image

Svealena Kutschke

Etwas Kleines gut versiegeln

Svealena Kutschke

Etwas Kleines
gut versiegeln

Roman

image

Wenn ich auf das Meer schaute, schien der Horizont nie weit weg. Es war, als ob das Auge Himmel und Meer gewaltsam zusammenziehen würde. Wie eine Narbe sah der Horizont auf dem Wasser aus.

Schluss jetzt, wir sollten uns alle ausziehen und nackt auf die Straße laufen.

Warum dreht sich die Erde einmal pro Tag?

Ich hatte kalte Füße und nichts zu verlieren. Die Stewardess stellte einen Plastikbecher mit Rotwein auf das Tablett. Auf den Tragflächen lagen Eiskristalle und verliehen meinem wuchtigen Kokon etwas Fragiles.

Der Rotwein legte sich pelzig über meine Zunge. Ich hielt den ersten Schluck geraume Zeit am Gaumen. Er schien sich auf diese Art zu verdichten. Als ich ihn herunterschluckte, hatte er nichts Flüssiges mehr, er rutschte mir durch die Kehle wie etwas, das ich eigentlich hätte zerkauen müssen. Ich schloss die Augen. Ich sah B. Er lachte mich an, hatte Lippenstift an den Zähnen. Immer wenn ich die Augen schloss, sah ich B, als wäre er mir in die Innenseite der Lider tätowiert. Es knackte leise, bevor die Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher drang, auf die Einfuhr von Drogen in Kuala Lumpur stehe die Todesstrafe. Erst mit Verspätung begriff ich, dass auch ich gemeint sein könnte. Das Gramm Kokain, das ich seit Monaten in der Hosentasche mit mir herumtrug, war für mich zu einem Fossil geworden, zu einem winzigen versteinerten Seeigel. Ich warf es trotzdem lieber auf den Boden. Der Engländer neben mir wurde blass, aber das lag sicher nur daran, dass wir an Höhe verloren. Ich hatte mein Buch an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen: »Lebt die Freiheit?«, las ich dem Engländer vor, es nützte nichts.

»Wo kann man denn hier rauchen, bitte?« Eine Dame in knallroter Uniform schaute mich missbilligend an und winkte vage den langen Gang hinunter. Ich irrte eine halbe Stunde durch den Flughafen von Kuala Lumpur, bis ich eine kleine Glasbox fand, aus deren Ritzen Qualm drang. Ich öffnete die Einstiegsluke und tauchte ab. Wir standen uns alle gegenseitig auf den Füßen, nestelten an Streichhölzern und Feuerzeugen, ich wurde 26, Sudden Smith in meiner Hosentasche 14.

»Herzlichen Glückwunsch!«, flüsterte ich und streichelte seinen kleinen Holzkopf.

»Herzlichen Glückwunsch!«, flüsterte Sudden Smith zurück.

Trotz allem wurde ich ein bisschen blass vor Freude, grinste die Nebelgestalten im Kubus an, schmeckte selbst mein Husten rein und neu.

»Ein Dorf mit Ureinwohnern wurde für den Bau des Flughafens umgesiedelt«, raunte Sudden Smith. »85 Familien der Orang-Asli. Orang bedeutet Mensch, Asli bedeutet –«

»Wir gehen ja gleich«, seufzte ich.

Ich pulte die Verpackung vom Huhn, während der Engländer sich abgestorbene Hautreste von den Füßen kletzelte. Ich hatte gehofft, er würde in Kuala Lumpur aussteigen.

Preset von Console tröpfelte federleicht in meine Ohren. Der Engländer tippte mir mit spitzen Fingern auf die Schultern. Ich drehte mich um und beobachtete seine vehementen Mundbewegungen. Auch die Haut in seinem Gesicht schälte sich. Er musste im Solarium gewesen sein, um sich auf die Sonne Australiens vorzubereiten. Das Ergebnis war traurig. Es brauchte zurzeit nicht viel, um mich traurig zu machen, aber dieser müde Hautzipfel, der ihm am Mundwinkel hing, brach mir fast das Herz. Ich musste mich beherrschen, nicht daran zu zupfen. Widerwillig nahm ich die Kopfhörer ab.

»I know some German words«, grinste er. Der Hautfetzen an seinem Mund zitterte. »Heil Hitler, Komposthaufen, Autobahn, Bier, Ich liebe dich!«, ratterte er stolz herunter.

Ob er sich darauf die letzten 14 Stunden vorbereitet hatte?

»Interessante Mischung«, knirschte ich. »I know some English words: Baked Beans, Beer and Motherfucker.«

Den Rest des Fluges sprachen wir nicht mehr miteinander.

Die diffuse Enttäuschung, als der rosa-braun karierte Koffer mit all diesen Klamotten tatsächlich auf dem Laufband auftauchte. Bei der Einweihung des Flughafens von Kuala Lumpur 1998 soll das Gepäckfördersystem zusammengebrochen sein, und viele Gepäckstücke waren verloren gegangen. Ich war offensichtlich einige Jahre zu spät gekommen, mein Koffer war nicht verloren gegangen, er kam in Sydney an. Als er in Deutschland durchleuchtet worden war, hatte ich fast erwartet, Bs Portrait auf dem Monitor aufleuchten zu sehen, und war erleichtert gewesen, als sich nur die Umrisse der 6 Filmdosen abzeichneten.

Marc holte mich vom Flughafen ab. Mein Körper fühlte sich an wie in einen engen Beutel eingeschweißt. Mit verkrampften Bewegungen zog ich Bs Koffer hinter mir her und ging hölzern auf Marc zu. Sein Auto glänzte im Morgenlicht, als wollte es der Sonne den Rang streitig machen. Ich fand das nur angemessen. Marc war meine persönliche Supernova und ich tat ab jetzt gut daran, in seiner Nähe zu bleiben. Denn wenn Marc irgendwann erlosch, würde es gar nicht auffallen, wenn man zusammen mit diesem ganzen Sternenstaub auch mich aufkehrte. Es war so herrlich, Marc zu sehen, dass ich beim Versuch, ihn zu begrüßen, vor Begeisterung mit der Stirn gegen seine Nase schlug. Marc rieb sich die Nase und grinste so spöttisch, dass für einen Moment alles gut war. Auch der Wind legte sich ins Zeug. Mit Schmetterlingsflügeln legte er sich auf meine Haut, die von der Klimaanlage ganz ausgedörrt war.

Ich stellte Sudden Smith auf das Armaturenbrett, sein schwarz-weiß karierter, aufgemalter Anzug leuchtete in der Sonne.

»Hey, Sudden Smith«, sagte Marc. «Lebt ja noch, der alte Holzwurm.«

»Klar«, sagte ich. »Heute wird er 14 Jahre alt.«

»Gratuliere, Sudden Smith.«

»Ich werd heute 26.«

»Fuck, why didn’t you tell me?«

»Tu ich doch«, sagte ich.

»Gratuliere, Lisa.«

Dann schwiegen wir eine Weile. Große Bäume mit glatten marmorierten Stämmen säumten die Straße. Der Regen hatte ihre Rinde in dunkelrote Schattierungen getaucht.

»Wie war die Reise?«, fragte Marc und hielt an einer Ampel.

»Warum will man wissen, wo ich gestern war?«, zitierte ich Fischli & Weiss und starrte aus dem Fenster.

»Vergiss es, hab gar nicht gefragt.«

»Ich brauche Arbeit, Marc.«

Die Straßen wurden enger, die zweistöckigen Häuser mit den schmiedeeisernen Balkonen kauerten dicht zusammengedrängt unter den verknoteten Telefonleitungen. Vor allen Häusern standen Bäume, deren Äste in die Fenster hineinzuwachsen drohten. Ich stellte mir vor, wie ihre kräftigen Wurzeln von unten gegen das Fundament drückten, die Mauern eines Tages aushebeln würden. Ich dachte daran, wie B und ich betrunken auf einen Brückenbogen geklettert waren, um den Sonnenaufgang über den Gleisen zu erleben. Wir hatten oben gesessen, Wein aus der Flasche getrunken und eine zuckersüße Zigarette geraucht, während die Sonne schwer über den ausrangierten Waggons auftauchte. Als ich hinuntergeklettert war, schaute ich mich um und sah B weit oben auf dem Bogen kauern. Er traute sich nicht mehr herunter. Wie eine Katze saß er auf dem breiten Brückenbogen fest.

Marc kochte Kaffee, ich ließ mir heißes Wasser über den Kopf laufen. Als ich in die Küche kam, war er schon wieder auf dem Weg zur Arbeit. Auf dem Tisch stand eine Tasse Kaffee, daneben lag ein Zettel, auf den Marc mit ausladender Handschrift Numbers to call for jobs geschrieben hatte. Darunter aufgelistet waren verschiedene Telefonnummern. Außerdem hatte er mir einen zerklüfteten Stadtplan und einen Haustürschlüssel hingelegt. Marc verlor offensichtlich keine Zeit, bei mir war das anders.

Marc war der Exfreund meines Bruders. Er hatte eine Zeit lang bei Elias und mir gewohnt. Marc nannte Elias’ Haar kupferfarben und nicht rübenrot. Elias’ Sommersprossen waren sein Firmament, wie er mir einmal betrunken beteuert hatte. Damals war ich fast genauso traurig wie Elias gewesen, als Marc wieder nach Australien ging. So traurig, dass ich beschloss, meinen betrunkenen Bruder zu begleiten, der nachts am Computer zwei Visa bestellte, um Marc zu besuchen. Aber dann hatte ich B getroffen und Elias war allein geflogen. »Sag mal, bist du eigentlich bescheuert?«, hatte er gutmütig geknurrt. Für die Unbill der Liebe hatte er immer Verständnis. Zwei Wochen später war er schon wieder zurück und zerschlug etwas Geschirr, bevor er eine Reise nach Norwegen buchte.

Ich wanderte durch das Haus. Auf dem Wohnzimmertisch lagen eine Packung Schokoladenkekse, ein Joint und ein weiterer Zettel, auf dem in roten Buchstaben Jetlag stand. Ich schloss meinen Koffer auf und ließ ihn dann liegen wie einen toten Falter. Ich mäanderte ein bisschen herum, schob das Küchenfenster nach oben, die dicken Seile quietschten, die Scharniere krachten, zog es wieder herunter (zu viel Welt), faltete den Zettel mit den Telefonnummern klitzeklein, drückte meine Zigarette drin aus und sog lächelnd den schwelenden Rauch ein. Ich schaltete den Fernseher an, er war sehr laut, ich schaltete ihn wieder aus (zu viel Welt). Ich spielte mit dem Gedanken, mich im Koffer zusammenzurollen und auf Marc zu warten. Er würde wissen, was zu tun war. Nach und nach würde er erst meine Kleidungsstücke, dann mich aus dem Koffer holen, zusammenfalten und an den richtigen Plätzen verstauen. Mit ein wenig Glück würde er mich sogar bügeln. Aber fürs Erste war es vielleicht das Beste, auf dem Sofa zu liegen und den Joint anzurauchen. Wenn man nicht mehr wusste, wie man atmen sollte, war es immer eine gute Idee, den Sauerstoff mit Rauch zu mischen. Ich inhalierte tief, dann atmete ich aus (Kohlenmonoxid und THC), so lange, dass ich mich fragte, wo die ganze Luft herkam, ob ich etwa monatelang nur eingeatmet und durch irgendeine Nachlässigkeit das Ausatmen vergessen hatte.

Ich schlug das kleine Buch mit den schwarzen Seiten auf, in dem Fischli & Weiss unter dem Titel Findet mich das Glück? Fragen gesammelt hatten.

Ist meine Dummheit ein warmer Mantel?

Sudden Smith kicherte gehässig. Elias hatte ihn mir von seiner Klassenfahrt nach England mitgebracht. Ich hatte geheult und getobt, weil Elias allein nach England fahren durfte und ich mit Thomas und Luise, unseren Eltern, nach St. Peter-Ording fahren musste. Im März! Und das Meer war die ganze Zeit weg. Zu meinem Geburtstag am 1. April war Elias wiedergekommen.

»Happy Birthday, Lisa«, hatte er gesagt. Er hatte viel Englisch gelernt in England.

»Moin«, hatte ich gesagt. Auch ich hatte was gelernt in St. Peter.

Luise war so entzückt von Elias’ Sprachkenntnissen, dass sie meinen Geburtstagsschmelz glatt übersah. Es war eh alles ein großer Witz. Wer wollte schon jemanden ernstnehmen, der am 1. April geboren war. Luise erzählte gern, der Arzt habe mich nach der Entbindung hinter seinem Rücken versteckt und April! April! gerufen. Elias hatte im Juli Geburtstag. Ein solider Sommermonat. Elias war im Afterglow einer wilden Anti-Vietnamkrieg-Demo gezeugt worden, auf den durchgeschwitzten Matten einer Turnhalle, ich 2 Jahre und 3 Ehekrisen später im rostigen Golf von Thomas. Im Regen, nur wegen eines leeren Tanks. Thomas und Luise waren deshalb mitten im Wald stecken geblieben, und die Mücken hatten Thomas den Hintern zerstochen. So erklärte Luise gern grinsend die Diskrepanz zwischen meiner Lethargie und Elias’ aktionistischen Irrfahrten durch die Welt. Odysseus nannten wir ihn manchmal.

Ich hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und Elias hatte Sudden Smith neben die Geburtstagskerzen gestellt. Erst als die Kerzen heruntergebrannt waren und Sudden Smiths Lack an der linken Seite von der Hitze abplatzte, nahm ich ihn in die Hand. »April! April!«, flüsterte Sudden Smith und lächelte gequält.

»Du bist ein Glücksbringer!«, fauchte ich ihn jetzt an. »Dein Job ist es, aufmunternd zu sein!«

Darauf schwieg Sudden Smith sein hölzernes, kleines Schweigen.

Ich aß Kekse und starrte aus dem Fenster, fixierte die sinkende Sonne wie einen Feind, wer zuerst untergeht, hat verloren.

image

Ich stand auf, nachdem die Sonne schon lange meine Konturen aufgeweicht hatte, und löste mich mühsam vom Bett, wie man eine Briefmarke mit Dampf von einem Umschlag ablöste.

Marc hatte nur einen Kaffeering auf dem Küchentisch hinterlassen, ich stellte meine Tasse genau in seinen eingetrockneten Kaffeekranz und schrieb in mein Notizbuch.

Heute morgen den Kaffee langsam getrunken, die Zunge hineingetaucht und versucht, den Kaffee mit der Zunge Auf Zu Nehmen.

Im Nachthemd, den Kaffee in der Hand, ging ich vor das Haus und war sprachlos angesichts der Lichtstrahlen, die gebündelt durch die Wolken fielen, angesichts dieser weißen Wolkenberge und dem schneidend blauen Himmel dazwischen, angesichts der leuchtend pinken Farbe, in der unser Nachbar sein Haus strich.

»Wunderbar morning, hey?«, begrüßte er mich und beäugte mein Nachthemd, ein riesiges Rüschenmonster aus Omas Schrank.

Ich hatte mich nicht gewundert, dass Oma nur eine Handvoll Kleidung und ihre Waschtasche mitgenommen hatte, als sie zu Thomas und Luise gezogen war. Es passte zu ihr. Auch Opas Anzüge und Strickjacken hingen noch dort, niemand hatte sie weggeworfen nach seinem Tod. Elias und ich bezogen ihre Räume mit den antiken Schränken, dem geblümten Geschirr und den pastellenen Landschaftsgemälden wie ein abgelegtes Schneckenhaus. Selbst ihr Schirm blieb im Ständer neben der Tür. Manchmal hatte ich mich gewundert, wie Elias und ich dort überhaupt noch reinpassten mit all unserem Atem und den Kleidern. Dass uns Omas abgelegte Haut nicht vollständig umhüllte, dass wir nicht frühzeitig vergreisten, das war ein verdammtes Wunder.

Bei B war das anders gewesen, vor B waren die Dinge irgendwie zurückgewichen.

Neue Räume taten sich um B auf, als er bei mir einzog.

Ich setzte mich auf den Balkon und las eine Zeitung. Die verschnörkelten Gitter warfen Schatten auf den Boden. Ich stellte mir vor, wie B auf dem Boden hockte, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, die Schatten wie Striemen durch sein Gesicht laufend.

Ich rief meine Nummer in Deutschland an. Sofort sprang der Anrufbeantworter an. Bs helle Stimme klang weich wie ein Sommerregen: »B und Lisa sind woanders und nicht da. Wir werden Ihre Nachricht unverzüglich löschen und vergessen.« Ich legte das Telefon mit dem Gesicht nach unten und beugte mich über das Balkongitter, als wenn ich ein Handtuch zum Trocknen hängen würde. Weiter konnte ich meinen Körper nicht in die Stadt bringen. Ich ließ mich allmählich von dem kleinen Haus absorbieren, fletschte die Zähne, wenn Marc auf den Stadtplan deutete, drückte meine Kippen in den Verkehrsknotenpunkten aus, streckte höchstens meine Zunge aus dem Fenster und fing Fliegen.

Ich stand tropfend im Bad, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, als das Telefon klingelte.

»Hello?«, fragte ich und ärgerte mich ein wenig, dass Hello so wenig fremd klang.

»Hello!«, rief Elias und ich hörte sein breites Grinsen.

»Oh, hallo, Elias!«, sagte ich. Ich sprach seinen Namen gern aus. Elias, das klang nach Helden und schimmernden braunen Haaren, in denen das Licht reflektierte. Aber das führte ein wenig in die Irre. Elias war klein, stämmig, mit einer großen Menge Sommersprossen und einer kleinen Menge roter Locken, und trug seinen Namen wie eine glitzernde Brosche auf einem abgetragenen Anzug.

»Lisa, mein Mädchen«, rief Elias durch die Leitung, »was macht die große, weite Welt?«

»Hühlt chich an wie ein schu groscher Anschug«, nuschelte ich und spuckte den Zahnpastaschaum aus. »Die Ärmel sind zu lang, die Knöpfe zu groß, die Schultern zu breit. So kann man doch nicht aus dem Haus gehen.«

»Da hast du recht.«

»Wie ist es bei dir?«

»Heiß und indisch«, sagte Elias. »Hast du Wilma gesagt, dass sie die Pflanzen bei uns gießen soll?«

»Nee«, sagte ich. »Wilma war schon wütend genug.«

Elias seufzte schwer und verabschiedete sich innerlich vermutlich von den baumhohen Graspflanzen im Garten.

»Nieselregen«, sagte Elias und machte eine erwartungsvolle Pause.

»Victoria Bitter«, sagte ich nach kurzem Überlegen.

»Schlamm und Moleküle«

»Joints, Cricket, Kekse + Schlaf«

»Das waren 5 Wörter«, sagte Elias, »du hast geschummelt.«

»Nein«, sagte ich. »Ich habe ein Pluszeichen benutzt, du bist dran.«

Elias seufzte und grübelte.

»Transzendenz«, sagte er schließlich und kicherte zufrieden. Wir erfanden seit 17 Jahren sogenannte Elfchen. Elfchen waren komplizierte Wortgebilde, die so aussahen:

Ein Wort

2 Worte

3 Worte

4 Worte

Nur noch ein Wort.

Zusammen mussten sie immer 11 Worte und einen tieferen Sinn beinhalten. Unser erstes Elfchen war noch etwas schlicht:

Aschenbecher

Sein macht

Schön und klug

Aber man stinkt und

Steht.

Dieses Elfchen schenkten wir unserer Mutter Luise, die es mit roter Farbe in den Aschenbecher schrieb, den ich ihr getöpfert hatte.

Auf die Unterseite des Aschenbechers schrieb sie, ein elfchen von lisa und elias. Ich fragte sie, warum sie das auf die Unterseite des Aschenbechers geschrieben hatte, es könne ja nun keiner ihrer Gäste sehen, von wem das Gedicht stammte. Luise sagte, es sei nicht mehr Platz gewesen im Aschenbecher, und Lyrik brauche Raum, um sich zu entfalten. Wenn Luise Gäste hatte, lungerte ich auf der Lehne des Sessels herum, bis mindestens 3 Zigarettenkippen im Aschenbecher lagen. Dann sprang ich auf, leerte den Aschenbecher, und auf dem Rückweg hielt ich ihn hoch in die Luft, tat so, als entzifferte ich mühsam eine Inschrift. Ich forderte niemanden auf, es mir nachzutun, ich dachte, mein Beispiel würde die Neugier der Anwesenden schon entfachen. Aber meistens bemerkten sie es gar nicht. Luise nahm mir den Aschenbecher aus der Hand und rief: »Habt ihr eigentlich schon das Gedicht von Lisa und Elias gelesen?« Dann gab sie den Aschenbecher herum.

Unsere späteren Elfchen enthielten sehr viel zwischen den Zeilen:

Türen

Junger Spürhund

Streichholz des Grauens

Wo ist der Lichtschalter

Duschhaube.

Die Leitung knisterte. Ich schaute aus dem Fenster und schwieg in den Hörer, Elias schwieg zurück. Nachdem ich, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, die Wäsche von der Leine genommen und einen Kaffee gekocht hatte, sagte Elias: »Mach heute was, Schwesterchen, geh raus.«

»Okay«, seufzte ich.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Ich baue ein Telefon aus Schnur und Blechdosen, hänge es aus dem Fenster und spreche Deutsch.

Die Bahn lag tief in den Gleisen. Wenn ich ein Brandloch erreichte, stieg ich aus, schaute zwischen den Häusern umher, lief im Kreis und huschte dann schnell wieder zurück in mein Tunnelsystem. Die Brandlöcher im Stadtplan waren mein kosmischer Plan, über den ich mir die Stadt erschloss. Eine Sternenkarte, und ich war die Schnuppe, die durch die U-Bahn-Schächte zischte. Die gelb gekachelten Wände rasten an mir vorüber. Ich war müde.

»Ich bin müde«, hatte ich zu Marc gesagt, als er in Deutschland anrief, um Elias zu sprechen. Aber der war wie immer auf Reisen. Ich dagegen war seit Urzeiten nicht mal in der Uni gewesen, das Haus hatte ich nur verlassen, um Pizza, Schokolade und Rotwein bei Aldi zu kaufen, auch sonst war nicht viel los mit mir gewesen. »Ich bin so müde, dass es mich kaum noch gibt.«

»Dann komm doch her«, hatte Marc gesagt, als würde er mich auf einen Kaffee einladen. Und plötzlich hatte ich mir gewünscht, ich könnte die Tür zu Omas riesigem Schrank öffnen, in dem nun neben Omas, Opas und meinen Kleidern zu allem Überfluss auch noch Bs hingen. Ich würde eintauchen in den Geruch von Lavendel, Aftershave und Bs Teerosenduft, die Rückwand würde sich öffnen, und ich würde direkt in Marcs Haus hineinschneien, ihn kurz anlächeln, ihm die Zigarette aus der Hand nehmen und mir einen Kaffee kochen.

Ich hatte seit Wochen meine Tage im Bett verbracht. Am Abend war ich müde, am Morgen war ich müde; vielleicht hatte sich das Wetter geändert, bestimmt war die Sonne gewandert, aber immer wenn ich die Augen schloss, war da B. Manchmal hatte Wilma an die Tür geklopft, mit den Füßen Dreck beiseitegeschoben. »Ja, ich weiß«, hatte ich geknurrt und mich im Bett umgedreht. Ich konnte fast hören, wie Wilma die Schultern zuckte, bevor sie wieder verschwand. Aber meistens nahm sie etwas Müll mit.

Noch einmal war ich auf den Brückenbogen geklettert. Meine Zehen stießen an den Rand, während der Wind mir in den Rücken blies. In der Ferne liefen die Gleise zusammen und der Horizont stürzte auf die Schienen. Ich schloss die Augen und ließ meine Kamera fallen. Ich lachte, als ich sie aufschlagen hörte. Ich wartete noch etwas, aber es fand sich kein Zug, der drüberfuhr und ihre verstreuten Teile in die Schienen schmolz (auch kein Panzer, keine Planierraupe).

Die Kaufhäuser schlugen über mir zusammen. Es roch staubig, die Luft war trocken. Mit brennenden Augen stand ich in einer Umkleidekabine, zog mir stur ein Kleid nach dem anderen über den Kopf, bis mir die Haare flogen. Der Verkäufer nickte anerkennend, als ich meinen Stapel zur Kasse trug. Ich bezahlte meine Assimilation mit schreiend bunten Scheinen. Geld, das eigentlich meine Miete bestreiten sollte, bis ich einen Job finden würde. Innerlich stampfte ich auf und fletschte die Zähne. Es erfüllte mich immer mit grimmiger Freude, Geld auszugeben, das ich nicht hatte. Meine abgeschälten Klamotten blieben in der Umkleidekabine liegen, nur den Mantel warf ich mir wieder über den Arm. Wandfarbe wollte ich sein, an einem soliden australischen Haus. Beton im Rücken, die Gischt im Gesicht.

»Excuse me?«, näherte sich ein Japaner mit bedrucktem T-Shirt und silbernen Turnschuhen. »Do you know where is Elisabeth Street?«

»Yeah sure«, log ich, deutete nach rechts, dann nach links, beschrieb Ampeln und Kreuzungen. Er irrlichterte los, ich hinter ihm her.

Das Telefon klingelte. Marc. »Na, hast du dich schon verlaufen?«

»Ja, absolut.«

»Was machst du?«

»Ich laufe einem Japaner hinterher.«

»Ach Kind«, seufzte Marc.

Der Japaner drehte sich gerade verwirrt um die eigene Achse und schaute zum Himmel hoch, als erwarte er ein Zeichen (Wolkenartige Pfeile? Ziehende Vögel? Starke Winde? Bruce Willis in einem fliegenden Taxi?).

»Wo bist du?«

»Hinter dem Japaner.«

»Ruf dir ein Taxi.«

»Wohin?«

»Weg von dem Japaner!«

Der Japaner ging vorsichtig über eine breite Brücke. Sie führte zum Hafen. Über uns fuhr lautlos eine Hochbahn, schnitt glänzend durch den Himmel. Die Glasfassaden der Hochhäuser am Hafen warfen die Sonne auf die See zurück. Der Japaner hatte einen weichen, zögernden Gang. Jetzt blieb er stehen und fragte wieder nach dem Weg. Der Kerl deutete weit über meinen Rücken hinaus. Der Japaner sah mich verstört an. Ich schaute ihn an, als hätte ich ihn noch nie gesehen. Ich roch wieder sein Parfum, als ich an ihm vorbeiging. Ein irgendwie heller Duft, der mir in der Nase haften blieb, als ich die Stufen zum Hafen hinunterstieg.

B küsste, wie ein Vogel müde mit den Flügeln schlägt.

»Dann komm doch her«, hatte Marc gesagt. »Jonas hat mich verlassen. Er ist ausgezogen.« Das hatte er ruhig gesagt. So ruhig, wie man manchmal ist, nachdem man alles Geschirr aus den Regalen genommen und auf den Fußboden geschmissen hat. »Ich hol dich vom Flughafen ab«, hatte Marc gesagt. Es klang so einfach und unverbindlich, als würde ich nach Köln fliegen. Gleichzeitig wusste ich, dass ich es niemals schaffffen würde, nach Köln zu fliegen. Das Kürzeste, was ich schaffen konnte, war Australien.

Wo der Japaner jetzt wohl war? Ich hätte gern mit ihm am Wasser gesessen. Wir hätten Eis gegessen und uns langweilige Fragen gestellt. Vielleicht hätten wir uns ein Taxi gerufen und unbeholfen ein wenig Sex gehabt. Er hätte japanische Laute ausgestoßen und ich deutsche. Er hätte mich an Kirschblüten erinnert, ich ihn an Bratwurst.

Ich setzte mich auf die breiten Treppen zum Hafenbecken. Überall hielten Menschen ihr Gesicht in die Sonne, blinzelten und tranken Kaffee aus Pappbechern.

»Tumbalong«, sagte Sudden Smith zerknirscht.

»Was?«

»So hieß Darling Harbour ursprünglich, bevor mein Volk –«

»Ja«, unterbrach ich ihn. »Ist gut, Smith.«

Ich rief bei Thomas und Luise an. Ich ließ zweimal klingeln, legte auf und rief wieder an. Vorklingeln nannte man das unter Arztsprösslingen. Die Oma ging ran.

»Hallo Oma«, sagte ich. »Ich bin’s.«

»Kind«, sagte Oma, »du bist es. Die Mama ist nicht da.«

»Wie geht’s dir, Oma?«

»Hätten wir den Opa nicht doch verbrennen sollen?«

»Warum?«

»Weil die Haare und Fingernägel unter der Erde weiter wachsen. Das würde dem Opa nicht gefallen.«

»Jetzt ist auch zu spät«, sagte ich.

»Kind, wo bist du denn, bist du nicht in der Uni?«

»Nein, Oma, ich bin in Sydney.«

»Sydney?«

»Australien, Oma.«

»Mein Gott, das wird doch viel zu teuer«, rief die Oma und legte auf.

Ich knüllte meinen Mantel zu einem Haufen zusammen, legte ihn mir unter den Kopf und hielt mein Wintergesicht in die Sonne. Die Bohlen der Werft breiteten ihren holzigen Geruch aus, das Visitor Centre funkelte wie eine Kristallkugel, ein paar Boote liefen ein, andere aus, hinter mir fuhr ein halbnackter, eingeölter Kerl auf einem Einrad und spuckte Feuer, alles war gut.

image

Die Dunkelheit stürzte wie eine Decke vom Himmel, ich vermisste die lange Dämmerung des Nordens. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich wäre eines Morgens an den Strand gespült worden und Marc hätte mich aufgelesen, zusammen mit anderem Treibholz. Er hatte mir einen Job besorgt, er drehte mir klitzekleine Joints, er strich mir hin und wieder über den Kopf.

Die Abende waren noch kalt, der Wind pfiff unter den Türen durch, wir drängelten unsere Füße vor dem winzigen, rotglühenden Heizkörper, doch am Morgen stach mir regelmäßig die Sonne ins Gesicht, erwachte ich schon klebrig wie ein Stück Kuchen mit Zuckerguss.

Jeden Morgen kochte Marc Kaffee für uns und bestrich vier Scheiben Toast mit Butter und Vegemite. Jeden Morgen stand er in Unterhosen in der Küche, mit nassen zurückgekämmten Haaren, und bügelte sein Hemd für die Arbeit, ich band mir die Haare zusammen und knüllte meine schwarze Schürze und die gestreifte Bluse in die Tasche.

»Komm, Schätzchen, ich bügel das für dich.«

»Danke, das hängt sich aus.«

Wenn ich zuschaute, wie das Wasser aus seinen Haaren ihm langsam den Rücken hinunterrann, fühlte ich mich immer ein wenig wie ein weißes Laken, das in der Sonne trocknete.

Wenn wir auf dem Balkon standen, den Kaffee in der Hand, und der Tag vorglühte wie ein Motor nach einer kalten Nacht, machte mein Puls verwegene Sprünge und ich glaubte tatsächlich, alles Mögliche könnte passieren. Auch Marc war stumm angesichts der Dächer, die sich unter dem Flug der Vögel bogen und der Stromkabel, die den ganzen Himmel vernetzten.

»Lisa, ich meine, ist das nicht ein wenig unbequem für dich?«, fragte Marc schließlich zögernd und sah mich dabei nicht an.

»Was?«, fragte ich scheinheilig.

»Naja, es ist doch auch ein bisschen kalt.«

»Nein«, log ich.

»Und ich schnarch doch auch.«

»Nein«, log ich.

»Aber du schnarchst«, log Marc.

»Nein«, sagte ich.

Marc band sich seufzend die Krawatte um, griff nach seinem Telefon, zielte damit auf meine Brust, blies den Rauch von der Mündung und steckte es sich in den Gürtel. Ich zündete eine Zigarette an und schaute ihm hinterher, wie er auf weichen Sohlen die Straße hinunterlief, seinem gut bezahlten Job entgegen, seiner Altersversicherung, seinen Aufstiegschancen, den gläsernen Wänden und gewienerten Fluren. Mein Neid wehte vom Balkon herunter, heftete sich kalt an seinen Nacken, Marc zog die Schultern hoch und fuhr sich durch die Haare, als verscheuchte er eine Fliege. Dann drehte er sich noch einmal um und warf mir eine Kusshand zu. Reumütig fing ich den Kuss in der Luft. »Es ist alles kindliche Prägung!«, rief ich ihm nach. »Ich kann nichts dafür!« Auf Marcs Fußboden zu schlafen war manchmal das einzig Richtige.

Ich dachte daran, wie Luise eines Nachts ihr Lager auf dem Fußboden neben Elias’ und meinem Doppelstockbett aufgeschlagen hatte. Das war, als Luise und Thomas sich trennen wollten und es dann doch nicht taten, der Kinder wegen. Derkinderwegen, das fühlte sich an wie ein großes Fischernetz, das jemand über unser Haus geworfen hatte, und in diesem Netz zappelten Makrelen, Rochen und Delphine, das Meer direkt vor der Nase. Luise hatte es leise am Telefon gesagt. Luise, die sich auf dem Boden drehte und wendete wie ein Fischstäbchen in der Pfanne und uns aus dem Traum unverständliche Dinge zurief.

Aber ich schlief leise. Marc konnte mich gar nicht bemerken. Und ich war dann wieder 7 Jahre alt, und obwohl etwas kaputtgegangen war, waren wir alle beisammen.

Ich warf die Zigarette über die Brüstung, griff meinen abgewetzten Rucksack und machte mich auf, die Straße hinauf, meinem schlecht bezahlten Job entgegen, täglich bar in die Hand ohne Gewähr.

Ich trug 3 Teller in 2 Händen. Der Koch konnte meine Notizen nicht lesen, sie waren zu deutsch, zu flüchtig, verruchte Ziffern, verwitterte Lettern, wie man so viel falsch machen könne, bei Rührei und Kaffee, fragte er mich. Mit Absicht rührte er Schinken in vegetarische Omelettes und wartete, bis ich zurückkam, den Ärger der Gäste im Nacken.

»Was soll ich denn machen?«, fragte mein Chef und riss verzweifelt seine braunen Augen auf, wenn ich im Garten heulte. »Du weißt doch, wie sie sind, die Jungs.«

Der Koch war mindestens 50 Jahre alt.

Ich habe eine Wohnung, schrieb ich in mein Notizbuch. Ich habe einen Job. Plötzlich wünsche ich mir weißes, kühles Mehl an die Hände.

Am Abend empörte Marc sich so anhaltend, dass ich es nicht mehr zu tun brauchte. »Das hast du doch nicht nötig, Kind!«, rief er und hackte auf die Tomaten ein, metzelte Basilikumblätter in winzige Teilchen und brachte das Wasser zum Kochen. Ich hockte neben ihm auf dem Küchentisch und rieb die Flecken tiefer in die Schürze. Ich erzählte ihm, wie blau die Wände des Cafés leuchteten, nachdem der Koch seine Schicht beendet hatte, wie die Sonne sich in den Kaffeebechern auf den Tischen auf der Straße spiegelte, wie die Gäste anfingen, mich mit Namen anzusprechen, Messy Lisa nannten sie mich oder Darling. Außerdem blinzelte ich nicht mehr nervös, wenn jemand einen Magoccino, please, darl bestellte (Magutschi-what?). Vorschriftsgemäß schrieb ich M/Cap auf meinen Block (Mug of Cappuccino). Ich fand, es ließ sich alles ganz gut an, eigentlich. Marc stellte die Flammen herunter und schüttelte den Kopf. Manchmal zog ich mir die Hose aus und servierte Marcs und meine Spaghetti in Unterhose, dicken Wollsocken und Schürze, wackelte dabei übertrieben mit dem Hintern und griff mir in die Haare. Marc gähnte und wedelte mit der Fernbedienung in meine Richtung, als wollte er den Kanal wechseln. Einmal seufzte er nur, so tief und erschütternd, dass selbst ein paar Kakerlaken unter dem Kühlschrank hervorkamen, um nach dem Rechten zu sehen.

»Was ist mit Jonas?«, fragte ich ihn.

»Der vögelt in Schweden«, fauchte Marc und schaltete den Fernseher an.

Wir rauchten einen unschuldigen Joint und sahen ausländische Filme mit winzigen Untertiteln. Wir lagen ausgestreckt, jeder auf einem Sofa, das war unbedingt notwendig, wenn man einen Joint geraucht hat, dass jeder ausgestreckt auf einem eigenen Sofa liegen kann, Kopf an Kopf, im 90-Grad-Winkel voneinander weggestreckt.

»Keiner ruft mich an, Marc. Keiner schreibt mir.«

5 Minuten später vibrierte das Telefon auf meinem Bauch. Marc hatte mir eine SMS geschrieben. Ich verbarg meine Rührung hinter einem herzhaften Gähnen.

»Wie siehst du überhaupt aus?«, fragte Marc nach einer Weile und deutete stirnrunzelnd auf Omas Nachthemd.

»Ich hab Heimweh«, sagte ich.

Manchmal fragte ich mich, warum ich ihm nie von B erzählte, aber dann würden auch hier die Dinge zurückweichen. Auch hier würden sich Nischen auftun, nur für B.

Wird der Bereich des Möglichen immer kleiner?

Die Tage wurden nicht länger, aber breiter. Außer der Arbeit im Melograno hatte ich nichts zu tun und die Augenblicke des Ruhmes, wenn tatsächlich einmal ein Gast das bekam, was er bestellt hatte, reichten nicht weit. Für drei Sekunden zumindest war ich dann die Omelette-Prinzessin und tanzte im Petersilienregen. Aber in den Straßen wusste man nichts davon und ich hatte es langsam satt, wie eine ausgesetzte Schildkröte durch die Gassen zu stromern. Irgendwie neugierig, den Kopf aber doch immer halb eingezogen. Immer bereit, mich in meinen Panzer (oder eben in Hauseingänge) zu ducken, falls etwas Schlimmes passieren sollte, die Liebe zum Beispiel.

Als ich Nick zum ersten Mal sah, saß ich vor dem Museum am Cirqular Quay auf dem Gras, das Opernhaus lag eierschalenfarben unter dem trüben Himmel. Ich trank eine Cola und beobachtete eine Ameise, die hastig über meine Finger lief. Furchtbar zielgerichtet sah sie aus, eine tiefe Zufriedenheit lag in ihrem Weg über meine Hand. Ich lass sie nicht mehr runter, dachte ich. Soll sie sich doch auf meiner Lebenslinie zu Tode laufen.

Ich drückte ein paar neue Brandlöcher in den Stadtplan, die anderen Punkte (Zentaur, den Kleinen Wagen, die Fliege und Phönix) hatte ich schon abgearbeitet, jetzt war mir nach Crux (Kreuz des Südens). Das war auch allerhöchste Zeit, schließlich schmückte es die australische Flagge. Gemäß meinen Berechnungen lag sein tiefster Punkt am Hyde Park, U-Bahn-Station St. James. Danach war wohl ein neuer Stadtplan dran, manche U-Bahn-Stationen und Straßenzüge hingen schon am seidenen Faden. Aber zumindest konnte ich mir das zerfledderte Ding jetzt vor die Nase halten wie eine Zeitung und durch die Brandlöcher unbemerkt diesen herrlichen Mann beobachten, der nicht weit entfernt auf dem Rasen saß und mit einem Mädchen sprach. Das Kreuz des Südens eignete sich perfekt. Durch den höchsten Punkt konnte ich seine Haare sehen, die in kleinen Wirbeln auf dem Hinterkopf zu Berge standen. Diese Wirbel trieben irgendwie schwerfällig im Wind, wie Seeanemonen in der Trägheit des Wassers. Durch die Punkte rechts und links seine gestikulierenden Hände mit den langen schmalen Fingern, die ich sofort zählen wollte. Irgendwie glaubte ich nicht, dass es nur zehn sein sollten.

Er saß nördlich von mir, das hieß, ich saß südlich von ihm. Das Kreuz des Südens lag mitten in der Milchstraße, südlich davon war eine Dunkelwolke zu sehen, der sogenannte Kohlensack. Das war dann wohl ich.

Der tiefste Punkt lag direkt auf seinem Mund. Auf überirdisch schönen schmalen Lippen, die sich in alle Richtungen bewegten, wenn er sprach. Als wäre sein Mund ein abgelöstes Wesen, und wenn ich noch länger darauf starrte, würde es sich tatsächlich von seinem Gesicht ablösen und ich würde wild knutschend mit ein paar Lippen durch das Gras rollen. So viel zum Kreuz des Südens. Ich ließ den Stadtplan sinken.

Er drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Wie aufgespülter Sand sah sein Gesicht aus, als er lächelte. Wenn B lächelte, schlugen die Mundwinkel Wellen in seinen Wangen. Wie eine Narbe lag B in meiner Erinnerung, so wie der Horizont auf dem Wasser. Ich erschrak so sehr, dass ich die Ameise zerquetschte, die noch immer zwischen Lebenslinie und dem Rest herumirrte, aber ich meißelte ein Lächeln in mein Gesicht. Als würden all meine Gesichtsmuskeln an Fäden in verschiedene Richtungen auseinandergezogen. »Tut dir was weh?«, fragte Sudden Smith einfühlsam. Ich strich mir die Mimik aus dem Gesicht und starrte Nick weiter unverwandt an, als die Sonne sich durch die Wolkenschicht kämpfte und die See glättete, meine Cola in einen Quell verwandelte. Nicks Gesicht leuchtete in der Sonne, die Konturen schmolzen unter dem gleißenden Licht, bis Nicks Gesicht eine Leinwand war, eine beleuchtete Leinwand, kurz bevor der Film begann:

Ich war die Treppenfluchten zu Bs Wohnung hinaufgestiegen. Es hatte nach staubigem Holz gerochen und feuchtem Beton. B hatte stark geheizt. Er saß nackt am Küchentisch und zog sich die Lippen rot nach, ich küsste ihn leicht auf den Mund und setzte mich ihm gegenüber. Der Tisch war mit Krümeln übersät. Brötchenkrümel, getrocknete Teeblätter, Tabakkrümel, B fegte die Tabakbrösel mit der Handkante zusammen und drehte sich eine Zigarette. Es war bestimmt auch ein wenig Brötchen und Tee dazwischen. Er zündete die Zigarette an und strich sich die Haare aus der Stirn. Zwischen seinen Augenbrauen lag eine winzige Furche. Nicht tief. Als wenn man ein Laken gebügelt hätte und die Falten dennoch sah. Ich schaute in Bs Gesicht wie in einen Spiegel (Halbdunkel, Lichtempfindlichkeit 1600 ASA, grobkörnig, Blende 5,6, Verschlusszeit 1/15 Sekunde).

Wenn ich meine Hand mit gespreizten Fingern auf seinen Bauch legte, sah sie aus wie ein Kastanienblatt (1/60). Ich stand auf, zog mir das Kleid über den Kopf, streifte es B über den nackten Körper. An seinem Weinglas klebte Lippenstift. Wenn er lachte, blitzten seine schiefen Zähne zwischen den roten geschwungenen Lippen (Blende 8). B lehnte sich aus dem Fenster in den Innenhof, wie aus einem fahrenden Zug, und rief etwas. Der Wind, der seine Stimme mitnehmen sollte, blies nicht. Bs Worte hallten schwer im Hinterhof. Er zog den Kopf ein, beschämt, strich sich das blaue Kleid glatt, setzte die Flasche direkt an und trank, flammend rot in den Wangen (Gegenlicht).

Als es dunkel wurde, warf B sich seinen Mantel über und zog mich ins Treppenhaus. B kannte kein Zaudern, wenn er seinen Mantel trug. An der Straßenecke küsste er mich auf die Wange, zwinkerte mir zu und verschwand. Ich schaute ihm nach und stellte mir vor, ihn nackt im Schilf auszusetzen, Eiskristalle würden in seinen Wimpern wuchern, der mit Schollen durchsetzte Fluss zu seinen Füßen laut knistern.

Am Morgen stand er vor meiner Tür, die verschmierte Wimperntusche lag dunkel unter seinen Augen. B mit dem rubinroten Lidschatten und dem neuen Liebhaber (Batterie leer/ Black).

Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, die Cola war warm und Nick stand auf. »Wenn ich meine Hand auf seinen Bauch legte, sah sie aus wie ein Kastanienblatt«, sagte ich zu Sudden Smith.

»Sieh mal, wie der Wind die Wolken über das Meer treibt«, sagte Sudden Smith. »Sieh dir die rasenden Schatten auf dem Wasser an.«

Manchmal machte er seinen Job ganz gut.

Nick verschwand im Museum, ich fuhr leicht über das plattgedrückte Gras, wo Nick eben noch gesessen hatte, richtete einzelne Grashalme auf.

»Reiß dich zusammen«, zischte Sudden Smith.

»Okay«, fauchte ich und trampelte alles wieder schön platt.

In der Eingangshalle des Museums stand eine weiße Pappwand, darunter eine Anweisung: Glue your brain to the wall and think about Adorno.

Nick hatte seine Stirn gegen die Wand gelehnt und dachte an Adorno. Ich wickelte ein Lakritzbonbon aus und wartete. Ich hatte nur eine Tüte aus Deutschland mitgebracht. Meine schwarzen Sterne waren gerade gut genug für einen Liebeszauber.

Der Korb stand neben ihm. Eine Flasche Wasser lag darin, ein Skizzenbuch und ein Pulli. Ich warf ein Lakritzbonbon hinein, auf den Pulli. Nick hörte auf zu denken, er löste seine Stirn von der Wand, lächelte mich an, nahm seinen Korb und ging. Er bot nicht an, mich zu küssen. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Ich dachte. ADORNO.ADORNO.ADORNO. A.D.O.R.N.O.

Auf der Straße wollte ich meine Stirn an jede Wand lehnen. Ich lief durch breite Straßen mit Eukalyptusbäumen, eine Kakerlake kroch neben mir her, und über allem spannte sich ein kobaltblauer Himmel, er sah tatsächlich straff aus, als hätte ihn jemand mit hölzernen Pflöcken am Horizont vertäut. Ich ließ Lakritzbonbons auf meinem Weg zurück, an jeder Straßenecke. Ein Paar kam die Seitenstraße herauf, und irgendwie, aus dem Augenwinkel, sahen sie aus wie eine einzige Person, verweht und androgyn.

Den letzten Bonbon legte ich vor unsere Haustür.

image

»Marc, er bewegt seinen Mund so schön, wenn er spricht«, sagte ich wieder. »Wenn er spricht, dann kräuselt sich seine Oberlippe, so, guck mal!« Ich zeichnete elegante Wellenlinien in die Luft. Marc seufzte.

Es war kaum zu glauben, wie schwarz und warm die Nacht war, wie geschmeidig der Asphalt. Die Häuser sperrten ihre Türen auf und streckten die Zungen heraus, alles atmete und keuchte. Wir schwammen die Straße hinunter, zerteilten die gefräßige Luft mit unseren Körpern. Es hätte mich nicht gewundert, wäre die Straße mit Paaren bedeckt gewesen, die sich nackt auf dem Asphalt räkelten. Es roch nach Pizza und Thai und tausend Parfums.

Noch einen Tag vorher hatte mich ein Krankenwagen verfolgt. So schlimm steht es doch noch gar nicht, hatte ich gedacht und die Augen geschlossen gegen das Blaulicht, den Sturm und den Regen.

»Schluss jetzt!«, hatte ich am Abend zu Marc gesagt, der mit einem Joint auf der Couch dämmerte, die Beine embryonal angezogen. »Wir sollten uns alle ausziehen und nackt auf die Straße laufen.«

Beiläufig pflückte Marc mir im Laufen Flusen von der Seite.

»Meinst du, er hat mich überhaupt bemerkt?«

»Er hat dich doch angelächelt, sagst du.«

»Ja, aber das war so beiläufig, so wie man lächelt und irgendwo hinguckt, um seine Gedanken zu sammeln.«

»Aber im Museum hat er dich noch mal angelächelt.«

»Ja, aber das war so ein Bus-Lächeln.«

»Ein Bus-Lächeln?«

»Ja, wenn man aussteigt und der Platz frei wird und man denjenigen anlächelt, der sich da hinsetzen will.«

»Lisa!«

»Schon gut.«

Wir überquerten die Straße und Marc griff hastig nach meiner Hand, weil ich in die falsche Richtung schaute und vor Autos lief. Ich fragte mich, ob ich extra noch immer in die falsche Richtung schaute, weil ich es mochte, wenn jemand hastig nach meiner Hand griff.

Die Oxford Street tobte. Alle blitzten und schwitzten und drängten sich auf dem engen Fußweg dicht aneinander vorbei. Marc zog mich durch eine offene Tür ins Stonewall. Von der Decke hingen Plastikblumen und Barbiepuppen, die Wände schwitzten, auf der Bühne streckte eine Drag Queen ihre Beine und vergaß den Text. Marc breitete seine Schultern aus und ich streckte meine Brüste vor, dann schlängelten wir uns zur Bar. Wir tranken Wodka mit Grapefruitsaft, Marc setzte ein Gesicht auf, souverän und sexy, und scannte das Volk, wie er es nannte. Mora war auch da, eine schöne Transe, an der er ein erotisches Interesse von fast neurotischer Vehemenz hegte, wie er mir anvertraute. Er bezahlte und ließ seine Finger flüchtig über die offene Hand des Barkeepers gleiten. Offensichtlich war Marcs erotisches Interesse nicht linear, sondern breitete sich großzügig und krakenartig aus, das konnte ich gut verstehen.

»Schau mal, so!«, sagte ich und zeichnete Wellenlinien in den feuchten Tresen.

Der Barkeeper nahm einen trockenen Lappen und wischte mit zackigen, aber inbrünstigen Bewegungen meine liebevolle Zeichnung auf.

»Darling, du hast da ein Lächeln auf dem Gewissen«, flirtete Marc ihn an.

»Sorry?« Der Barkeeper zog genervt eine Augenbraue nach oben.

Wir sogen abwechselnd an Strohhalm und Zigarette, während eine fette Drag Queen mitsamt der Schaukel langsam und unter quietschenden Seilen in die Höhe gekurbelt wurde und ein paar muskulöse Jungs mit wenigen Kleidungsstücken, die immer weniger wurden, die Bühne bevölkerten. Marc war etwas von mir abgerückt und brüllte dem Barmann Dinge ins Ohr. Der zeigte sich kaum beeindruckt, obwohl Marc seine weichen Lippen schürzte und die Luft durch die zart gefletschten Zähne einsog.

»Ich geh mich amüsieren«, sagte Marc über meine linke Schulter hinweg, tätschelte mir beruhigend den Hintern und zog seine Bahnen. Ich trank weiter.

Zwei Tage vor Thomas’ Geburtstag hatte Elias sich zum ersten Mal betrunken und dazu anderthalb Schachteln Zigaretten geraucht. Ich hatte ihm geduldig dabei zugesehen und geschwiegen, bis er einen einzigen Satz rausbrachte, er sei schwul. Ich hatte weiter geschwiegen, was hätte ich auch sagen sollen.