die der europäischen Frühen Neuzeit. 1471 erschienen die Bioi als Vitae parallelae in lateinischer Übersetzung, besonders wirkmächtig wurde dann aber die ab 1559 gefertigte französische Übertragung von Jacques Amyot, die wiederum 1579 von Thomas North ins Englische gebracht wurde. Plutarchs Parallelbiographien wurden so und durch weitere Übersetzungen auch ins Deutsche und Italienische zu einem der meistgelesenen Texte im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie fanden in der Renaissance großen Anklang, weil sich damals, zunächst in den kulturellen Milieus der städtischen und höfischen Zentren Italiens, ein neues Interesse am Individuum und seinem gesellschaftlichen und geschichtlichen Einfluss ausprägte.

Die Plutarch-Editionen weckten eine neue Aufmerksamkeit für die antiken Persönlichkeiten, die sich auch auf berühmte Figuren der modernen Welt übertrug. André Thevet beispielsweise kombinierte im ersten Band seines 1584 erschienenen Werks Les vrais pourtraits et vies des hommes illustres grecz, latins et payens, recueilliz de leurs tableaux, livres, médalles antiques, et modernes Abbildungen mit kurzen Lebensbeschreibungen bekannter Namen aus der Antike, schon im zweiten Band aber ging er rasch von Konstantin dem Großen zu Karl dem Großen über und zeigte in der Folge und auch in Band 3 größtenteils Gestalten des 15. und 16. Jahrhunderts. Thevets Sammlung ist nur eine von vielen in der Frühen Neuzeit, und es lässt sich feststellen, dass schon im 16. Jahrhundert die Zahl der zu erfassenden Gestalten so stark zunahm, dass sie nach den gesellschaftlichen Funktionen, in denen sie sich bewährt hatten, geordnet wurden. Paolo Giovio verfasste so neben seinen Vite di uomini illustri (1549) auch die Elogi degli uomini d’arme (1551), und Giorgio Vasari publizierte Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue infino a’ tempi nostri (2 Bde. 1550, 3 Bde. 1568). Auch im 17. Jahrhundert riss dieses Interesse nicht ab. So schrieb Pierre de Bourdeille, seigneur de Brantôme, nicht nur die vierbändigen Vies des hommes illustres et grands capitaines françois de son temps (posthum 1666 erschienen) beziehungsweise die Vies des hommes illustres et grands capitaines estrangers de son temps (1665), sondern auch Les vies des dames illustres de France (1665) und Les vies des dames galantes de son temps (2 Bde., 1666).

Vite