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Jürg Halter
Wir fürchten das Ende der Musik

Gedichte

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Für sich

I

Welches Jahr schreiben wir und wozu?

Ideal

Wir stoßen weiter vor.

Mehr ist nicht genug.

Alles ist das Ziel.

Wir stoßen weiter vor.

Niemand zieht sich zurück,

es gibt nur Zurückgedrängte.

Wir stoßen weiter vor.

Eine Welt ohne Grenzen

können wir uns nicht vorstellen.

Verzicht bedeutet Pathos.

Wir rufen laut nach dem perfekten Tag,

vor dem wir uns im Stillen fürchten;

er hätte sich für immer zu wiederholen.

Jeden Abend würden wir ihn vergessen,

so weckte er uns jeden Morgen

gleich neu – Ideal.

Das erste Wort

Der Herbst liegt im Briefumschlag

auf meinen Knien.

Im Licht der tiefen Sonne

überquert ein Zug die Brücke.

Der Anfang oder das Ende

eines einfachen Films

übers Abschiednehmen.

Als wir wieder im Schatten fahren,

öffne ich den Umschlag;

darin das Foto eines Mannes im Wald,

sein Gesicht ist weiß übermalt,

in der Hand hält er einen Hut.

Vor wem hat er ihn gezogen?

Über das Foto sind fünf Fäden gespannt,

an denen bunte Papierblättchen

vorsichtig aufgezogen sind.

Auf der Rückseite steht geschrieben:

»für Dich, und die Blätter tanzen im Wind …«

Ich erinnere mich an die Zeit

vor der Rede,

als ich mit der Welt, die mich umgab,

im Einklang war,

bevor ich mich mit meinem ersten Wort

für immer von ihr trennte.

Was wir uns nicht alles gesagt haben.

Weiter nichts

Er wurde geboren, um zu lesen

in Büchern – mehr

gesteht ihm die Natur nicht zu.

Er wurde geboren, uns nicht zu begegnen,

außerhalb seiner vier Wände.

Eines Nachmittags bleibe ich

unter seinem Fenster stehen.

Vermutlich liegt er auf dem Bett und liest.