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Daniel Münzner

Kurt Hiller

Der Intellektuelle als
Außenseiter

 

 

 

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Gedruckt mit Unterstützung

der Martha Pulvermacher Stiftung

 

und des Karl-Heinrich-Ulrich-Fonds

der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2015
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Umschlagfoto: Kurt Hiller Gesellschaft e. V.
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-1773-4
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2883-9
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2884-6

Inhalt

 

Einleitung

I. Deutsches Kaiserreich 1885-1918

1. Außenseiter des Expressionismus

Studium und Mitgliedschaft in der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung – Militärzeit und Flucht in die Schweiz – Gründung und Zerfall des Neuen Clubs – Expressionismus als Lebensform – Politisierung im Ersten Weltkrieg

2. Erste Erfahrungen mit Antisemitismus

An den Universitäten – Im Neuen Club – Der »Kondorkrieg« als rassistischer Vorfall – Verhältnis zum Zionismus und zur »jüdischen Rasse«

3. Die »Spezies« des Homosexuellen

Fremdbeschreibungen der Devianz – Umkämpfte Selbstentwürfe – Entdeckung des eigenen Geschlechts – Turnen, Militär und schöne Körper – Kategorien der Sexualität – Logos, Eros und Sexus

4. Zwischenfazit

II. Weimarer Republik 1918-1933

1. Der Antidemokrat im Kampf für die Demokratie

Der Rat geistiger Arbeiter – Verhältnis zu den Parteien – Die Deutsche Friedensbewegung – Eine Intellektuelle Querfront? – Hillers Kontakte nach rechts – Präsidialregime, Machtübernahme, Verfolgungen und Flucht

2. Ausgrenzungserfahrungen und die Definition des Jüdischen

Radikalisierung des Antisemitismus – Hillers Verhältnis zum Judentum

3. Der erfolglose Kampf für die Rechte der Homosexuellen

Ausgrenzung und Gewalt der Epoche – Arbeit für das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee – Diskriminierende Geschlechterbilder – Hiller als Maskulinist – Die überraschende Freilassung aus dem KZ Oranienburg

4. Zwischenfazit

III. Exil 1934-1945

1. Der Kampf der Exilanten gegen Hitler und sich selbst

Arbeit für die Neue Weltbühne – Konflikte mit den Kommunisten und Flucht aus Prag – Fronten unter den Exilanten – Der Informant des Security Service – Auf dem Weg zum Demokraten und zurück nach Deutschland

2. Als deutscher Sozialist in der Tschechoslowakei und England

Pragmatisches Identitätsmanagement – Antisemitismus in Großbritannien – Angst vor den Deutschen und Inhaftierung der Flüchtlinge – Friedrich Engels und der Antisemitismus

3. Homosexualität wird unbedeutend

Der Blick der Behörden – Die Freundschaft zu Walter Schultz – Homosexuelle Netzwerke

4. Zwischenfazit

IV. Bundesrepublik Deutschland 1945-1972

1. Die Versöhnung von Demokratie und Intellektuellen

Der »Nazi-Jäger« – Der »Weimar-Komplex« – Abschiede vom Kommunismus – Ein »APO-Opa«? – Kurt Hiller und die Neue Linke – Wahlkämpfer und Kritiker der SPD – »Zu allererst antikonservativ«? – Staats- und Demokratiedenken – Eine neue Logokratie?

2. Die Selbstauflösung des Judentums

Rassenkategorien im Denken Hillers – Zionismus, Israel und die Judenfrage – Selbstbehauptungsversuche als Deutscher

3. Erneuter Kampf für die Rechte der Homosexuellen

Neugründungen eines Wissenschaftlich-humanitären Komitees – SPD-Netzwerk und Paragraph – Die Reform des Sexualstrafrechts – Hillers publizistisch-emanzipatorisches Werk – Hillers Verständnis von Geschlecht und Sexualität

4. Zwischenfazit

 

Die Demokratisierung des Linksintellektuellen – Fazit

 

Dank

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Personenregister

Einleitung

Pust, großer Heros, deine Fackel aus!

Die Zeit braucht keine Helden  – nur Beamte.

Verkriech dich in dein Mietskasernenhaus,

zu dem dich Gott (und ein Konzern) verdammte.

In Überlebensgröße schreiten

hoch über uns die Mittelmäßigkeiten …

Kurt Tucholsky, 1922

»In Überlebensgröße schreiten hoch über uns die Mittelmäßigkeiten«.1 So formulierte einst der Linkssozialist Kurt Tucholsky seine Kritik an der politischen Elite von Weimar. »Die Herrschaft der Minderwertigen« beklagte der jungkonservative Edgar Julius Jung.2 Der Grafiker George Grosz entwarf zahllose Karikaturen des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert. In einer seiner Zeichnungen persiflierte er Ebert mit einem Krönchen und einem Monokel  – er stilisierte ihn zum Monarchisten und Kapitalisten, zu einem Reichspräsidenten von »Geldsacks Gnaden«.3 Unbestritten, die Kritik vieler Schriftsteller und Künstler war unüberhörbar, ihr Hohn und Spott beißend. Angriffe erlebte die Republik dabei aus verschiedenen politischen Lagern. Ab den 1960er Jahren arbeiteten Kurt Sontheimer und andere heraus, wie völkische, antisemitische und neu-rechte Autoren eine Destabilisierung der ersten deutschen Republik betrieben.4 Deren Demokratiefeindlichkeit war insofern konsequent, als ihre Wertvorstellungen der sich 1918 neu etablierenden Gesellschaftsordnung zum Teil fundamental entgegenstanden. Viel überraschender ist, dass auch jene Publizisten und Autoren schonungslose Kritik übten, die in der Revolution für die Herrschaft des Volkes und gegen das Kaiserreich gestritten hatten. Sie hätten Verteidiger der realexistierenden Demokratie sein können. Doch wie gerade in den letzten Jahren deutlich wurde, war die Weimarer Republik nicht nur von rechts, sondern auch von links unter Beschuss.5 Haben also die linken Republikaner die Republik verraten? Carl von Ossietzky antwortete schon 1924 auf diesen Vorwürf:

Man spricht häufig von der Republik ohne Republikaner. Es liegt leider umgekehrt: die Republikaner sind ohne Republik. Und es gibt keine Republik, weil es keine Linke gibt. Weil das große Moorgelände der »Mitte« alles aufsaugt. Weil man viel lieber »ausbalanciert« als kämpft. […] Wir deutschen Republikaner lieben unglücklicherweise etwas, was gar nicht da ist. Wir betreiben so eine Art politische Masturbation.6

Tatsächlich war die erste deutsche Republik unvollkommen. Der Staat verfolgte nicht nur die Feinde der Demokratie, sondern zum Teil auch ihre Freunde, wenn sie Militarismus und das Fortdauern monarchistischer Strukturen beklagten.7 Nicht nur linksradikale Politiker und Kritiker, sondern auch der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und der liberale Außenminister Walter Rathenau fielen den Kugeln des Rechtsterrorismus zum Opfer.8 Doch rechtfertigte dies die harsche Kritik, die das gesellschaftliche System erschütterte? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage gilt es zu berücksichtigen, dass die Geschichte der Weimarer Republik fast unweigerlich von ihrem Ende her gedacht wird. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten macht die Forschung zu dieser Epoche so wichtig, verführt aber unweigerlich dazu, alle Ereignisse als Vorgeschichte und Weg in die Diktatur zu begreifen. Wer wie der Satiriker Kurt Tucholsky vor 1933 die demokratischen Parteien und Institutionen mit scharfsinnigen und zugespitzten Argumenten angriff, konnte nicht wissen, dass seine Kritik nicht zu einer liberaleren und sozial gerechteren Republik führen würde. Es bleibt Spekulation, ob der Aufstieg der Nationalsozialisten durch eine größere Anzahl überzeugter und kämpferischer Republikaner zu verhindern gewesen wäre. Unklar ist in diesem Zusammenhang, wie eine stärkere Demokratie und Republikbegeisterung in der linken Intellektuellenszene die Republik hätte retten können.

Die Bundesrepublik hingegen überstand die Herausforderungen ihrer Gründungsphase und gilt als »geglückte Demokratie«,9 obgleich sich schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg antidemokratisch-rechte Publizisten der Weimarer Republik wieder etablieren konnten. Der Rathenau-Mörder Ernst von Salomon wurde 1951 mit seinem autobiographischen Roman »Der Fragebogen« zum Bestsellerautor.10 Rudolf Pechel, vor 1933 einer der profiliertesten intellektuellen Streiter gegen die Republik, gab seine Deutsche Rundschau wieder heraus, ohne auf seine Verantwortung für das Ende der Weimarer Republik einzugehen. Er wurde Präsident der Akademie für deutsche Sprache und Dichtung.11 Giselher Wirsing und Hans Zehrer, die in der Endphase der Weimarer Republik mit der Zeitschrift Die Tat die »totale Revolution« ausriefen und denen Carl von Ossietzky vorhielt, sie hätten damit »Hitler überhitlert«,12 waren zu Herausgebern der angesehenen Wochenzeitschrift Christ und Welt und der Tageszeitung Die Welt aufgestiegen.13 Der SS-Oberführer und linientreue Soziologie-Professor Reinhard Höhn war ab 1956 Leiter der Harzburger Akademie, in der er den Managern der deutschen Wirtschaft sein preußisch-militaristisches Führungsideal vermittelte.14 Die »Wegbereiter des Faschismus«, wie die rechten Feinde der Weimarer Republik einmal genannt wurden,15 hatten sich in der neuen Gesellschaft eingerichtet und mit der Demokratie arrangiert. Es blieb ihnen kein anderer Weg übrig; das Schweigen über die eigene Vergangenheit wurde durch das Reden in der neu geschaffenen Bundesrepublik überdeckt.

Den linken Intellektuellen fiel die Integration in der Bundesrepublik schwerer. Prominente Figuren wie Albert Einstein oder Heinrich Mann blieben im Exil. Die Gruppe 47 um Hans Werner Richter, die eine Reihe linker Schriftsteller der 45er-Generation umfasste, brauchte einige Zeit, um ihre Staatsskepsis zu überwinden.16 Erst im Laufe der Jahre arrangierten sie sich mit einer Republik, die ihnen zunächst so ungeliebt war wie ihren Vorgängern jene von Weimar. Doch während gerade für die Stabilisierungsphase der Zwischenkriegszeit eine intellektuelle Radikalisierung der Weltbühne diagnostiziert wurde, fehlen vergleichbare Effekte für linksintellektuelle Zirkel in der Bundesrepublik.

Warum arrangierten sich linke Intellektuelle mit der Bundesrepublik, während die Weimarer Republik ihnen fremd geblieben war? Und warum lässt sich dieser Problemkomplex durch eine Kurt-Hiller-Biographie beantworten? Diese Arbeit ist keine Biographie in dem Sinne, dass sie die Genese eines individuellen Charakters, einer spezifischen Persönlichkeit untersucht. Hier stehen strukturelle Faktoren, die Ausgrenzungserfahrungen linker Intellektueller, ihre Staats- und Demokratieskepsis in der Weimarer Republik und ihr gewandeltes Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland im Mittelpunkt. Kurt Hiller dient dabei nur als prototypisches Beispiel, an dem die Verknüpfungen zwischen individuellem Erleben und politischem Denken untersucht werden. Staatsskepsis und Demokratiekritik deutscher Linksintellektueller im 20. Jahrhundert  – so die These  – speist sich unter anderem aus Diskriminierungserfahrungen. Hiller eignet sich dazu in besonderer Weise, weil sich in ihm mehrere Ausgrenzungsphänomene überlagern.17 Es geht dabei nicht darum, Demokratiekritik zu rechtfertigen oder zu entlasten. Vielmehr lässt sich erst durch die Einbeziehung der Ausgrenzungserfahrungen antidemokratisches Denken im hermeneutischen Sinne verstehen.

Eine klassische Biographie begänne mit Hillers Herkunft und Familie, vielleicht mit seiner Geburt am 17. August 1885 in der Berliner Wilhelmstraße 12.18 Es ließe sich über seine behütete Kindheit oder über seinen wohlhabenden Vater Hartwig Hiller berichten, der zusammen mit seinem Bruder um 1880 eine Krawattenfabrik eröffnet.19 Vater Hartwig starb, als Hiller zwölf Jahre alt war.20 Seine wichtigste Bezugsperson war von früher Kindheit an seine Mutter, mit der ihn »wirklich[e] Freundschaft«21 verband und die ihren Sohn auch noch als gestandenen Publizisten umsorgte. Mit Enttäuschung über die verpasste Juristenkarriere und bürgerlicher Skepsis beobachtete sie das unstete Leben ihres Sohnes als Feuilletonist und »Caféhaus-Literat«.22 Neben der prägenden Gestalt der Mutter müsste wohl auch die Großfamilie als Sozialisationsfaktor Erwähnung finden. Die Verbindung zur Familie Singer  – Hillers Mutter war eine geborene Singer  – ermöglichte dem jungen Karl den Kontak mit männlichen Vorbildern. Prägende Figur der Familie war hier Kurts Großonkel Paul Singer, der es bis zum Co-Vorsitzenden der Arbeiterpartei SPD gebracht hatte.23 Durch ihn lernte Kurt Hiller als kleiner Junge August Bebel und Wilhelm Liebknecht kennen.24 Auch die Schulzeit findet sich fast immer in den ersten Kapiteln einer Biographie. Hiller umging den üblichen Besuch der vierjährigen Vorschule. Da seine Eltern vermögend waren, verbrachte er seine ersten Jahre in den »sozial abgeschotteten« Vorbereitungsklassen eines humanistischen Gymnasiums.25 Im Oktober 1891 wurde Hiller in die dritte Vorschulklasse des Askanischen Gymnasiums in der Halleschen Straße in Berlin eingeschult,26 auf dem er Latein und Griechisch lernte  – seine späteren Eintrittsbillets in die Welt der literarischen Cafés und Dichter.

Doch was bedeutet dies für sein späteres Leben? Lassen sich aus Hillers Familiensituation, dem Verhältnis zu seiner Mutter oder unterhaltsamen Episoden aus seiner Schulzeit Erkenntnisse für sein Handeln als Intellektueller gewinnen? Viele dieser Details besitzen nur einen geringen Erklärungswert für die Untersuchungsperspektive. Außerdem fehlen  – wie so oft  – umfangreiche Quellen aus der Kindheit und Jugend des Protagonisten, wodurch psychologische Ansätze, mit denen sich die Karriere des Erwachsenen aus frühen Prägungen deuten ließe, nicht anwendbar sind.27 Hillers Korrespondenzsammlung wurde durch die SS im Jahr 1933 fast vollständig vernichtet, und erst für die Zeit ab 1934 verdichtet sich das Material im Nachlass. Über seine Kindheit und sein privates Leben vor 1933 ist relativ wenig überliefert, und die Historiker greifen fast zwangsläufig auf die Angaben in seiner Autobiographie zurück.28

Diese Studie untersucht den Einfluss von Anti-Intellektualismus, Antisemitismus und Homophobie auf Hillers politisches Denken und erklärt, wie Hiller seine Denkmodelle und Argumentationsformen als Reaktion auf die Diskriminierungserfahrungen seiner Zeit formulierte. Zugespitzt bedeutet dies: Wer wie Hiller die Weimarer Republik auch als einen Ort eines permanenten Antisemitismus, der Homophobie und der Gerichtsprozesse gegen linke Kritiker erlebte, für den gab es nichts zu verteidigen, sondern nur eine bessere, eine echte Republik zu erkämpfen. Dazu ist es notwendig, sich auf jene Zeiten zu konzentrieren, in denen Hiller als öffentlicher Kritiker im weitesten Sinne »eingreifendes Denken«29 praktizierte und über die daher auch ausreichend Dokumente vorliegen. Einer größeren Öffentlichkeit wurde Hiller erst ab 1909 bekannt, als er mit Freunden den Neuen Club gründete. Diese Literatenvereinigung gilt als Ursprung des literarischen Expressionismus, zu dem Hiller vor allem als Organisator beitrug. Darüber hinaus war Hiller seit der Veröffentlichung seiner Promotion 1908 mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) des Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld verbunden und stritt fortan für die Rechte Homosexueller. Mitte der 1920er Jahre war er zweiter Vorsitzender des WhK. 1921 trat er der Deutschen Friedengesellschaft (DFG) bei und stieg bis in den Vorstand auf. Er war einer der Führer ihres linken Flügels, wurde aber 1930 auf Betreiben des neuen Vorsitzenden Fritz Küster aus der DFG ausgeschlossen. Seine Bekanntheit verdankt auch Hiller seinen zahlreichen politischen Zeitkommentaren, die zwischen 1924 und 1933 in fast jeder Nummer der Zeitschrift Weltbühne erschienen. Neben den Herausgebern Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky war er einer der aktivsten Autoren. 1933 wurde er mehrfach von den Nationalsozialisten verhaftet; erst nach seiner Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern entschloss er sich zur Flucht nach Prag. Dort berichtete er als einer der Ersten von den Zuständen in der Haft. Vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei reiste Hiller Anfang 1939 nach England, wo er wenig publizierte, da er schlecht Englisch sprach und keine Verleger für seine deutschen Artikel fand. Zudem war er in dieser Zeit mit seiner Arbeit als Zuträger des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 beschäftigt. In den 1950er Jahren erreichte er durch Radiobeiträge und Artikel in den Wochenschriften konkret oder Die Andere Zeitung einige Bekanntheit in unabhängigen linken Zirkeln, bevor er in den 1960er Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand.

Methodik und Begriffe

Biographie als Strukturanalyse

Es geht es in dieser Studie zwar um Kurt Hiller, doch viele der Einsichten ließen sich wohl auch durch den Blick auf andere Protagonisten gewinnen. Hiller rechtfertigt sich in diesem Ansatz als biographisches Subjekt nicht aus sich selbst heraus oder aus seiner Relevanz in einer Epoche, sondern aus seiner Repräsentativität für eine strukturgeschichtliche Forschungsfrage. Um die Rolle der Linksintellektuellen beim Untergang der Weimarer Republik und ihre veränderte Stellung in der Bundesrepublik nach 1945 zu untersuchen, bietet sich Kurt Hiller als inzwischen wenig bekannter Intellektueller an: Er erlebte sowohl die Weimarer Republik als auch die Bundesrepublik, es ist ausreichend Quellenmaterial für die Analyse vorhanden und es gibt nur eine begrenzte biographische Forschung über ihn. Die Analyse einer umfangreichen Rezeptionsgeschichte oder großer Kontroversen um seine Person sind somit nicht notwendig.

Ein individualbiographischer Ansatz ist ungewöhnlich, um allgemeine historische Fragen zu beantworten. Prosopographische oder diskursanalytische Zugänge wären ebenso möglich. Hier sollen jedoch die ganz individuellen Erfahrungen Hillers ergründet und die Verknüpfungen verschiedener Ausgrenzungsphänomene sichtbar gemacht werden. Dies lässt sich besser durch die Konzentration auf eine einzelne Person gewährleisten. Die hier aufgezeigten Zusammenhänge treffen in modifizierter Form auch auf das Leben anderer Intellektueller zu. Die Allgemeingültigkeit der herausgearbeiteten Mechanismen kann durch weitere Studien validiert werden. Qualitativer Forschung liegt immer das Prinzip zugrunde, dass sie Erklärungsmodelle für die komplexe soziale Realität liefert, die nur so lange gelten, bis sie durch bessere ersetzt werden. Das gilt für Einzelbiographien ebenso wie für kollektivbiographische oder diskursanalytische Studien.30

Zugleich nimmt diese Studie, auch wenn sie sich vornehmlich für die Rolle der Linksintellektuellen in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik interessiert, die gesamte Lebenszeit Kurt Hillers von 1885 bis 1972 in den Blick. Erst dieser Zugang erlaubt es, einen Vergleich zu ziehen und die Erfahrungen aus den anderen Epochen zu berücksichtigen. So war das Verhältnis zwischen den linken Intellektuellen und der neu geschaffenen Republik nach 1918 auch deshalb so schwierig, weil nach den Erfahrungen im Kaiserreich die Revolution eine kulturelle Liberalisierung erwarten ließ, die in einigen Fragen mäßig ausfiel. Für die Staatstreue der Intellektuellen in der Bundesrepublik hingegen gibt es eine Reihe von Faktoren, die erst im Vergleich mit der Weimarer Republik und unter Berücksichtigung des Exils deutlich werden.

Methodisch folgt die Studie trotz ihres strukturanalytischen Ansatzes den Prinzipien der Hermeneutik.31 Sie versucht die Briefe und veröffentlichten Schriften Hillers zu verstehen und aus ihnen sowohl sein politisches Denken als auch seine Diskriminierungserfahrung zu nachzuzeichnen. Es entsteht dabei ein sehr spezifisches Bild von Kurt Hiller, weil die Untersuchung den Protagonisten als Sonde einer Strukturanalyse nutzt und auf spezifische Fragen fokussiert. Historische Erkenntnis funktioniert, wie Karl Popper herausgestellt hat, wie ein »Scheinwerfer«, der je nach Lage, Ausrichtung, Intensität und Farbe andere Aspekte oder die Dinge selbst in anderem Licht zum Vorschein bringt.32 Wenn in dieser Arbeit von Strukturanalyse die Rede ist, so geht es nicht um eine Strukturgeschichte als frühe Form der Gesellschaftsgeschichte, die Wirtschaft, Politik und soziale Ungleichheit über die Zeiten hinweg in Kontinuität und Wandel thematisiert.33 Auch versteht sich Struktur hier nicht im Sinne der Schule der Annales und Fernand Braudels, welcher in einer »histoire total« von der Geographie über das Klima bis zu den kulturellen und ökonomischen Bedingungen Strukturen erfassen will und in diesem Panorama die Geschichte politischer Ereignisse und menschlicher Handlungen auflöst.34 In dieser Arbeit richtet sich der Poppersche Scheinwerfer auf die kulturelle und strukturelle Gewalt jener Zeit: Zugleich sollen auch die Wechselwirkungen zwischen Diskriminierungsstrukturen und Hillerschem Denken untersucht werden. Mit seiner Demokratiekritik und seinem aggressiv polemischen Stil praktizierte auch Hiller Ausgrenzung und war letztlich selbst Träger jener politischen Kultur, unter der er litt. Erst durch eine Kontextualisierung wird Hillers Handeln und Denken verstehbar. Mit dem Fokus auf Hillers persönlichem Erleben setzt diese Arbeit einen anderen ideengeschichtlichen Schwerpunkt als die »Cambridge School«, die unter dem Kontext der Ideen die »political language« und die sprachlichen Konventionen der Zeit versteht.35

Die untersuchten Ereignisse und Situationen ließen sich freilich immer durch mindestens drei verschiedene Aspekte erklären: Person, Situation und Kultur. Hiller war jemand, der provozierte und selbst beleidigte. Konflikte resultierten aus seinem Auftreten und können auf seinen Charakter zurückgeführt werden. Es ließe sich daher auch ein Buch über den »Stänkerer«36 Kurt Hiller schreiben, doch dies wäre eine andere Arbeit. Außerdem verursachten spezifische Situationen die Eskalation von Konflikten, riefen gewaltsame, verletzende Sprechakte hervor. Personale und situative Einflüsse werden in dieser Arbeit mitberücksichtigt, der Schwerpunkt und das Erkenntnisinteresse liegen aber auf der Kultur oder vielmehr Gewalt einer Epoche.

Ebenen der Gewalt

Gewalt lässt sich nach Peter Imbusch grundlegend in direkte (physische und psychische), institutionelle, strukturelle und kulturelle Formen differenzieren.37

Direkte physische Gewalt ist »kulturell voraussetzungslos und universell wirksam«, sie »hinterlässt immer offen sichtbare Schädigungen oder Verletzungen«.38 Solche Gewalt hat Hiller als Häftling verschiedener Konzentrationslager in den Jahren 1933 und 1934 erlebt; von den Brutalitäten des Ersten und Zweiten Weltkriegs blieb er verschont.

Psychische Gewalt ist schwerer zu fassen, weil sie »im Verborgenen wirkt«39 und auf ein »(wie auch immer eingeengtes) Mitspielen des Opfers«40 angewiesen ist. Eine Beleidigung funktioniert  – so Nunner-Winkler  – eben nur, wenn das angerufene Subjekt sie auch als solche anerkennt.41 Unter psychischer Gewalt wird hier aber auch »hate speech« verstanden, die auf illokutionären Sprechakten basiert.42 Diese Sprechakte, die zugleich Handlungsmacht besitzen, können nach Judith Butler niemals isoliert verstanden werden, sondern nur als Iteration, als Wiederaufrufung früherer Sprechakte, der man sich als Individuum gerade nicht einfach durch Ignorieren entziehen kann. Hasserfüllte sprachliche Äußerungen rufen »ein strukturelles Herrschaftsverhältnis wieder auf bzw. schreib[en] es ein und biete[en] damit die Möglichkeit, diese strukturelle Herrschaft zu rekonstruieren«.43 Wenn Hiller etwa als »Literaturjude« bezeichnet wurde, war dieser einzelne Sprechakt eingebunden in eine endlose Reihe anderer Äußerungen, in einen Diskurs, der schreibende »Juden« als Zerstörer »deutscher« Literatur, als minderwertig beschrieb.

Als »Prototyp institutioneller Gewalt« sieht Imbusch das Hoheitshandeln des modernen Staates, welches dauerhafte Unterwerfungs- und Abhängigkeitsverhältnisse herstellt. Es geht dabei um eine »›durch physische Sanktionen abgestützte Verfügungsmacht‹« in Hierarchien.44 Der Begriff der institutionellen Gewalt überschneidet sich dabei mit dem der strukturellen und kann hier synonym verstanden werden. Das Konzept der strukturellen Gewalt nach Johan Galtung beschreibt eine indirekte Gewalt, die sich einer einfachen Subjekt-Objekt-Perspektive entzieht und in ungleichen Machtpositionen in der Gesellschaft begründet liegt.45 »Gewalt liegt immer dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.«46 Dies ist ein sehr weiter Gewaltbegriff, den Galtung selbst spezifiziert hat. Nur »wenn das Potentielle größer ist als das Aktuelle und das Aktuelle vermeidbar, dann liegt Gewalt vor.«47 Der Vorteil in Galtungs Ansatz liegt gerade darin, strukturelle Ausgrenzungsphänomene mit Vorkommnissen physischer und psychischer Gewalt zusammenzudenken. Die Weimarer Republik etwa gilt im Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland als eine Demokratie mit hoher physischer Gewalt,48 doch wie sich in der Analyse von Hillers Leben zeigen wird, war der entscheidende Unterschied die veränderte strukturelle und kulturelle Gewalt.

Unter kultureller Gewalt werden jene Diskurse verstanden, die strukturelle und direkte Gewalt legitimieren.49 Zugleich können die sprachlichen Begründungen der Gewalt auch selbst als psychische Gewalt wirken; eine ideologische Rechtfertigung antisemitischer Angriffe ist oft selbst ein sprachlicher, antisemitischer Gewaltakt.

Diese Differenzierungen erfolgen anhand nachträglicher Kategorien. Hiller selbst hat viele Ausgrenzungsformen anders erlebt. In seiner Zeit als Expressionist etwa gehörten aggressive, aus heutiger Sicht beleidigende Umgangsformen zum literarischen Stil. Antisemitismus will Hiller in seiner Jugend kaum erlebt haben, was stimmen mag, berücksichtigt man, wie viel weniger sensibilisiert er für dieses Phänomen vor 1933 gewesen war. Wie Hiller selbst die Gewalt erfuhr, soll hier anhand der klassischen Kategorien der Ungleichheitsforschung (class, race, gender)50 untersucht werden.

Dabei wird angenommen, dass Intellektuelle aufgrund ihres ähnlichen kulturellen und sozialen Kapitals wie Angehörige einer durch ökonomische Kriterien definierten Klasse gemeinsame Ausgrenzungserfahrungen machten. Die Kritik an der Demokratie als Herrschaft einer unfähigen Mehrheit erwuchs auch als Reaktion auf das Handeln politischer Verantwortungsträger und die Einflusslosigkeit der Intellektuellen. Anti-intellektuelle Einstellungen in den Parteien waren Voraussetzung für eine pejorative Bedeutung des Begriffs »Intellektueller« oder die Disziplinierung der Presse, die in den Prozessen gegen publizistische Landesverräter in den 1920er Jahren deutlich wurde.51

Hillers Engagement für die Homosexuellen ist nur zu verstehen, wenn die strukturelle Gewalt durch die Rechtspraxis des Paragraphen 175 Strafgesetzbuch, der Homosexualität unter Strafe stellte, berücksichtigt wird. Die weit verbreitete Homophobie ermöglichte erst die Diskriminierung von Schwulen und die Beibehaltung der juristischen Verfolgungen. Über seine homosexuelle Veranlagung hat Hiller öffentlich kaum gesprochen. Erst mit seiner postum veröffentlichten Autobiographie »outete« er sich. Aus historischer Perspektive ist dies aber unerheblich, es ist gesichert, dass er Beziehungen zu Männern unterhielt und die Ausgrenzungen der Schwulen auch auf sich persönlich bezog. Was unter »schwul« oder »homosexuell« genau verstanden wurde, wandelte sich mit der Zeit und wird daher in den einzelnen Kapiteln thematisiert.

Als Jude hat sich Hiller hingegen nur selten gesehen, er wurde eher durch den Rassismus der Gesellschaft in diese Identitätskategorie gedrängt. So konnte Hiller etwa nur Mitglied einer »jüdischen« Studentenverbindung wie der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung werden.52 In dieser Arbeit wird Hiller allerdings konsequent als das bezeichnet, was er für sich selbst in Anspruch nahm: als Deutscher oder Weltbürger. Damit soll keinesfalls ignoriert werden, dass Hiller aus einer Familie kam, die Vorfahren jüdischen Glaubens besaß. Doch nur wenn man »jüdisch« in einem vererbungsbiologischen Sinne versteht, spielt die familiäre Abstammung grundsätzlich eine Rolle. Hiller hat sich gegen solche Zuschreibungen des Jüdischen gewehrt, sie dennoch vorzunehmen muss als eine subtile Form des Antisemitismus gesehen werden.53 Unter den Schlagworten Rasse oder Ethnie wird hier analysiert, welchen Zuschreibungen des Jüdischen Hiller unterlag und welcher »race-talk«54 ihn umgab. Ethnie oder Rasse ist etwas, das subjektiv Sinn stiftet, situativ aufgerufen wird und nur als solch eine Praktik untersucht werden kann.55

Mit den drei Kategorien ähnelt diese Untersuchung auch dem Ansatz der Intersektionalitätsforschung, die ursprünglich aus feministischer Perspektive Ungleichheiten analysierte. Die Arten der Diskriminierung müssen danach nicht nur auf den Ebenen »class«, »race«, »gender«, sondern auch gerade in ihren Verknüpfungen untersucht und um weitere Aspekte wie »bodyism«  – die Ausgrenzung aufgrund körperlicher Unterschiede  – oder »age« erweitert werden.56 Die Beschränkung in dieser Studie auf die klassischen drei Kategorien rechtfertigt sich aus seinen Artikeln und Büchern, in denen die Rolle der Intellektuellen, Homosexuellen und Juden in der Gesellschaft diskutiert wird. Auch in den unveröffentlichten Schriften Hillers sind diese Themen prominent vertreten. Zwar zeichnet Hiller von sich auch das Bild eines »verweichlichten« Mannes, der dieses mit Sport zu bekämpfen sucht. Doch, wie später erläutert wird, geht es hier nicht um »bodyism«, sondern eher um Stereotype hegemonialer Männlichkeit, denen Hiller zu entsprechen suchte. Das schematische Modell wird in den einzelnen Kapiteln dadurch aufgebrochen, dass die Überschneidungen zwischen Diskriminierungskategorien untersucht werden. Gabriele Winker und Nina Degele schlagen zudem die Berücksichtigung von drei Ebenen vor: Struktur, Repräsentation und Identität.57 Struktur meint dabei etwa die Grundbedingungen in einer Gesellschaft und entspricht der institutionellen oder strukturellen Gewalt im Sinne Galtungs. Repräsentation ähnelt dem Begriff der kulturellen Gewalt in dem hier zugrunde liegenden Modell. Mit Identität soll untersucht werden, wie sich das Individuum selbst zu den Ausgrenzungsmechanismen verhält und sein Selbst in Abgrenzung von anderen Identitäten generiert.

Dazu werden erstens die Hillersche Publizistik und sein Handeln als Intellektueller analysiert. Die Untersuchung konzentriert sich auf die für Hiller zentralen Themen Demokratie- und Parteienkritik, politische Philosophie, Justiz und Homosexualität. Als Quellen dienen hierfür seine unzähligen Artikel, Bücher und zum Teil auch die Briefe, mit denen er innerhalb seines Freundes- und Bekanntenkreises politisch Einfluss zu nehmen suchte. Weder Artikel noch Briefe sind bisher vollständig bibliographisch erfasst, aber es sind solide Vorarbeiten durch die Kurt Hiller Gesellschaft geleist worden.58 Für den Zeitraum von 1885 bis 1933 nutze ich die Schriften Hillers, Protokolle von Sitzungen, gegen ihn gerichtete Artikel sowie Briefe mit retrospektiven Erzählungen. Ab 1934 lässt sich Hillers Leben zusätzlich mittels seiner Briefe rekonstruieren. Allein der Nachlass, den die Kurt Hiller Gesellschaft verwaltet, umfasst ca. 30.000 Briefe. Hinzu kommen Briefe in der Staatsbibliothek zu Berlin, dem Archiv der Akademie der Künste Berlin, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, dem Archiv der sozialen Demokratie, im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, im Deutschen Literaturarchiv Marbach, in der Bayerischen Staatsbibliothek und der Monacensia München sowie der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Weitere Unterlagen finden sich im Bundesarchiv und in den British National Archives. Die in London befindlichen Akten des Security Service wurden dabei erstmalig ausgewertet und erlauben eine neue Perspektive auf den staatskritischen Intellektuellen. Hillers außerhalb des Nachlasses befindlichen Briefe wurden  – soweit bekannt  – fast vollständig durchgesehen, im Nachlass selbst, der vornehmlich Briefe an Hiller enthält, erfolgte eine Konzentration auf die Briefwechsel mit Familienangehörigen und engen Freunden wie Walter Schultz. Weitere Briefwechsel wurden hinzugezogen, wenn sich durch Querverweise Anhaltspunkte für die Themen Diskriminierungserfahrung oder antidemokratisches Denken ergaben. Ein systematisches Vorgehen war erschwert, da der Nachlass bisher nur nach wenigen formalen Kriterien geordnet, nicht aber inhaltlich erschlossen ist.

Links- und Rechtsintellektuelle

Diese Arbeit konzentriert sich auf die Rolle der Linksintellektuellen und hat damit ein methodisches Problem zu lösen. Der Intellektuelle  – hier verstanden im Sinne Bourdieus  – ist ein »bidimensionales Wesen«. Es muss einerseits »einer intellektuell autonomen, d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt angehören« und andererseits »in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes im eigentlichen Sinne stattfindet, seine spezifische Autorität und Kompetenz einbringen«.59 Politische Festlegungen auf Parteien oder Weltanschauungen hingegen sind in dieser Rolle nicht vorgesehen.60 Hiller selbst sprach einmal von den »linke[n] Leuten von rechts« und machte damit klar, dass Intellektuelle die Grenzen ihres Milieus überschreiten und die vorherrschenden Etikettierungen nur sehr unscharf die Ideenwelt der 1920er Jahre beschrieben.61 Ursprünglich war geplant, auf Zuschreibungen wie »links« und »rechts« in dieser Arbeit zu verzichten, was sich jedoch nicht als realisierbar erwies. Solche idealtypischen Konzepte sind notwendig, um die komplexe soziale Realität zu vereinfachen und dadurch greifbar zu machen. Auf diese politischen Ordnungsbegriffe lässt sich nur verzichten, wenn man sie durch andere, präzisere ersetzt.62 Doch passendere Alternativen sind kaum vorhanden. Hiller selbst ließe sich zwar als Linkssozialist präziser bezeichnen, doch seine Erfahrungswelt teilt er mit kommunistischen Intellektuellen wie Willi Münzenberg oder Liberalen wie Carl von Ossietzky. Auch schrieb er nicht nur über die »linken Leute von rechts«, sondern suchte »Sozialisten und Kommunisten (und was dazwischen schwirrt[e] und darüber und ringsumher) zu einer roten Einheit zu ballen«.63 Diese Literaten und Künstler als Linksintellektuelle zu bezeichnen, nur weil sie der SPD oder KPD nahestanden, griffe zu kurz. Was ihr Linkssein ausmacht und wie sich das intellektuelle Milieu begrifflich sauber differenzieren lässt, darüber herrscht noch immer Unklarheit. Folgende Aspekte sprechen dafür, diese Künstler als Linksintellektuelle zu betrachten:

  1. Die Künstler bezeichneten sich selbst als links. Hiller verstand sich als Linkssozialist, obgleich er in manchen Punkten der politischen Rechten mit ihren »Ordnungen der Ungleichheit« näherstand.64
  2. Anknüpfend an dieses Diktum Stefan Breuers ließen sich die linken Publizisten anhand ihres Eintretens für die Gleichheit von Männern und Frauen, die Abschaffung der Paragraphen 175 und 218 und soziale Gerechtigkeit als Vertreter einer »Ordnung der Gleichheit« definieren.
  3. Kennzeichnend ist ein Bekenntnis zu Pazifismus oder Antimilitarismus.
  4. Typisch ist, dass diese Gruppe der Intellektuellen sich dem Argument und der Debatte verpflichtet fühlte und sich damit gegen anti-rationalistische, lebensphilosophische Konzepte der Neuen Rechten oder des Ästhetischen Fundamentalismus wandte.

Trotz aller Schwierigkeiten wird also mit dem hier definierten Begriff des Linksintellektuellen gearbeitet. Zugleich werden aber Querverbindungen zu anderen Ideenströmungen aufgezeigt und die linksintellektuelle Perspektive  – wo notwendig  – durchbrochen. So lässt sich Hiller zum Anfang der 1920er Jahre kaum politisch verorten. Erst mit dem Beginn seines Engagements in der Friedensbewegung und seinen ersten Artikeln in der Weltbühne wird er als Linker erkennbar. Im englischen Exil wiederum grenzt er sich vor allem gegen die Kommunisten ab. Trotz aller Verbindungen zur den sozialdemokratischen und linkssozialistischen Organisationen agiert Hiller in dieser Zeit vor allem als Antikommunist und weniger als Intellektueller. In der Bundesrepublik hingegen wird er nicht nur zum Nestor junger Linker, sondern setzt sein Engagement für die Rechte der Homosexuellen fort und nähert sich der SPD an.

Demokratisches und antidemokratisches Denken und Handeln

Schwierig gestaltet sich ebenfalls der Umgang mit den Begriffen »Demokratiekritik« oder »antidemokratisches Denken«. Der Begriff »Demokratie« wurde von vielen verschiedenen politischen Kräften genutzt. Was die sozialistischen Staaten für sich als »Volksdemokratie« reklamierten, galt westlich des Eisernen Vorhangs als »totalitäre Diktatur«. Die »westlichen Demokratien« wiederum waren unter sozialistischer Perspektive »kapitalistische Scheindemokratien«, die durch die Massenmedien ihre Bürger manipulierten und die Herrschaft des »Kapitals« oder der »Bourgeoisie« verschleierten.65 Daher ist eine genaue begriffliche Festlegung unumgänglich. Demokratie meint hier das, was in der Politikwissenschaft als »demokratischer Verfassungsstaat« bezeichnet wird, und fasst zwei verschiedene Aspekte zusammen: Zum einen werden in demokratischen Staaten die Interessen des Volkes durch Repräsentation in einem Parlament und zum Teil auch ergänzend durch plebiszitäre Elemente im Regierungshandeln umgesetzt. Ausschließlich plebiszitäre Demokratien gibt es in der Moderne nicht. Zum anderen sind diese Demokratien als Verfassungsstaaten an ein Normengebilde von individuellen Grund- und Menschenrechten gebunden, die den Volkswillen einschränken.66 Sich allein auf »antiparlamentarisches Denken« zu beschränken, umgeht zwar die »schillernde Ambivalenz des Demokratiebegriffs«,67 beschränkt aber unnötig die Perspektive auf das Parlament als Ort der Aushandlung gesellschaftlicher Kompromisse und degradiert Demokratie zu einem leblosen Formalismus.

In dieser Untersuchung versteht sich Antidemokratismus auch als politischer Extremismus. Als Extremismus definiert die Rechtsprechung Bestrebungen, die sich »gegen jenen Kernbestand unserer Staatsverfassung richten, den wir ›freiheitlich demokratische Grundordnung‹ nennen«.68 Diesem Ansatz ist Kurt Sontheimer in seinem Werk über das (rechte) antidemokratische Denken in der Weimarer Republik gefolgt. Er legt in seinem Werk die »Übereinstimmung in den Grundprinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung« als Maßstab zugrunde.69 Auch dieser Ansatz wirft mehrere Fragen auf:

  1. Zum einen ist dieses Kriterium ein spezifisch deutsches. Es ist anwendbar für die Analyse der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik Deutschland. In Großbritannien gibt es bis heute keine geschriebene Verfassung. Antidemokratisches Denken wäre in einer konstitutionellen Monarchie demzufolge zumindest begrifflich anders zu fassen.
  2. Schwerwiegender als der erstgenannte Aspekt ist, dass auch demokratische Verfassungsstaaten verfassungsmäßig verankerte Demokratiedefizite aufweisen können. Die Verfassung der Weimarer Republik besaß aus bundesdeutscher Perspektive erhebliche Probleme, unter anderem die starke Stellung des Reichspräsidenten oder die Möglichkeit der Notverordnungen. Auch zeitgenössische Kritik an der Allmachtstellung des Reichspräsidenten kann folglich nicht einfach als antidemokratisch beschrieben werden. Noch schwieriger ist dies allerdings für die existierende verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Auch die demokratischen Verfassungsstaaten westlichen Musters werden nicht das »Ende der Geschichte« sein. Sontheimer griff dieses Problem in der zweiten Auflage seines Buches über das antidemokratische Denken in der Weimarer Republik auf. Er verwies auf das »Beispiel der außerparlamentarischen Opposition«, das zeige, wie schwierig es sei, »Freunde und Feinde der Demokratie, Demokraten und Anti-Demokraten scharf voneinander zu trennen, sobald die Demokratie durch ihre offiziellen Repräsentanten selbst in Misskredit gerät […]«.70
  3. Für die Weimarer Republik ergibt sich ein weiteres Problem. Auf den Trümmern der ersten deutschen Demokratie wurde nicht nur eine Diktatur errichtet, sondern die Diktatur der Nationalsozialisten, die in die Shoah mündete. Es muss daher auch zwischen antidemokratischem Denken und völkischen, rassistischen Formen dieses Denkens unterschieden werden, die nicht nur die Diktatur, sondern auch den Völkermord ideologisch vorbereiteten.71

Es geht bei diesen Begriffen nicht um die Einordnung der Intellektuellen in ein binäres Schema Demokrat vs. Antidemokrat oder  – wie es in der Forschung zur Weimarer Republik häufig formuliert wurde  – Vernunftrepublikaner vs. Antirepublikaner. Dies kann nur eine grobe Heuristik sein, die den Untersuchungsbereich eingrenzt. In dieser Analyse soll vielmehr die politische Rolle der Intellektuellen im zeitgenössischen Wertefundament untersucht werden. Welchen Einfluss hatten Intellektuelle im öffentlichen Raum? An welcher Stelle war ihre Kritik systemgefährdend oder doch eher Teil einer demokratischen Kultur? Es geht um Funktionsmechanismen, nicht um Wertungen. Erst zum Ende der Arbeit soll dann in der Bilanz untersucht werden, an welcher Stelle die intellektuelle Kritik zwar die Wertfundamente ihrer Zeit angriff, aber dies zu Gunsten einer aus heutiger Sicht notwendigen fundamentalen Liberalisierung der Gesellschaft tat, wo sie sich im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung bewegte oder diese infrage stellte.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass demokratische oder antidemokratische Haltungen nicht nur im Diskurs, sondern auch im Handeln wirksam werden. Die Ideen- und Intellektuellengeschichte, aber auch die politische Theorie widmet sich in der Regel der Makroebene, der Frage, wie die Staats- und Gesellschaftsform Demokratie gesehen wurde, welche Einstellungen zu Wahlen, Mehrheitsentscheidungen und Grundrechten vorlagen.72 Dieser Aspekt ist auch bei Hiller weitgehend erforscht und seine antidemokratische Grundhaltung auf dieser Ebene unstrittig.73 Meine Arbeit versucht hingegen, im Sinne einer umfassenden Bewertung nicht nur belastende, sondern auch entlastende Argumente, nicht nur den demokratiefeindlichen Autor, sondern auch den engagierten Demokraten Hiller in den Blick zu nehmen. Denn dazu ist deutlich weniger bekannt als zu Hillers staatssfeindlichen Polemiken. Hiller  – und dies muss zu seinen Gunsten berücksichtigt werden  – engagierte sich lebenslang in Gruppen, die für Frieden oder die Gleichstellung sexueller Minderheiten eintraten und damit Demokratie beförderten. Zudem blickt diese Arbeit auch auf die alltäglichen Lebensentscheidungen Hillers und fragt, inwieweit diese von demokratischen Grundüberzeugungen wie etwa der Gleichberechtigung der Geschlechter, Meinungspluralismus oder der Unterordnung unter Mehrheitsentscheidungen, die Hiller etwa in seinen Zirkeln der Intellektuellen auch praktiziert, geprägt waren.

Forschungsstand

Linksintellektuelle Demokratiekritik
in Weimarer und Bonner Republik

Die Linksintellektuellen der Weimarer Republik wurden immer auch unter der Perspektive der Demokratiekritik untersucht. Denn es steht, wie Karl Dietrich Erdmann formulierte, »alle Forschung zur Geschichte der Weimarer Republik […] mit Notwendigkeit  – ausgesprochen oder unausgesprochen  – unter der Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs«.74 »Totengräber« oder »Republikaner ohne Republik«  – so lauten die zwei zentralen Deutungsmuster über die Rolle der Linksintellektuellen. Riccardo Bavaj spricht von einem »tödlichen Klammergriff«75 von linker und rechter Demokratiekritik, und auch Ursula Büttner ist der Ansicht, linke und liberale Intellektuelle hätten mit »oft gehässig überzogener Kritik« agiert. »Ungewollt trugen sie damit zur Schwächung der Republik bei und arbeiteten ihren rechten Gegnern in die Hände.«76 Zwar weist auch Walter Laqueur auf die »internen Konflikte« und den Kampf zwischen den Intellektuellen aller Fronten hin,77 jedoch sieht er die Linksintellektuellen als weitgehend einflusslos an: »Das Ergebnis wäre wahrscheinlich das gleiche gewesen, auch wenn die Linksintellektuellen weniger erbittert gewesen wären […].«78 Demgegenüber betont etwa Heinrich August Winkler, dass derartige Kritik an Autoren wie Kurt Tucholsky überzogen sei und ihre Rolle als Literaten berücksichtigt werden müsse.79 Gerade die Zeitschrift Die Weltbühne ist immer wieder auch als Beispiel demokratischer Tradition gewertet worden.80 In den letzten Jahren ist daneben eine weitere Perspektive eröffnet worden, die sich vom schematischen Links-rechts-Modell abwendet und Austauschdiskurse zwischen vermeintlichen Lagern in den Fokus nimmt.81 Der Blick richtet sich zunehmend auf die »Kultur einer Gemengelage«,82 auf »[u]northodoxe Sozialisten«,83 intellektuelle Positionswechsel über die Weimarer Republik hinaus84 und auch kritisch auf den »›Modus totaler Austauschbarkeit‹«.85 Dabei wird deutlich, dass insgesamt ein enorm aggressives politisches Klima herrschte, in dem nicht nur die physische Gewalt, sondern vor allem auch die »›Bürgerkriegshysterie‹« destabilisierend wirkte.86 Hieran anknüpfend wird Hiller als Teilnehmer eines verbalen Bürgerkrieges betrachtet, als Opfer und Täter sprachlicher und kultureller Gewaltakte. Zugleich wird gefragt, inwieweit er als Republikaner letztendlich für die Weimarer Demokratie kämpfte.

Derart klare Interpretationslinien, wie es sie für die Intellektuellengeschichte der Weimarer Republik gibt, fehlen für die Bundesrepublik. Das mag auch daran liegen, dass eine Differenzierung in linke und rechte Intellektuelle, wie sie analytisch für die Weimarer Republik noch angewendet wurde, für die Bundesrepublik große Schwierigkeiten aufweist. Zum einen ist der Begriff »rechts« durch den Nationalsozialismus politisch diskreditiert,87 und zum anderen ist »konservativ«, das zweite Schlagwort der Rechtsintellektuellen, als politischer Ordnungsbegriff für die Zeit nach 1918 weitgehend inhaltsleer.88 Eine klare Bewertung linksintellektueller Demokratiekritik lässt sich daher nicht ausmachen. Das Fortbestehen demokratieskeptischer Positionen hat zuletzt Axel Schildt für die 1950er Jahre diagnostiziert und zugleich darauf hingewiesen, dass diese aber auch von politisch unbelasteten Autoren und eben nicht zwingend in personeller Kontinuität zum Deutschen Reich vorgetragen wurden.89 Eines hatte sich im Vergleich zur Weimarer Republik jedoch gewandelt. Die Bundesrepublik wird rückblickend als eine diskutierende Gesellschaft gesehen, in der Lagerdenken der Weimarer Republik überwunden war.90 Dabei gelten die 1950er Jahren als intellektuell ruhiges Jahrzehnt, in dem es nur eine marginalisierte linksintellektuelle Opposition gab.91 Es scheint, als sei »der lange Weg nach Westen«, die »Liberalisierung« oder »Westernisierung«,92 auch durch den Verzicht auf intellektuelle Kritik in den 1950er Jahren unterstützt worden. Auch Christina von Hodenberg sieht nach dem Ende der konservativen, kurzen 1950er Jahre eine Demokratisierung der politischen Öffentlichkeit und ein Ende des Konsensjournalismus, der sich mit Kritik zu Gunsten »nationaler und antikommunistischer Geschlossenheit« zurückhielt und »sowohl die Traditionen wie auch das Personal der Vorkriegsmedien zu integrieren« suchte.93949596