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Moderne europäische Geschichte

Herausgegeben von Hannes Siegrist und Stefan Troebst
Band 7

Jerzy Kochanowski

Jenseits der
Planwirtschaft

Der »Schwarzmarkt« in Polen
1944–1989

Aus dem Polnischen übersetzt
von Pierre-Frédéric Weber

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbiliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titel der polnischen Originalausgabe:
Tylnymi drzwiami. »Czarny rynek« w Polsce 1944-1989,
NERITON, Warszawa 2010

Für die deutsche Ausgabe:
© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und Frutiger
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
unter Verwendung folgender Abbildungen: (vorne) Schwarzbörsianer vor der Polnischen Nationalbank auf dem Platz der Warschauer Aufständischen. Februar 1990; Foto: Krzysztof Wójcik, Agencja FORUM; (hinten) Kontrollaktion auf dem Różycki-Basar in Warschau, 28. 1. 1982; Foto aus dem Bestand der Polnischen Presseagentur.
Lektorat: Kristin Loga
Für das Deutsche Historische Institut Warschau durchgesehen von Jens Boysen
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
Lithografie: SchwabScantechnik GmbH, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1307-1
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2470-1
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2471-8

Inhalt

Vorwort

1. Terminologische und methodologische Vorbemerkungen

1.1. Welche Farben hatte der Schwarzmarkt?

1.2. Schwarzmarkt in der Volksrepublik Polen: Probleme der Definition

1.3. Literatur, Quellen und Methode

2. Mangel, Gier, Protest Kurzer Lehrgang der Geschichte des Schwarzmarktes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

2.1. Anfänge

2.2. Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit

2.3. Zweiter Weltkrieg

2.4. Nach dem Krieg

3. Die Sinuskurve der polnischen (Anti-)Spekulation 1944–1989

3.1. Kommission I: 1945-1950/1954

3.2. Intermedium I: 1950-1956

3.3. Arbeitsgruppe I (und II): Das Jahr 1957 (und die folgenden)

3.4. Intermedium II: Sechziger und siebziger Jahre

3.5. Kommission II: 1981-1987

4. Die (historische) Geografie des Schwarzmarktes in der Volksrepublik Polen

4.1. Allgemeine Bemerkungen

4.2. Zentrum – Peripherie

4.3. Norden – Süden

4.4. Osten – Westen

5. Fleisch

5.1. »Das Problem Nr. 1 ist das Fleisch«. Doch warum?

5.2. Fleisch auf dem Schwarzmarkt. Zwischen Repression und Toleranz

6. Alkohol

6.1. Schwarzbrennen. Ein »nationales Hobby«

6.2 »Kaufen Sie doch ’ne Flasche«. Der illegale Handel mit legalem Alkohol

6.3. Exkurs: Achtziger Jahre

7. Benzin

7.1. »Es bekommen ja fast alle ihr Benzin auf linke Art«: Von den Fünfzigern bis in die Siebziger

7.2. »Eine fast private Tanksäule«. Achtziger Jahre

8. Dollar und Gold

8.1. Dollar und Gold: Patentlösung für schwierige Zeiten

8.2. Macht, Dollar, Gold

8.3. »Spiel im Grünen«. Mechanismen und Leute

9. Handelstourismus in der Volksrepublik Polen

9.1. »Merkanturyzm«. Einführende Bemerkungen

9.2. Fünfziger und sechziger Jahre: »Wir sind zu arm, um den Urlaub im eigenen Lande zu verbringen …«

9.3. Siebziger Jahre: »Wer schmuggelt? – Diejenigen, die verreisen!«

9.4. Achtziger Jahre. »Die Phönizier schlagen zu!«

Fazit: Hintertür oder Vordertür?

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Tabellenregister

Register

Vorwort

Die im vorliegenden Buch enthaltenen Erwägungen und Ergebnisse ergaben sich aus Forschungen, die zuerst im Rahmen meiner Beschäftigung im Deutschen Historischen Institut Warschau (2000-2005) und später in einem vom polnischen Ministerium für Hochschule und Forschung finanzierten Projekt (Förderung Nr. 1 H01G074 29) durchgeführt wurden.

Ohne den Beitrag zahlreicher Freunde, Kollegen, Bekannter und Unbekannter, die mich in der Durchführung unterstützt, über Material informiert und es mir zugänglich gemacht, ihr oft einzigartiges und unersetzliches Wissen geteilt oder auch Fragen der Forschungslogistik gelöst haben, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Folgenden Personen bin ich zu Dank verpflichtet: (pleno titulo) Włodzimierz Borodziej, Jens Boysen, Błażej Brzostek, Katarzyna Chimiak, Katarzyna Czajka, Andrzej Garlicki, Tomasz Gleb, Grażyna Godziejewska, Bogdan Górski, Heidi Hein-Kircher, Mária Hrňová, Iwona Jakimowicz-Ostrowska, Dariusz Jarosz, Włodzimierz Kalicki, Mariusz Kardas, Ondřej Klípa, Jacek Kochanowicz, Maria Koczerska, Jeff Kopstein, Krzysztof Kosiński, Éva Kovács, Andrzej Krajewski, Marcin Kula, Jan Kusber, Andreas Lawaty, Włodzimierz Lengauer, Tomasz Markiewicz, Ewa und Przemysław Matusik, Małgorzata Mazurek, Maria und Mikołaj Morzycki-Markowski, Jana Oldfield, Krzysztof Persak, Dominik Pick, Błażej Popławski, Joachim von Puttkamer, Jolanta Rudzińska, Maike Sach, Bożena Skarżyńska, Emilia Słomianowska-Kamińska, Grzegorz Sołtysiak, Anna und Jacek Soszyński, Paweł Sowiński, Andrzej Stach, Dariusz Stola, Grażyna Szelągowska, Philipp Ther, Janina Tomala-Steinhauer, Stefan Troebst, Romuald Turkowski, Pierre-Frédéric Weber, Maciej Wojtyński, Marcin Woźniczka, Andrzej Wroński, Anna und Piotr Wróbel, Marcin Zaremba, Jonathan Zatlin, Klaus Ziemer. Diejenigen, die ich – ohne bösen Willen! – vergessen habe, bitte ich um Entschuldigung.

Dass diese Studie in der Reihe »Moderne europäische Geschichte« erscheinen konnte, verdanke ich den Herausgebern Hannes Siegrist und Stefan Troebst. Letzerem danke ich auch für den Vorschlag, diese Studie in deutscher Übersetzung zu publizieren. Für die finanzielle Unterstützung möchte ich folgenden Institutionen herzlich danken: dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig für die Übernahme der Übersetzungskosten und des Durckkostenzuschusses, dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität in Warschau für die Förderung der Druckkosten sowie dem Deutschen Historischen Institut Warschau für die Übernahme der Lektoratskosten.

Besonderen Dank schulde ich meiner Frau, die als erste Empfängerin meiner Berichte über weitere Entdeckungen zum Schwarzmarkt und als stets kritische Leserin ihre Standhaftigkeit unter Beweis gestellt hat, sowie meinen beiden Kindern, Róża und Antek, für die die Mangelwirtschaft der »vorsintflutlichen« Volksrepublik Polen die durchaus spürbare Gestalt unzureichender väterlicher Präsenz annahm.

Warschau, im Juni 2012

1.Terminologische und methodologische Vorbemerkungen

»Während des Krieges war alles zu bekommen«, erinnerte sich der bekannte Maler Franciszek Starowieyski. »Als jedoch das sozialistische Durcheinander zu herrschen anfing, konnte man selbst Kleinigkeiten nicht mehr auftreiben. Und die Leute wussten sehr rasch um die verwüstende Kraft des Sozialismus. Der Witz: ›Was passiert in der Sahara, wenn die Sozialisten kommen?‹ – und die Antwort: ›Der Sand geht aus‹ – wurden im Jahre 1945 erfunden, als man sah, wie schnell mit dem Sozialismus alles zu bröckeln und zu verschwinden begann.«1 Das vorliegende Buch widmet sich den Versuchen der polnischen Gesellschaft der Nachkriegszeit, die »sozialistische Wüste« sowohl zu bewässern als auch möglichst hohe Erträge aus ihr herauszupressen. Bedenkt man, dass die meisten Oasen und Wasserreserven verstaatlicht worden waren, so mussten sich die gesellschaftlichen Akteure mit dem Staat auf ein kompliziertes Spiel einlassen, in dem gegen das geltende Recht gewöhnlich verstoßen wurde. Dies dauerte fast ein halbes Jahrhundert.

1.1. Welche Farben hatte der Schwarzmarkt?

Das Buch erhebt nicht den Anspruch auf eine wirtschaftliche, sozialwissenschaftliche oder anthropologische Analyse, sondern zielt auf eine eher interdisziplinär angelegte, jedoch betont geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion verschiedener Verhaltensweisen, Mechanismen, Erscheinungen, Praktiken, Prozesse und Strategien unter dem gemeinsamen Nenner des Schwarzmarktes ab. Von vornherein sei hier unterstrichen, dass es sich dabei um außerordentlich heterogene und mehrdimensionale Mechanismen und Strategien handelt, die sich in Zeit und Raum wandeln und blitzartig auf die jeweiligen internen und externen Bedingungen reagieren; deren Akteure ihre eigene Sprache sowie ihr besonderes Wertesystem besitzen und in diesem Schwarzmarktspiel gezielt und ausschließlich auf Profit, mitunter notgedrungen und wider Willen setzen.2 Ähnlich wie im Falle jedweden Massenphänomens fehlt es auch in diesem nicht an Unklarheiten, Diskussionsthemen und Streitfragen, beginnend mit terminologischen und methodologischen Problemen. Auch diese bedürfen einer etwas weitläufigeren Erklärung.

Es gibt kein Land, in dem der Staat in der Lage wäre, eine völlige Kontrolle der Bürger auszuüben – das gilt auch für ihr Wirtschaftsleben. Ebenso besteht die Gesellschaft nirgends ausschließlich aus Individuen, die das gemeinsame Wohl dem eigenen vorzögen. Deshalb erinnert die Wirtschaft immer an einen Fluss, der an der Oberfläche und zugleich darunter fließt. Die Tiefe, die Kraft der Strömung, die Art des Flussbetts, die Fauna und Flora jener unterirdischen Wasserläufe (wenn man sich schon an diese fluviale Terminologie hält) sind von sehr zahlreichen Faktoren abhängig und sehen von Land zu Land anders aus, was den Forschern nicht wenig Probleme bereitet. Dies lässt sich sowohl an der Anzahl der Termini (Grauzone; Schatten-, Schwarz-, Untergrund-, Zweit- oder Parallelwirtschaft; verborgene, informelle, inoffizielle, geheime, unbeobachtbare, unregistrierbare bzw. unberechenbare Wirtschaft) als auch am Mangel an einer alle zufriedenstellenden Definition erkennen. Im Versuch, eine solche zu schaffen, bedienen sich einige moralischer Kategorien, während andere auf Kriterien der Rechtmäßigkeit, der Institutionalität, der Statistik (und insbesondere deren Erfassungsvermögen) oder schließlich der Ideologie zurückgreifen. Unabhängig von der Perspektive muss eine auf Gewinn ausgerichtete Produktions-, Handels- oder Dienstleistungstätigkeit (mit oder ohne Geld) existieren, die außerhalb der formalisierten Institutionen (und im Bewusstsein dessen, dass sie abseits der geltenden rechtlichen Bestimmungen stattfindet) ausgeübt wird und im Bruttosozialprodukt (BSP) nicht mit eingeschlossen ist.3

Überall begleitet die Grauzone unweigerlich die offizielle Wirtschaft. Sie zeichnet sich auch stets durch ihre oftmals geradezu endemischen Eigenschaften aus, die u. a. mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur, den Traditionen, dem Rechtssystem zusammenhängen. Man kann jedoch annehmen, dass sie in Ländern mit fest verankertem und entwickeltem Freihandelssystem vor allem auf Steuerhinterziehung und Nutzung der Schwarzarbeit beruht. Eine andere Frage stellt sich bei kriminellen Aktivitäten im engeren Sinne – Drogen-, Menschen-, Waffenhandel, Handel mit Spaltprodukten, Kuppelei. Gerade diese sorgen für Schlagzeilen und bringen enorme Gewinne, doch andererseits haben sie nur geringen Einfluss auf den Alltag des Durchschnittsbürgers – ob Franzose, Deutscher oder Finne.

In den Volksdemokratien, sei es in Polen, der Sowjetunion oder Rumänien, kümmerte sich der Mann auf der Straße ebenfalls nicht so sehr um den Schwarzmarkt für Uran oder für Panzer, sondern es ging ihm vielmehr darum, wie und wo Schuhe, Benzin, Möbel und Kochtöpfe aufzutreiben waren und womit man Letztere füllen könnte. Der Besitz von Geld gewährleistete nämlich nicht so sehr die Befriedigung des Konsumbedarfs, als oft nur das Anrecht, einen Platz in der Warteschlange einzunehmen, ohne Garantie dafür, dass man nicht bloß das erträumte, sondern gar irgendein Produkt erhalten würde. Die Aufgabe dieser Arbeit liegt jedoch nicht darin, offene Türen einzurennen und zu entdecken, dass die sozialistischen Volkswirtschaften durch mehr oder minder chronische Engpässe gekennzeichnet waren. Zu diesem Thema wurde bereits viel geschrieben, darunter das klassische, doch durchaus nicht unumstrittene Werk János Kornais.4 Für unsere Überlegungen sind nicht die Prozesse der Entstehung von Engpässen wesentlich, sondern die Art, wie diese gemildert wurden. Dazu gab es zwei Wege: entweder die Rationierung der Güter und Dienstleistungen durch den Staat, oder die Übernahme der (Re-)Distributionspflicht durch die Gesellschaft. Aus der Perspektive des totalitären bzw. autoritären kommunistischen Staates kam eine solche Wahl nicht in Frage, und das liberale Schlagwort: »Was nicht verboten ist, ist erlaubt«, wurde grundsätzlich durch die klare Weisung ersetzt: »Was nicht ausdrücklich verordnet wird, ist verboten«.5

Gleichzeitig aber akzeptierten die Gesellschaften dieses wirtschaftliche Diktat in der Regel nicht und verbesserten andauernd ihre Anpassungsstrategien, zumal da, wo die Engpässe besonders spürbar waren. Indem man gewöhnlich die sprichwörtliche »Hintertür« benutzte, wurde der staatliche Sektor dräniert; es entwickelten sich soziale Netzwerke, die auf gegenseitige (durchaus nicht selbstlose) Hilfe beim Erwerb von mangelnden Gütern und Dienstleistungen eingestellt waren. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass die witzige polnische Bezeichnung der größtmöglichen Strafe – »zwei Jahre ohne gute Beziehungen« – in wohl jedem sozialistischen Land ihr Pendant hatte (in der UdSSR hieß es, »Blat ist stärker als Stalin«6). Der Strudel der zweiten Wirtschaft saugte die Reserven der ersten aus, wobei er die Engpässe reproduzierte und zu einer Verstärkung verschiedenartiger informeller Aktivitäten führte.7 Dieser Teufelskreis bewirkte in den sozialistischen Ländern nicht nur die Entstehung einer zweiten Wirtschaft, sondern die Schaffung einer »zweiten Gesellschaft«8 mit ihren eigenen ethischen Grundsätzen, Zielen, Mustern und Mentalitäten. Am sichtbarsten war sie unter dem Blickwinkel der Wirtschaft.

Wenn die Wirtschaft fast zur Gänze dem Staat nicht nur untersteht, sondern ihm gehört, dann kann man auf die »Untergrundwirtschaft« nur schwer das Adjektiv »parallel« anwenden. Parallelität setzt ja Unabhängigkeit voraus, diese war jedoch auf keinen Fall ein Merkmal der sozialistischen second economy. Die – vor allem schmarotzerhaften – Beziehungen waren allerdings ungemein eng. Die offizielle Sphäre war es, die als Geld-, Rohstoff- oder Fertigerzeugnisquelle für private – legale und illegale – Handwerker und Kaufleute bzw. (ausschließlich illegale) Schmuggler fungierte; Privathäuser entstanden aus staatlichen Ziegelsteinen und staatlichem Zement, Autos fuhren mit staatlichem Benzin.9 Andererseits war aber eine eigenartige Symbiose beobachtbar. Die staatlichen Betriebe konnten nicht arbeiten (und auch den Plan nicht erfüllen), ohne auf Strategien aus der Grauzone zurückzugreifen, sowohl in den Kontakten zu staatlichen Partnern als auch zu privaten. Oft reichten sie in ihrer Tätigkeit bewusst bis an die Grenzen des Rechts (wobei diese übrigens manchmal überschritten wurden), da die Fabrik ohne die sprichwörtlichen Schräubchen, die von tüchtigen Handwerkern geliefert wurden, nicht hätte funktionieren können. Ebenso bemühte man sich, keine unnötigen Fragen u. a. zur Herkunft des für die Produktion des Einzelhandels benutzten Stahls zu stellen. In einer solchen Situation ist die auf Marktwirtschaften angewendete Farbpalette zur Bezeichnung derer informeller Verästelungen (von grau bis schwarz) entschieden unzureichend. Es mag auch nicht verwundern, dass die Spezialisten, die sich mit der sozialistischen Zweitwirtschaft befassen, sie beträchtlich erweitert haben. Das nachstehende Modell wurde zwar für die Sowjetunion erarbeitet, doch bezieht es sich ebenfalls in nicht geringem Maße auf andere Staaten des Ostblocks (nicht nur in Europa).10

Legale Märkte

Beim nicht ohne Grund als rot bezeichneten Markt handelte es sich in Wirklichkeit um die wenig effiziente und kaum reaktionsfähige staatliche Distribution. Unterstützt wurde sie vom rosa Markt, auf dem private, sich in rechtmäßigem Besitz befindende Güter getauscht wurden. Der Staat hatte nämlich ein Vertriebsnetz von Kommissionsgeschäften (skupočniye) gegründet, durch welche zu Preisen, die diejenigen des Detailhandels nicht überschritten, Kleidung, Bücher, Möbel usw. verkauft werden konnten. Die Kommissionsläden zählten zu den wenigen Stellen, wo noch residual Verhaltensweisen aus der Marktwirtschaft anzutreffen waren; Preise z. B. konnten ausgehandelt und im Falle unverkaufter Ware herabgesetzt werden. Dieser skupočniye gab es jedoch nicht viele und sie hatten nur einen geringen Einfluss auf den Markt.

Eine bedeutendere Rolle spielten die sog. weißen Märkte, sowohl die städtischen, wo man Gebrauchtes (d. h. die oft aufgrund eines sehr freien Umgangs mit dem Begriff »gebraucht« liquidierten baracholka11) verkaufen konnte, als auch diejenigen der Kolchose, auf denen Nahrungsmittel im Umlauf waren. Auf beiden wurden die Preise nicht von oben geregelt; nur in Zeiten besonders schwieriger Engpässe in der Versorgung wurden – selten eingehaltene – Maximalpreise eingeführt.

Halblegale Märkte

Zum grauen Markt zählte man die Vermietung von Wohnungen oder Datschen für die Urlaubszeit sowie Dienstleistungen (insbesondere die Instandsetzung von Wohnungen, Autoreparationen, Schuster- bzw. Schneiderhandwerk, die nach Feierabend – und manchmal während der Arbeitszeit – von sog. šabašniki12 realisiert wurden), aber auch Einkünfte aus Nachhilfeunterrichtsstunden oder ärztlicher Beratungstätigkeit. Auf dieser Grauskala befand sich zudem der nicht gerade legale, doch allgemein akzeptierte Tauschhandel zwischen den Betrieben, ohne welchen sich die Planerfüllung oft als unmöglich erwies. Die Erscheinungen des grauen Marktes betrachtete die Behörde gewöhnlich mit Nachsicht, vor allem da, wo die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen unzureichend war.

Illegale Märkte

Der braune Markt beschäftigte sich zuallererst mit Gütern, die theoretisch auf dem roten Markt erhältlich waren, an denen es jedoch in Wirklichkeit chronisch mangelte. Die Nachfrage übertraf das Angebot an Fleisch, Molkereiprodukten, Kleidung, Kühlschränken, mechanischen Geräten, Personenwagen, Baumaterial, was dazu führte, für diese Produkte breitgefächerte Distributionsmöglichkeiten durch die sog. Hintertür zu entwickeln. An diesem zwielichtigen Gewerbe waren sowohl Hersteller als auch Arbeiter der (Groß-)Handelszentralen, Lagerarbeiter und Transportbegleiter, Fahrer und Verkäufer beteiligt. In diesem Fall ging es eher um den Aufbau eines sozialen Kapitals, in der Hoffnung auf »Gegenleistungen« in einem anderen, genauso defizitären Gebiet. Ein eigenes Segment auf dem braunen Markt stellten die importierten Luxuswaren (aus sowjetischer Perspektive) dar, insbesondere Kleidung, in den achtziger Jahren u. a. Videokassetten oder gar Autos, die in nicht geringen Mengen von Seeleuten, Sportlern und Künstlern (oft legal) eingeführt wurden. Theoretisch hätten sie durch das dünne Netz der Kommissionsläden verteilt werden sollen, wodurch sie allerdings dauerhafte Spuren hinterließen (man war verpflichtet, sich dabei auszuweisen). Deshalb bemühte man sich ebenso, weniger auffällige (aber auch weniger formelle) Vertriebswege zu erschließen.

Auf der anderen Seite zogen die Unternehmen vom braunen Markt Vorteile. Die Führung der Kolchose zum Beispiel, die ständig mit dem Mangel an Ersatzteilen zu kämpfen hatte, verfügte über einen Geheimfonds und erlangte sie auf informellem Wege, indem diese im Rahmen einer inoffiziellen Nebentätigkeit von Fabrikarbeitern verfertigt oder gestohlen wurden usw.

Waren die Teilnehmer des braunen Marktes – wenn auch nicht immer – toleriert, so galten die Personen, die auf dem schwarzen Markt engagiert waren, sowohl für den Staat als auch in breiten Teilen der Gesellschaft als Straftäter. Zu den Erscheinungen des schwarzen Marktes zählte man das Anzapfen des roten Marktes zur Gewinnerzielung (Diebstahl in Geschäften, Lagerhallen, Fabrikanlagen, während des Transports; »Erwirtschaftung« von Mehrerträgen, gewöhnlich durch Senkung der Qualität). Eine äußerst wichtige Rolle spielte auf dem schwarzen Markt der Alkohol, dessen Verkauf unter besonderer staatlicher Kontrolle stand. Diese führte einerseits zur Verbreitung der Schwarzbrennerei, andererseits zur privaten Distribution staatlichen Alkohols – natürlich zu höheren Preisen.

Die auf dem braunen Markt rechtmäßig bezogenen und verteilten Luxuswaren (Jeans, Perücken usw.) glichen im Verhältnis zum Bedarf einem Tropfen auf dem heißen Stein. Es ist schwer zu sagen, wie viel über Schmuggelwege zufloss, wie viel von Touristen abgekauft wurde. Es beschäftigte sich damit die Gruppe der sog. farcovščiki13, die auch Souvenirs bzw. schwer erhältliche Produkte, z. B. Kaviar, unter Touristen vertrieben. Die höchste Kaste der Schwarzhändler, die sog. valjutčiki14, baute die Transaktionen auf dem illegalen Valuten- und Goldmarkt zu einem Monopol aus; beide bildeten – neben den Edelsteinen – die grundlegenden Thesaurierungsgegenstände. Für eine solche Tätigkeit drohten die höchsten Strafen, bis hin zum Todesurteil.

1.2. Schwarzmarkt in der Volksrepublik Polen: Probleme der Definition

Man kann davon ausgehen, dass die Aufteilung in einzelne Märkte im Polen der Nachkriegszeit (vor allem nach dem Erstarren des Systems gegen Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre) nicht wesentlich vom oben nachgezeichneten abwich. Zugleich aber kann man wohl behaupten, dass die zweite Wirtschaft in Polen aufgrund des einzigartigen Zusammenspiels historischer, politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktoren eigene, charakteristische und verglichen mit dem sozialistischen Lager vielleicht sogar endemische Züge hatte.15

Unter den historischen Faktoren spielte nicht zuletzt das instrumentale und pragmatische, weitgehend aus der Zeit der Teilungen (besonders im damaligen russischen Hoheitsgebiet) und des Zweiten Weltkriegs geerbte Verhältnis zum Staat und zu seinen Institutionen, die von breiten Schichten der Gesellschaft als etwas Abgesondertes und Auswärtiges betrachtet wurden, eine wichtige Rolle. Der Durchschnittsbürger identifizierte sich vor allem mit seiner Familie und der ihm nahestehenden Gesellschaftsgruppe, z. B. am Arbeitsplatz oder am Wohnort, danach mit der Nation, und zwar so, wie sie eher im 19. Jahrhundert verstanden wurde; erst an letzter Stelle kam der Staat. »Dieses zweideutige Verhältnis, in dem Unbeugsamkeit und Widerspenstigkeit in hohem Maße mitschwangen, schwächte das Ausführungsvermögen des totalitären Staates«, so der Historiker Andrzej Friszke.16 Im Ergebnis fiel die institutionelle Kontrolle im Vergleich zu den Nachbarländern bei weitem schwächer aus. Dies betraf sowohl den Bereich der nationalen Symbolik als auch die Wirtschaft.

Andererseits war die Verstaatlichung der Wirtschaft bereits in der Zwischenkriegszeit weit vorangeschritten, und ein Großteil der Gesellschaft sah im Staat eine Kraft, die imstande war, wirtschaftliche Probleme zu lösen; das Ausmaß dieser Fähigkeiten entschied über die Bewertung und Legitimierung des Staates. Nach dem Krieg ließ sich diese Sicht noch begründen, zumal die Behörden eifrig Propaganda für Egalitarismus führten und dabei die Bedürfnisse und Konsumerwartungen der Gesellschaft schürten. Als sich die praktisch in jedem Gebiet rückständige Staatswirtschaft vor allem ab Mitte der siebziger Jahre zum großen Schmerz der Gesellschaft jedoch immer weniger dazu fähig zeigte, wirtschaftliche Probleme zu lösen, änderte sich die Haltung der Bürger zum Staat und zu seinen Institutionen: Immer häufiger handelten sie auf eigene Initiative und suchten einen Ausweg aus der Mangelwirtschaft.17

Außerdem war diese Gesellschaft recht gut darauf vorbereitet, selbstständig, wenn auch nicht gerade offiziell, in der Wirtschaft tätig zu werden. Bereits die Krise der dreißiger Jahre hatte zahlreiche Menschen, die ohne Lebensgrundlage und mittellos waren, dazu bewegt, sich im Handel zu betätigen. Der Soziologe Stanisław Rychliński schrieb diesbezüglich: »In die Reihen des Kleinbürgertums dringen nun massenhaft höhere Kategorien der Handarbeiter ein: Staatsbeamte von niedrigem Range, Eisenbahner, Angestellte der Selbstverwaltung und des öffentlichen Dienstes. Dies trägt unmittelbar weder zu einer bedeutenden Erhöhung des kulturellen Niveaus noch zur Stärkung der gesellschaftlichen Position der Mittelschicht bei. […] Das Kleinbürgertum hat seine Eigenschaft als statische, mittelständige Schicht zur Trennung zwischen höheren Schichten und unterprivilegierten Elementen eingebüßt. Es wurde zu einer labilen Brücke und ist von unterschiedlichsten dynamischen Prozessen unterminiert.«18 Die Jahre der Besatzung führten zu einer Verwischung der bisherigen Grenzen zulässiger Verhaltensweisen. Von Bedeutung war nun nicht so sehr die gesellschaftliche Position, sondern eher die Fähigkeit, sich der neuen Situation anzupassen, und letzten Endes das Durchhaltevermögen. Handel, Schmuggel und geringfügige Heimarbeit gaben sowohl Außenseitern als auch Intellektuellen Überlebenschancen.19 Es entstand zunächst durch die Ghettoisierung, später durch die Vernichtung der Juden auf einmal ein Leerraum auf der wirtschaftlichen Landkarte, der schnell von den Polen übernommen wurde. Laut Jan Szczepański »entstanden neue Formen kleiner Firmen, die von Leuten anderer Klassen und Schichten ohne entsprechende Qualifizierung und ohne Erfahrung in diesen Berufen geführt wurden. Es ging also um eine besondere Art kleiner, meistens rechtswidriger Unternehmen, um ›krumme Geschäfte‹ jeglicher Art, die grundsätzlich das geltende Recht umgingen, deutsche Beamte bzw. Behörden bestachen und schnellen Profit anvisierten. Es bildeten sich damals neue Modelle der Aktivität kleiner Unternehmen, die nach dem Krieg weiterlebten«20. So ist es auch nicht weiter befremdlich, dass Stanisław M. Korowicz nach seiner Rückkehr aus England, wo er den Krieg verbracht hatte, diesen vielsagenden Witz notierte, der in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre im Umlauf war: »So viele Katholiken betreiben Handel und so viele Juden laufen in Uniform. Die Welt ist verrückt geworden!«21

Der Einfluss, den der private Sektor in der Landwirtschaft und ab 1956 im Handel, im Handwerk und im Dienstleistungsgewerbe auf die Form und das Ausmaß der zweiten Wirtschaft in Polen spielte, ist nicht zu unterschätzen. 1979 beschäftigte dieser Sektor 23,9 % aller Arbeitnehmer (Landwirtschaft inbegriffen). Die Bauern, die schon in der Besatzungszeit ihr Anpassungsvermögen unter Beweis gestellt hatten, mussten nun dieses nur den neuen Verhältnissen angleichen, indem sie energisch an verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten teilhatten, die auf der Farbpalette des Marktes gewöhnlich unter den dunkleren Farbstufen angesiedelt waren. Einerseits wussten sie meisterhaft und kreativ den Mangel an Lebensmitteln, insbesondere an Fleischwaren, auf den städtischen Märkten auszunutzen. Andererseits hatten sie als Vertreter des privaten, d. h. benachteiligten, Sektors stets mit dem Mangel an Produktionskapazitäten zu kämpfen und erlangten diese oft auf inoffiziellem Wege. Privates Handwerk und privater Handel standen wie bereits erwähnt auf schmarotzerhaft-symbiotische Art mit dem Staat in Verbindung. Zugleich gehörten kleine Kaufleute und Produzenten zu den wichtigsten Kunden auf dem Schwarzmarkt für Gold und Devisen.

Nebenbei gesagt wurde gerade dieser Markt in einzigartigem Ausmaß (verglichen mit dem sowjetischen Lager) von der staatlichen Geldpolitik durch das Bestehen von Devisenkonten und sog. innerem Export22 stimuliert und unterstützt. Im Ergebnis konnte man in den letzten Jahrzehnten der Volksrepublik Polen tatsächlich von Doppelwährungssystem sprechen. Auch das Verhältnis des Regimes zur Emigration war, natürlich unter Ausschluss politischer Aspekte, ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre anders als in den meisten sozialistischen Ländern. Der Freiraum gestatteter Kontakte war relativ breit, und das betraf ebenfalls den Zufluss von Devisen, Waren, Technologie sowie Konsumverhaltensmustern. Seit den siebziger Jahren waren die Ausreisebestimmungen ins kapitalistische Ausland um einiges liberaler als in anderen Ländern des sozialistischen Lagers, mit Ausnahme Jugoslawiens, das über einen besonderen Status verfügte. Gebündelt wirkten sich die oben erwähnten Faktoren auf vielerlei Weisen aus, von der Entwicklung des Schmuggels bis zur Tourismuswirtschaft, wobei die Beobachtung einen Nachahmungseffekt auslöste. Dies war insofern wesentlich, als in allen armen Ländern Reichtum mit dem Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, wie sie in den entwickelten westlichen Staaten üblich sind, gleichgesetzt wird.23 Die langjährige Abschottung der sozialistischen Staaten löste bei deren Bürgern einen sog. Brandopferkomplex aus: »In der Feuersbrunst […] haben sie ihre ganze Habe verloren und versuchen sie wieder aufzubauen, doch dabei richten sie sich nach den Mustern des Massenkonsums aus den entwickelten Gesellschaften. Diese Muster erreichen uns durch Filme, Fernsehen, Presse, illustrierte Zeitschriften, Tourismus, Familienbesuche usw.«24 Der Unterschied zwischen der Realität im Lande und dem westlichen Ideal konnte in großem Maße und manchmal ausschließlich mit Hilfe von Schwarzmarktstrategien nivelliert werden.

Die oben skizzierten Rahmenbedingungen erleichtern nicht gerade den Versuch, das Bild des Schwarzmarktes in der Volksrepublik Polen nachzuzeichnen. Im Rückgriff auf die künstlerische Metapher kann dies bestimmt kein realistisches Gemälde werden, sondern eher ein pointillistisches Werk, in dem die Farben aufeinandergetupft und die Gestalten erst aus einer gewissen Distanz sichtbar werden. Dazu passen auch klassische Definitionen nicht. Man muss dem Historiker Jerzy Tomaszewski natürlich zustimmen, wenn er den Schwarzmarkt folgendermaßen bezeichnet: »Umgangssprachlich für einen illegalen bzw. geheim gehaltenen Handel, der im Rahmen der Reglementierung des Warenaustausches betrieben wird. […] Ein solcher Handel entsteht dann, wenn die Versorgung mit bestimmten Produkten, obwohl sie genauen Gesetzen untersteht (amtlich festgesetzte Preise, Rationierungskarten, Verkaufsmonopol usw.), nicht der Nachfrage nachkommt.«25

Wie in den nachstehenden Kapiteln gezeigt wird, wich die Realität in der Volksrepublik Polen ziemlich stark von dieser Definition ab, angefangen bei der Tatsache, dass die Reglementierung für Konsumgüter in Polen nur zeitweilig in Kraft war (in den Jahren 1944-1953 und 1976-1989) und über die meiste Zeit nur für einige Produkte galt, während das Phänomen des Schwarzmarktes in der gesamten Nachkriegszeit existierte.26 Im Laufe der fünfundvierzig Nachkriegsjahre betraf die Reglementierung dafür aber die großen Betriebe, die dazu verpflichtet waren, sich der von oben entschiedenen Verteilung von Energie, Zement, Maschinen und Geldmitteln anzupassen. Deshalb mussten auch sie sich des Katalogs der Schwarzmarktstrategien bedienen, so z. B. wenn eine Fabrik ihren Arbeitern so streng regulierte Waren wie Fleisch, Zucker oder Alkohol verkaufte, oder wenn sie diese mit anderen Produzenten austauschte. Das gehörte in den achtziger Jahren zum Alltag. Man sollte unterstreichen, dass die Produktion ohne ein solches zwischenbetriebliches Tauschgeschäft oft unmöglich gewesen wäre.27 In den monografischen Kapiteln zum Thema Fleisch, Alkohol oder Benzin u. a. befinden sich zahlreiche Beispiele für dieses Prozedere.

Kann denn von Schwarzmarkt die Rede sein, wenn ein gegebenes Phänomen überhaupt nicht mit Engpässen oder Reglementierung verbunden ist? Der inoffizielle Benzinhandel existierte in Polen (sowie in der UdSSR oder in Rumänien) unabhängig von Mangelerscheinungen oder Regulierungsmaßnahmen; in letzteren Fällen nahm er nur zu und spezialisierte sich. Ähnlich blieben Schwarzbrenner auch dann tätig, wenn die Regale der Monopolgeschäfte voll waren. Des Weiteren sei darauf hingewiesen, dass die Preise sowohl für schwarzgebrannten Schnaps als auch für abgezapftes Benzin aus staatlichen Tanken bis zur Krise der achtziger Jahre niedriger lagen als auf dem offiziellen Markt. Soll man das »Fleischweib«, das – in Zeiten, wo keine Regulierung galt – Warschauer oder Krakauer Haushalte mit Kalbfleisch versorgte, zu den Erscheinungen des Schwarzmarktes rechnen oder bloß als Teil einer eigentümlichen Folklore betrachten? Wie kann man die Ersetzung des staatlichen Handels bezeichnen, der selbst mit dem Austausch von nichtregulierten Waren nicht zurechtkam? Im Jahre 1984 z. B. halfen zwei unternehmungslustige Männer der wenig einfallsreichen Fischzentrale, indem sie in Swinemünde zwei Tonnen Hering zu je 50 Złoty abkauften, die sie dann in Grünberg zu viel teureren Preisen vertrieben.28 Im selben Jahr wurde ein Handelsvertreter von der Ostseeküste festgenommen, der »zunächst für die Renovierung eines Geschäftslokals eine Million Złoty verschlungen hatte, dann vergeblich versuchte, auf dem lokalen Markt Ware aufzutreiben, und schließlich, nachdem er sie aus Schlesien bezogen und dabei seine Kosten dazugerechnet hatte, unter Anschuldigung von Spekulation ins Gefängnis kam«.29 Ein Jahr später verbreiteten die Medien die Geschichte eines Sattlers aus dem in Südostpolen liegenden Przemyśl, der mit geringem Preisaufschlag Gebäck in die nahegelegene Ortschaft Stubno lieferte, da diese keine eigene Bäckerei besaß. Obwohl er über eine schriftliche Genehmigung seines Vorgesetzten verfügte und mit der Zustimmung der Bevölkerung rechnen konnte, wurde er zu einer Gefängnisstrafe mit Strafaussetzung sowie zu einer Geldbuße verurteilt.30

Der Terminus »Markt« (ob nun schwarz oder braun usw.) drückt allein schon die Tauschaktivität aus, wenngleich dabei nicht unbedingt Geld vorhanden ist.31 Dies erlaubt es, aus unseren Erwägungen solche Erscheinungen wie Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Korruption auszuschließen, auch wenn Letztere ebenfalls eine Form des Austausches darstellt (!); zugleich bleibt die Frage, wo die Grenze zwischen schwarzem (braunem usw.) Markt und Wirtschaftskriminalität liegt, offen. Welche Bewandtnis hatte z. B. die »Fleischaffäre« in Warschau am Anfang der sechziger Jahre, als von großen staatlichen Betrieben Fleischüberschüsse abgekauft und danach zu offiziellen Preisen durch vollkommen legale Vertriebsnetze verkauft wurden? Wie soll man Handwerker einstufen, die aus meistens illegal erlangtem, staatlichem Material Produkte herstellten, die letztendlich auf legalem Wege vertrieben wurden? Diese Tätigkeit, die man selbst im weitesten Sinne nur schwer dem Schwarzmarkt zuschreiben kann, ermöglichte beträchtliche, oft nicht versteuerte und nicht verbuchte Einkünfte, die wiederum in Gold und Devisen – diesmal sehr wohl auf dem Schwarzmarkt – investiert wurden. Oder sie verleitete dazu, Schmuggelstrategien zu entwickeln, die sowohl die schon erwähnten Thesaurierungsgegenstände als auch auf dem offiziellen Markt unzugängliche Luxuswaren beschafften.

Andererseits hatten selbst die Behörden Schwierigkeiten mit der genauen Definition von Schwarzmarktphänomenen. Bald gab ihnen deren rechtliche Unnennbarkeit zu schaffen, bald schlichteten sie Zweifelsfälle, wohl wissend um den Situationszwang, zugunsten der Angeklagten. Als kennzeichnend für die achtziger Jahre, als schon praktisch alles zum Gegenstand illegalen Austausches geworden war, erweist sich die Tatsache, dass die Urteile, die die sozialistische Rechtsprechung über Schwarzmarkterscheinungen fällte, sich manchmal gar positiv von der Anschauung der Gesellschaft unterschieden, zumindest deren Mehrheit. Als 1984 ein Querulant anfing, die Einstellung der dank Zeitungsinseraten geführten Spekulation mit Waren, die in Geschäften gekauft worden waren (Elektrogeräte, Kleidung usw.), zu fordern, vertrat der zuständige Beamte des Ministerrat-Komitees für die Respektierung des Rechts, der Öffentlichen Ordnung und der Gesellschaftlichen Disziplin (sic!) die Meinung, es handle sich dabei nicht um einen Rechtsverstoß. Man könne nämlich das gegebene Produkt z. B. unter Berücksichtigung der Transportkosten, des Zeitpunktes und der Preisschwankungen teurer weiterverkaufen, wenn es zuvor nur zur Deckung des persönlichen Bedarfs erworben wurde. Strafbar war nur das gezielte, vorher geplante Weiterverkaufen, das äußerst schwer nachzuweisen war. Die Juristen waren sich dessen bewusst, dass sich aus einer Verschärfung der Vorschriften wenig ergeben würde.32

Das Antispekulationsgesetz von September 1981 (siehe Kapitel 3) beschränkte die Gruppe der Spekulationsgegenstände auf »Artikel des allgemeinen Gebrauchs«. 1985 führte dies zu einem vielsagenden Briefwechsel zwischen dem Bezirksamt für Innere Angelegenheiten in Kalisch und der Generalstaatsanwaltschaft. »Bekanntlich«, so schrieb der stellvertretende Kommandeur der Kalischer Polizei, »ist die Stadt Kalisch als Klavierhersteller tätig und verfügt über den berühmtem Betrieb ›Calisia‹. Wenn hier bei uns Klaviere in die Geschäfte geliefert werden, steht man dafür genauso lange Schlange, wie in anderen Städten für Zitrusfrüchte. Diese Produkte werden also gern von der Bevölkerung erworben. Die Polizei hat ein Verfahren wegen Klavierkauf außerhalb des staatlichen Regulierungssystems eingeleitet. Tatsächlich hat die Bezirksstaatsanwaltschaft in Kalisch am 17. Januar d. J. – übrigens mit schriftlicher Begründung – den Standpunkt vertreten, dass ein Klavier als Artikel zur Befriedigung des höheren Bedarfs kein Artikel des allgemeinen Gebrauchs sei.« Als die Staatsanwaltschaft es verweigerte, gegen einen mutmaßlichen Spekulanten Anklage zu erheben, bat die Polizeiführung aus Angst vor einem Präzedenzfall in Warschau um Stellungnahme: »Wird man in fünf Minuten denn nicht genauso behaupten können, dass auch ein Pelz kein Artikel des allgemeinen Gebrauchs ist?!« Letztendlich bestätigte die Generalstaatsanwaltschaft allerdings den Entschluss der Kalischer Juristen.33

Auch die im Polen der Nachkriegszeit verwendete Terminologie erleichtert die Einordnung des Problems nicht. Nach dem Krieg war der Terminus »Schwarzmarkt« offiziell nicht in Gebrauch. Anfangs herrschte in der weniger offiziellen Amtssprache das herkömmliche »Schiebergeschäft«, in der offizielleren dafür »Kriegswucher« oder »Warenwucher«, bald ersetzt durch den Schlüsselbegriff »Spekulation«,34 der das uns interessierende Phänomen jedoch nur teilweise als »Form der Wirtschaftskriminalität, die darin besteht, als Unbefugter Waren zu kaufen oder zu verkaufen, um aus deren späterem Weiterverkauf Gewinne zu erzielen« oder »Verbrechen durch gewinnorientiertes Einspannen einer zusätzlichen, illegalen Mittelsperson in den Vertriebsprozess« erfasste. In den ersten Nachkriegsjahren bezeichnete der Schwarzmarkt bzw. die schwarze Börse eher den Handel mit Devisen und Gold; die Redewendung »der Kurs des Dollar auf dem Schwarzmarkt/auf der schwarzen Börse« war auch ständig in der amtlichen Korrespondenz in Gebrauch. Gegen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre erschien der Ausdruck »Schwarzmarkt« sowohl in der Presse als auch in weniger offiziellen Ausführungen von Vertretern der Macht immer öfter, wenn auch nicht als getrenntes, klar definiertes Phänomen, sondern vielmehr als Handlungsfeld für Spekulanten, die sehr verschiedene Produkte in Umlauf brachten, von Devisen und Gold, über Fahrzeuge und Baumaterial, bis hin zu Fleisch und Alkohol. Erst nach 1980 wurde der Begriff »Schwarzmarkt« aufgrund der zunehmenden Bedeutung und des wachsenden Ausmaßes dieses Problems oft in Anführungszeichen und meist mit zusätzlicher Präzision (als »Lebensmittel-«, »Benzin-«, »Devisenschwarzmarkt« usw.) parallel zum »offiziellen« Wort »Spekulation« vom Journalisten bis zum Minister verwendet.

Will man nun irgendwie zu einer Definition des Schwarzmarktes gelangen, so sollte man sich unter Berücksichtigung der oben formulierten Zweifel wohl am besten der Feststellungen indischer Wirtschaftsexperten bedienen. Nicht ohne Grund, denn bereits zu Beginn der achtziger Jahre kamen sie zum Schluss, dass »der Schwarzmarkt im Laufe der vergangenen Jahrzehnte [für die Inder] zu einem Lebensstil geworden ist«.35 Wie zu erwarten, ist die von ihnen vorgeschlagene Definition um einiges breiter angelegt als diejenigen, die im Westen angenommen werden, und sie passt besser zur osteuropäischen Realität: »Wenn durch (künstliche) Manipulierung der Wirtschaftskräfte von Angebot und Nachfrage, Währung und/oder Produktion, Handel und/oder Industrie eine künstliche Situation des Mangels oder des Überschusses kreiert wird, und durch diesen Prozess enorme Gewinne erzielt werden, so hat man es mit einer Situation des Schwarzmarktes zu tun.«36

1.3. Literatur, Quellen und Methode

Zum Verständnis sowie zur definitorischen Erfassung des Schwarzmarktes in der Volksrepublik Polen war die bisherige polnische Fachliteratur nicht von besonderer Hilfe, und dies umso weniger, als auf diesem Feld bis jetzt eher Ökonomen und Juristen, kaum aber Historiker oder Anthropologen vorherrschten. Im Zuge der nach den polnischen Oktoberereignissen einhergehenden Änderungen entstand 1957 im Ministerrat unter der Leitung Oskar Langes ein Wirtschaftsrat, der versuchte, die illegalen Einkünfte der Polen zu schätzen.37 Die Untersuchungen zur Wirtschaftskriminalität wurden in den folgenden Jahren sowohl von der Obersten Kontrollkammer als auch vom Komitee für soziologische Forschung der Volksrepublik Polen unter der Leitung von Michał Kalecki weitergeführt. Anfang der sechziger Jahre wurden sie vom Regime Gomułkas abgebrochen, da dieses die wissenschaftliche Bestätigung und Verbreitung der ohnehin allgemein bekannten Tatsache einer massiven Teilnahme der Gesellschaft an illegalen Transaktionen vermeiden wollte. Viel bequemer war es, sich auf einzelne Wirtschaftsaffären zu konzentrieren. Daraus ergab sich, dass lange Zeit in den Regalen von Buchläden und Büchereien praktisch nur juristische Abhandlungen u. a. von Tadeusz Cyprian, Stanisław Galarski, Oktawia Górniok und Bronisław Koch kursierten. 1974 wurde bei der Generalstaatsanwaltschaft das Institut für Fragen der Kriminalität38 ins Leben gerufen, das sich auch mit Wirtschaftskriminalität befasste, dessen meist besonders interessante Forschungsergebnisse jedoch ausschließlich einem engen Leserkreis zugänglich waren. Ähnlich verhielt es sich mit den von uniformierten Staatsdienern der GUC, MO oder SB gefertigten Studien, die gewöhnlich dem internen Gebrauch zugewiesen waren.

Noch Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre beklagte sich ein Warschauer Soziologe darüber, dass »in Polen diese Probleme nur stichprobenartig erforscht [werden], nur in der Publizistik wird mehr darüber gesprochen, wobei sie allgemein wie ein pathologisches Randphänomen, etwa Wirtschaftskriminalität und Spekulation, behandelt werden«.39 Arbeiten von Soziologen und Ökonomen, die schon damals von einer ausschließlich »pathologischen« Perspektive absahen, hatten kaum eine Chance zur Veröffentlichung.40 Doch auch im Ausland wurde über die zweite Wirtschaft in Polen verhältnismäßig wenig geschrieben, besonders im Vergleich zur UdSSR, die im Zentrum des Interesses stand. Erst die achtziger Jahre brachten einen Wandel mit sich, und das Thema der zweiten Wirtschaft fing langsam an, auch hierzulande im Trend zu sein. 1984 erschien ein erster Artikel von Marek Bednarski41, dem Vorreiter der Forschung über die zweite Wirtschaft, sowie eine Broschüre von Rudolf Jaworek42. Gegen Ende desselben Jahres brachte die Wochenschrift Polityka einen ganzen Block von Texten über die Parallelwirtschaft.43 In den folgenden Jahren wurde der Schwarzmarkt zum Thema sowohl wissenschaftlicher Tagungsbeiträge44 als auch erster, noch wenig verbreiteter Buchpublikationen oder eher Broschüren45.

In der Forschung über die Wirtschaft des zweiten Umlaufs in der Volksrepublik Polen stellte das Jahr 1989 überhaupt keine Wende dar. Die Realität der Transformation lieferte nämlich mehr als genug aktuelle Themen. Am Anfang der neunziger Jahre erschien nur das Buch von Marek Bednarski als Krönung seiner früheren Studien.46 Obwohl diese auf die achtziger Jahre konzentrierte Monografie aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive geschrieben wurde, bietet sie bis heute das umfassendste Bild der inoffiziellen Wirtschaft jener Jahre.

In dem Maße, wie sich die Archive öffneten und die Forschung über die Institutionen des kommunistischen Staates fortschritten, begann auch die zweite Wirtschaft Mitte der neunziger Jahre, das Interesse der Historiker zu wecken. Pioniere in dem Bereich waren: Grzegorz Sołtysiak, der Anfang 1991 Material über die Aktivitäten der Sonderkommission zur Bekämpfung von Missbräuchen und Wirtschaftssabotage aus den Jahren 1945-1954 bekannt machte;47 der Warschauer Historiker Marcin Kula, der seine Studenten dazu bewegte, die von der Kommission geerbten Akten zur Erforschung der Sozialgeschichte auszuwerten;48 Dariusz Jarosz und Tadeusz Wolsza, die 1995, diesmal in Buchform, eine Quellenedition über die Sonderkommission veröffentlichten. Diese ist heute zweifellos die am besten erforschte und am genauesten beschriebene Institution, die sich mit der illegalen wirtschaftlichen Aktivität der Gesellschaft befasste, wie aus Studien von Piotr Fiedorczyk, Ryszard Tomkiewicz, Waldemar Tomczyk oder Ludwik S. Szuba u. a. hervorgeht. Seit Ende der neunziger Jahre des 20. Jh. traten Hinweise über Schwarzmarktphänomene im Rahmen breiter angelegter Forschungen zutage, so etwa über die sog. Fleischaffäre (Dariusz Jarosz und Maria Pasztor), über Freizeit und Tourismus (Paweł Sowiński), Migrationen (Dariusz Stola), Engpässe (Małgorzata Mazurek und Mariusz Jastrząb), Alkoholismus in der Volksrepublik Polen (Krzysztof Kosiński) oder die Politik des Regimes gegen Wirtschaftskriminalität unter Gomułka (Krzysztof Madej).49

Nicht geringe Probleme bereitete außerdem die zugängliche Quellenbasis. Es geht hier hauptsächlich um ein illegales, informelles Phänomen, das immer gegen das Recht verstieß oder zumindest an dessen Grenzen angesiedelt war. Diese Tatsache drängte die gesellschaftlichen Akteure nicht gerade dazu, ihre Tätigkeit zu dokumentieren, so dass die überwiegende Mehrheit der Quellen nicht von ihnen, sondern von Institutionen gefertigt wurden, die sie kontrollierten, verfolgten und bestraften. Das Material stammt vor allem aus den Archiven der Polnischen Arbeiterpartei bzw. Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PPR/PZPR), des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit bzw. Innenministeriums (MBP/MSW, sowohl der Sicherheitsdienste als auch der Bürgermiliz), der Obersten Kontrollkammer (NIK), der Generalstaatsanwaltschaft, des Justizministeriums, des Hauptzollamtes (GUC) sowie ziviler Institutionen zur Bekämpfung der Spekulation (der Sonderkommission von 1945 bis 1954 oder der Zentralen Kommission zur Bekämpfung der Spekulation zwischen 1981 und 1987). Es wurden auch Daten aus staatlichen, sowohl zentralen als auch lokalen Archivstellen ausgewertet,50 die von Institutionen wie z. B. dem Außenministerium (MSZ) oder dem Hauptkomitee für Fremdenverkehr (GKKFiT/GKT) erhoben wurden, welche zwar auf den ersten Blick nicht mit dem Schwarzmarkt in Verbindung zu setzen sind, diesbezüglich jedoch zahlreiche wertvolle Informationen liefern.