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Kai Weyand

Die Entdeckung der Fliehkraft

Roman

 

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

Die Entdeckung der Fliehkraft

Impressum

 

 

 

Karl drückte den Homebutton seines Smartphones, und die Uhrzeit leuchtete auf. Es war kurz nach acht. Um zehn musste er im Gefängnis sein. Es war nicht immer so gewesen, dass er als erstes nach dem Aufwachen auf sein Smartphone blickte, um die Uhrzeit zu checken. Früher hatte er zuerst nach Lydia geschaut. Das machte er jetzt als zweites. Und es war nicht so, dass ihm nicht klar war, dass das, was einmal nach hinten gerutscht, in seinem Rutschen kaum noch aufzuhalten war. Was einmal Zweites geworden, wurde irgendwann Drittes und dann Viertes, und ab da war es dann im Grunde egal. Der Platz im Bett neben ihm: leer. Karl legte die Hand dorthin, wo noch vor kurzem seine Frau gelegen hatte. Er spürte die Wärme, die noch im Bettlaken steckte. Noch immer verströmte sie eine Behaglichkeit von zugefallenen Augen und müden Gliedern. Dennoch: Es war eine verlassene Behaglichkeit. Für Karl eine einsame. Einsame Behaglichkeit, ein Begriff, den er mit seinen Jungs im Knast diskutieren könnte, dachte Karl. Der Knast war Heimat für viele Begriffe, die aus der Balance geraten waren.

Irgendwann war Karl bewusst geworden, dass er immer öfter morgens aufwachte und den Platz im Bett neben sich verwaist vorfand. Als Jugendlicher hatte er sich oft gefragt, worin der Unterschied zwischen verliebt sein und Liebe besteht, woran man merkt, ob man verliebt in jemanden ist oder jemanden liebt. Inzwischen hielt er es für möglich, dass es sich folgendermaßen verhielt: Wenn man verliebt ist, startet man zusammen in den Tag, und wenn man liebt, bemüht man sich, den Tag wenigstens zusammen zu beenden. Jedenfalls ist es doch so, dass eine Silbe verloren geht, wenn das Verliebtsein geht und die Liebe kommt. Und die Wahrheit lautet: Einsam wird nur, wem etwas verloren gegangen ist.

Karl hatte fast anderthalb Stunden Zeit, bevor er sich auf den Weg machen musste. Es gab noch keinen Grund aufzustehen. Linus übernachtete bei einem Nachbarskind. Lydia würde ihn später abholen. Karl rieb seine Handfläche über das noch warme Laken neben sich und fragte sich, was er machen würde, wenn Lydia jetzt noch neben ihm läge. Würde er ihre Hand greifen, sie küssen, Dinge machen, von denen er noch vor wenigen Jahren geglaubt hatte, sie jeden Morgen tun zu wollen?

Im nächsten Jahr würde Linus in die Schule kommen. Karl überlegte, ob sich in der Beziehung zwischen Lydia und ihm etwas grundlegend geändert hatte, seit Linus auf der Welt war. Kaum hatte er den Satz gedacht, empfand er ihn schon als falsch und ärgerte sich, dass er ihn so leichtfertig formuliert hatte. Zwar war er grammatikalisch korrekt, und kaum ein Mensch würde ihn als falsch einordnen, aber Karl störte die Präposition auf. Linus sollte nicht auf der Welt, sondern in der Welt sein. Jeder lebende Mensch sollte in der Welt sein und mit dem Tod aus ihr heraustreten. Auf der Welt zu sein, schien ihm nicht wirklich wünschenswert. Man ging ja auch in die Küche und nicht auf die Küche, da es sich in der Küche besser kochen ließ als auf der Küche. Insofern ließ es sich in der Welt besser leben, als auf der Welt.

Als sehr in der Welt verankert empfand er das Klappern von Geschirr, und es würde ihn nicht wundern, wenn gleich das Klappern von Geschirr aus der Küche zu ihm dringen würde. Lydia verschwand nicht nur sehr früh morgens aus dem Bett, sondern sie fing dann auch gleich an, die Spülmaschine auszuräumen. Es gibt Geräusche, die erzählen noch von etwas anderem als vom Eigentlichen. Das Ausräumen der Spülmaschine zum Beispiel erzählte Karl, dass man Vorwürfe auch durch das Verräumen des Geschirrs formulieren konnte. Jeder Teller, jede Tasse ein Schlag, der durch die Küchenschränke hindurch auf seine Magengrube zielte, um ihn daran zu erinnern, dass SIE die Spülmaschine ausräumte, während ER im Bett lag: Hier der Teller, den ICH ausräume, während DU im Bett liegst, WUMMS, und noch einer, BUMMS, und jetzt die Tasse RUMMS, und eine Links-Rechts-Kombination Teller, Tasse, RUMMS, BUMMS, und hier die Salatschüssel, die ist einen Leberhaken wert: mit Schmackes BUMM, BUMM.

Knockout, noch bevor der Besteckkasten dran war.

Im Grunde fing der Tag mit zwei Fehlern an: ein halb leeres Bett und die Spülmaschine, die auch der Staubsauger sein konnte. Die Gefahr war nicht gering, dass ein dritter Fehler folgte. Den Gesetzen der Logik folgend, wäre das das Plausibelste. Wenn Karl nicht aufpasste, konnte das leicht auf einen Tag voller Fehler hinauslaufen. Bedauerlicherweise gab es von diesen auf der Erde schon mehr als genug, und wenn er einen weiteren hinzufügen würde, wäre es nicht so, dass dieser dazu beitragen würde, einen Mangel zu beseitigen. Karl hatte den Eindruck, dass es sehr, sehr viele Menschen gab, die den Tagen Fehler anhefteten. Sekunde für Sekunde, Minute für Minute, Stunde für Stunde. Wenn er nicht zu denen gehören wollte, musste er jetzt das Richtige tun.

Durch den Vorhang vor dem Schlafzimmerfenster fiel Sonnenlicht, gleich darauf verschwand es wieder, ein kühler Luftzug drang durch das gekippte Fenster und blähte den Vorhang auf. Karl konnte den Himmel nicht sehen, aber der Wechsel von Licht und Schatten, der sich im hellgrünen Vorhangstoff widerspiegelte, versicherte ihm, dass der Kampf am Himmel noch nicht entschieden war. Er hoffte, dass es wenigstens nicht regnen würde, zumindest nicht, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war. Er erinnerte sich, dass er einmal auf dem Weg ins Gefängnis in ein Gewitter gekommen und bis auf die Unterhose nass geworden war. Karl hatte geflucht. Insbesondere den Regen verdammt, aber auch die zu langsam trocknende Baumwolle, dann den Tag überhaupt, der schon nass gewesen war, als noch keine Regenwolke am Himmel gestanden hatte, und auch das Leben im Großen und Ganzen in seine Flüche miteinbezogen. Daraufhin hatte ihm ein Wärter empfohlen, vor Zeugen einen Mord zu begehen, dann müsste er sich über Jahre hinaus keine Gedanken mehr ums Wetter machen, viele Jahre säße er dann im Trockenen. Obwohl Karl der Witz von kleinem Geist zu sein schien, hatte er gelächelt, auch, weil er nicht hochnäsig wirken wollte. Er kannte viele Menschen, die sich für einen großen Geist hielten, obwohl sie das Wort Geist im besten Fall für einen Schnaps hielten. Und obwohl Karl dem Wärter versucht hatte zu signalisieren, dass er bereit war, diesem doch im Grunde bescheidenen Witz eine gewisse Humorsubstanz zuzugestehen, merkte er, dass der Wärter mit seinem Lächeln nicht zufrieden war, dass er offensichtlich der Meinung war, sein Witz hätte mehr als ein Lächeln verdient. Für Karl ein Grundübel: dass jeder glaubt, er habe mehr verdient.

Mit Schwung sprang Karl aus dem Bett, er wollte jetzt für seinen Tag kämpfen. Er streckte sich, machte ein paar angedeutete Boxschläge, zog die Vorhänge zur Seite und murmelte halblaut vor sich hin, dass ein Anfang noch nichts über das Ende verrate. Mehrere Autos fuhren auf der Straße Richtung Westen. Karl wohnte mit seiner Familie an einer Einbahnstraße, was den Autoverkehr erträglich machte. Das Schöne an Einbahnstraßen war, dass man sich der Illusion hingeben konnte, dass Autos immer nur wegfuhren, aber nie ankamen. Auf dem Gehweg sah er Frau Kircheisen mit Homer spazieren. Auf den ersten Blick merkte man Homer nicht an, dass er anders war. Erst auf den zweiten Blick fiel auf, dass die Harmonie seiner Gesichtszüge einer Ordnung unterlagen, die einen stutzen ließ. Sein Mund war klein, die Oberlippe sehr dünn und manchmal hatte Karl den Eindruck, als würden Homers Augen die Welt aus einem anderen Winkel erfassen. Aber er war sich unsicher, ebenso, ob Homer kleinwüchsig war. Ihm kam es so vor, als wäre Homer in noch einer anderen Welt zu Hause, als nur in der hiesigen, und das gefiel ihm.

Homers Stimme war selten in der richtigen Geschwindigkeit. Oft sprach er zu schnell, so als wäre seine Stimme auf der Überholspur, und tatsächlich kam es vor, dass er seine Gedanken überholte und dann plötzlich anfing zu stottern, so als würgte er gleich den Motor ab. Zudem sprach er sehr laut, als wären seine Stimmbänder aufgebohrt, wie bei einem Auto der Auspuff. Die Melodien seiner Sätze waren ein Suchen und Finden, und nicht immer fanden sie das Richtige. Manchmal wurde die Melodie einer Frage gefunden, wenn der Tonfall einer Aussage gesucht war und manchmal war es umgekehrt. Doch das alles hinderte Homer nicht am Reden, im Gegenteil, Homer redete gern. Karl freute sich jedes Mal, wenn er ihn traf. Bei Licht besehen, sah man nur noch wenige Menschen mit Behinderung auf der Straße. Dafür immer mehr Menschen, die sich bemühten, perfekt zu erscheinen. Das wiederum kam Karl irgendwie krank vor. So als würde man sich verkleiden, aber nicht wollen, dass jemand merkt, dass man verkleidet war.

Im Grunde glaubten viele Menschen, eine Behinderung sei schlimmer als eine Krankheit. Dabei war es umgekehrt. Karl hatte oft das Gefühl, dass Homer einem zeigte, die Welt könnte ganz anders sein. Karl hielt das nicht für die unsinnigste Betrachtungsweise.

Seit geraumer Zeit hatte Homer immer einen Toten im Gepäck. Beim letzten Mal einen Metzger.

»Wie stirbt ein Metzger?«, hatte er Karl gefragt, mit einer Stimme, bei der man immer das Gefühl hatte, Homer befinde sich im Stimmbruch.

»Ich weiß nicht«, hatte Karl geantwortet, aber fieberhaft nach einer Redewendung gesucht, die den Tod eines Metzgers zum Thema hat. Leider kamen ihm nie redewendungsgeeignete Bilder in den Kopf, sondern nur solche, die aus mittelmäßigen Fernsehkrimis stammten. So auch diesmal. Er sah einen Metzger im Kühlhaus, erschlagen von einer blutenden Rinderhälfte, die am Fleischerhaken von der Decke baumelte.

Karl zuckte mit den Schultern.

»Kommt nix mehr?«, fragte Homer und wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Karl, »vielleicht stranguliert er sich mit einer Wurst?«

Homer schaute fragend zu seiner Mutter, und Karl bedauerte, das Wort stranguliert benutzt zu haben. Sie schüttelte den Kopf, und auch Homer schüttelte den Kopf. »Kommt also nix mehr. Wie immer«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

Karl zuckte entschuldigend mit den Schultern.

»Metzger«, rief Homer plötzlich, »der Metzger springt über die Klinge. Ist doch klar, Metzger, Klinge, oder?« Er sah zu seiner Mutter, Frau Kircheisen, die nickte und wiederholte: »Das ist klar, Homer.« Sie legte ihre Hand auf seinen Rücken, als wollte sie ihn beruhigen. Karl kannte das. Wenn Frau Kircheisen Homers Ansicht nicht bestätigte, wurde er diskussionsfreudig. Und seine Freude hielt so lange an, bis endlich alle zustimmten, dass klar war, was Homer schon längst gewusst hatte.

»Der Metzger springt über die Klinge.« Karl schlug sich theatralisch gegen die Stirn. »Das hätte ich wirklich wissen können«, murmelte er.

Homer streckte ihm die Hand entgegen, um sich zu verabschieden. Zur Begrüßung hob Homer einfach nur die Hand, aber zum Abschied reichte er sie immer.

»Auf Wiedersehen«, sagte er.

»Auf Wiedersehen, Homer«, erwiderte Karl. Dann zog Homer mit dem Zeigefinger ein Augenlid herunter und murmelte: »Mach keinen Scheiß, Alter.«

»Neuer Film?«, frage Karl, und Frau Kircheisen nickte, lächelte Karl entschuldigend an, dann ging sie mit Homer weiter.

Es war kein Fehler, den Tag mit Homer zu beginnen.

Karl fiel ein Auto vom städtischen Umweltamt auf, das gerade rückwärts einparkte. Ein Mann und eine Frau stiegen aus, beide trugen Aktentaschen, der Mann in der rechten Hand, die Frau hatte sie sich über die Schulter gehängt. Sie gingen in das Haus gegenüber, und Karl fragte sich, was das städtische Umweltamt in einem Mehrfamilienhaus zu suchen hatte. Im Grunde wusste er überhaupt nicht, worum sich ein Umweltamt konkret kümmerte. Bei Umwelt dachte man doch an irgendwas mit Bäumen, irgendwas Grünes oder etwas, das mal grün gewesen war, aber sie würden ja in dem Haus kaum nach verwelkten Zimmerpflanzen gucken. Er hatte mal von einer zu hohen Nitratbelastung auf Äckern und Wiesen gelesen, aber wenn deshalb das Leitungswasser belastet wäre, würde sich das ja auf viele Häuser beziehen und nicht nur auf ein einziges. Wenn er die Frage, was ein Umweltamt tue, seinen Schülern stellen würde, würden drei Viertel aller Finger nach oben schnellen, vermutete Karl, und alle würden als Antwort geben, das Umweltamt kümmere sich um die Umwelt. Und es wäre eine dieser vielen Antworten, die nicht falsch wären, einen aber weder klüger noch glücklich machten. Karl hatte die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen Fragen nicht einfach beantworteten, sondern vor allem darüber nachdachten, ob die Antwort sie als dummen Menschen erscheinen ließ. Vor lauter Sorge als dumm angesehen zu werden, vergessen viele Menschen, dass auch die Möglichkeit besteht, klug oder gar aufregend zu wirken.

Karl sah eine der Hauptaufgaben als Lehrer darin, den Anteil an Antworten zu reduzieren, die keine Antworten waren, sondern unnötiger CO2-Ausstoß. Am Ende des Tages war jede dumme Antwort eine Klimasünde. In der Schule lernte man früh, dass es besser war, eine dumme Antwort zu geben, als gar keine Antwort, weil man so immerhin zeigte, dass man die Frage gehört hatte, und das konnte einen schon in hellem Licht strahlen lassen. Im Grunde sollte man Schulstunden einführen, in denen nur gefragt und keine einzige Antwort gegeben werden durfte, dachte Karl. Das würde zwar den Ausstoß an CO2 nicht reduzieren, aber den an Dummheit.

Er wünschte sich, dass Lydia jetzt zu ihm käme, ihn umarmen und eine Zeitlang mit ihm am Fenster stehen würde. Aber er wusste, dass Lydia es ihm nicht abnehmen würde, für seinen Tag zu kämpfen. Er atmete tief durch, streckte sich und ging dann die Treppe hinunter. Durch die offene Tür sah er seine Frau an der Spüle stehen, mit dem Rücken zu ihm. Er hörte das Wasser laufen, keine Bewegung ließ erkennen, dass sie ihn bemerkte. Vorsichtig schlich er sich von hinten an, und als er fast in Reichweite war, schnellte er nach vorne und umarmte sie schwungvoll. Er mochte ihren Körper, dieses Versprechen von geborgener Fülle. Einmal hatte er ihr gesagt, ihr Körper fühle sich an wie ein Nachhausekommen. Nachhausekommen, hatte sie sehr langsam wiederholt und dann süffisant gesagt, dass das nach einer richtig heißen Braut klinge.

Aber nach Hause kommt man doch gerne, hatte er geantwortet und, schon bevor die Worte sich in ihrer ganzen Unbeholfenheit vollständig ausgebreitet hatten, gemerkt, dass ihn jedes weitere Wort in Lydias Augen sehr, sehr wenig begehrenswert werden ließ. Es war ihm inzwischen selbst fast so vorgekommen, als habe er sich seine Muskeln weich geredet.

Erschrocken und erbost über die unerwartete Berührung drehte sie sich zu ihm um, aber bevor sie ihrem Ärger Luft verschaffen konnte, drückte er ihr die Lippen auf ihren Mund.

»Guten Morgen, meine Liebe.«

»Bist du verrückt, du erschreckst mich zu Tode.« Er spürte ihre Hände auf seinen Hüften, ihn eher wegdrückend denn seine Umarmung erwidernd.

»Guten Morgen«, wiederholte er. In ihren Augen sah er etwas Gefangenes, es war nichts Leichtes, und er vermutete, dass es das war, was auch er schon wahrgenommen hatte: der nachlässig über den Stuhl geworfene Pullover, der von der Lehne zu rutschen drohte. Die zerfledderten Zeitungen von gestern und vorgestern, die er vorgegeben hatte noch lesen zu wollen, was er aber doch nicht getan hatte, und wozu er wahrscheinlich auch heute nicht kommen würde, wie Lydia bereits gestern vermutet hatte, da mit dem heutigen Tag ja noch eine weitere Zeitung dazu käme. Die Tüte, die halb aus der Truhe hing, weil es ihm zu mühsam gewesen war, sie richtig hineinzustopfen und er geglaubt hatte, sie sowieso bald wieder zu gebrauchen. Die Socken, die er auf der Stange für die Küchenhandtücher zum Trocknen aufgehängt hatte, weil er in die Wasserlache getreten war, die Linus beim Versuch, ein Glas Wasser an den Tisch zu bringen, verursacht hatte. Und schon darüber hatte er sich mit Lydia in die Wolle bekommen, weil sie ihm vorgeworfen hatte, dass er das Glas viel zu voll eingeschenkt und Linus zusätzlich mit Fragen bombardiert habe, so dass der sich gar nicht auf das Glas Wasser habe konzentrieren können. Und die Pfanne stand auch noch auf dem Herd, in der er sich gestern Abend zwei Eier gebraten hatte. Es war nicht so, dass er sich nicht erinnerte, sich fest vorgenommen zu haben, heute Morgen vor Lydia aufzustehen, um Ordnung zu schaffen.

»Du musst nichts sagen«, sagte Karl, »ich sehe alles. Und es ist nicht so, dass es mir nicht leid tut. Aber«, fügte er hinzu, »man sieht auch oft genau das, was man sehen will.«

»Wenn du wenigstens auf deine Lebensweisheiten verzichten würdest, die machen alles noch viel schlimmer.« Karl wusste, dass er jetzt besser nichts mehr sagte. Wenn einmal das Wort alles gefallen war, war nichts mehr zu retten. Jede Erwiderung führte dazu, dass zu dem Wort alles noch das Wort immer dazukam. Und dann folgte unweigerlich noch das Adjektiv kaputt. Und dann hörte man in der ganzen Welt den immergleichen Satz, selbst wenn man sich die Ohren zuhielt: Du machst immer alles kaputt. Karl wusste nicht, ob es viele universelle Lebensweisheiten gab, aber das war eine.

»Ich mach’s wieder gut«, sagte er und gab Lydia noch einen Kuss auf die Wange, obwohl er wusste, dass der Kreislauf zwischen schlecht machen und wieder gut machen kaum zu durchbrechen war und sich immer weiter drehen würde, zu unterschiedlich waren ihre Vorstellungen von Ordnung. Was Lydia als Unordnung empfand, war für ihn ein Zeichen von Leben. Karl war der Auffassung, man müsse sehen, dass in den Räumen gelebt, geliebt und gearbeitet werde. Wohnen habe etwas mit Bewegung zu tun, wohnen sei ein Verb, ein Tunwort. Kein Zustand.

Denken sei auch ein Verb, meinte Lydia, aber das heiße nicht, dass man jeden Gedanken allen anderen mitteilen müsse. Vielmehr heiße Denken, die Gedanken zu ordnen. Außerdem wohne er, Karl, nicht alleine. Und ein Verb stehe auch selten alleine.

Karl mochte es sehr, wenn sie ihr Zusammenleben grammatikalisch in Einzelteile zerlegten und wenn sie am Ende trotz allem einen Satz bauen konnten, der Subjekt, Prädikat und Pronomen enthielt und ungefähr so lautete: Wir lieben uns. Oder zumindest: Wir mögen uns. Aber Karl kam es mittlerweile so vor, dass sie vermehrt Sätze bildeten, die aus dem Wir ein Ich machten, aus dem lieben ein habe und das Pronomen uns in das Adverb recht verwandelten. Kaum ein Lebensbereich, so kam es ihm vor, den sie nicht unterschiedlich betrachteten.

 

Um Viertel nach neun schob Karl das Fahrrad vom Hof auf die Straße. Bevor er sich auf den Sattel setzte, schaute er nach oben, um zu sehen, ob Lydia am Fenster stand. Karl hob die Hand, und Lydia hob ebenfalls die Hand. Er wollte nicht vergessen, dass Lydia es auch nicht leicht mit ihm hatte. Er wollte es auf jeden Fall heute den ganzen Tag über nicht vergessen und am Abend etwas Leichtigkeit mit nach Hause bringen. Mit diesem Gedanken schwang er sich aufs Rad und fuhr los. Er hatte noch viel Zeit und dachte, dass er vielleicht noch irgendwo einen Kaffee trinken könnte.

Auf den Straßen waren wieder Panzer unterwegs. Hieß es früher im Krieg: Männer an die Waffen, würde es im nächsten heißen: Männer in die Autos. Karl hielt es für nicht unwahrscheinlich, dass der Bau dieser hochgelegten Autos mit der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zusammenhing. Man hatte überlegt, was die Bevölkerung zu einer möglichen Landesverteidigung beitragen könnte, und Waffen produziert, die frei verkäuflich sind, eine Klimaanlage haben und auch Frauen gefallen könnten.

Karl atmete tief ein, wollte sich nicht aufregen, schon gar nicht über Autos. Bei Licht betrachtet, gab es zu viel, über das man sich aufregen konnte, im Grunde genommen reichte ein ganzes Leben nicht, um sich über alles aufzuregen, selbst wenn man es mit Warpgeschwindigkeit tat. Wahrscheinlich war das überhaupt die einzige Tätigkeit von allen möglichen Tätigkeiten, die man durchgehend ohne Pause machen konnte. Laut genauso wie lautlos, im Stehen, im Sitzen, beim Fahren, beim Sport, bei der Arbeit, in der Freizeit, im Urlaub sowieso, während des Essens, beim Einschlafen und beim Aufwachen. Wenn man einem Erfinder sagen würde, erfinde etwas, das nichts kostet, das jeder kann, egal wie alt, wie groß, wie dick oder dünn er ist, egal wie sprachmächtig, wie gebildet oder wie blöd er ist, egal welche Hautfarbe er hat, egal aus welchem Elternhaus er kommt, egal wie lang sein Vorstrafenregister ist, wenn man ihm sagen würde, alles, was im sonstigen Leben nicht egal ist, muss egal sein, und vor allem muss egal sein, ob jemand recht hat oder unrecht, dann wäre das einzig Mögliche, das der Erfinder erfinden könnte, das Sich-Aufregen.

Tatsächlich war ja nichts leichter, als sich aufzuregen, und nichts schwerer, als sich nicht aufzuregen. Die entscheidende Frage, so schien es Karl, war die, ob etwas es wert war, sich darüber aufzuregen. Seiner Meinung nach regten sich die meisten Menschen über das Falsche auf, deswegen war die Welt nämlich so, wie sie war. Karl fand es beispielsweise kurios, dass das Thema Energieverschwendung ausschließlich auf fossile Brennstoffe reduziert wurde und das Potential des Energiesparens beim Sich-über-das-Falsche-Aufregen überhaupt nicht beachtet wurde. Wollte man die Welt verbessern, müsste in der Schule die Frage behandelt werden: Wie kann ich erkennen, dass ich mich über das Richtige aufrege? Karl wollte diese Frage mit ins Gefängnis nehmen.

Er fühlte sich wohl, während er die Straßen entlangradelte, die Luft war angenehm kühl, es regnete nicht, und er freute sich auf das Gefängnis. Er liebte es, wenn ihn Gedanken umtrieben, die nicht von einer Sorge getragen waren. Irgendwie fühlte er sich dann aufgerichteter auf dem Rad, so als würde das Denken seine Muskeln straffen und seinen Rücken strecken.

Ihm fiel auf, dass das Wort aufregen mit dem Buchstaben a begann und das Wort denken mit d. Möglicherweise lag darin die Wurzel des Übels, denn der Mensch neigt ja dazu, Dinge in alphabetischer Reihenfolge abzuarbeiten, also zuerst a, dann b, dann c … Tatsächlich schien es Karl so zu sein, dass die meisten Menschen sich erst aufregten, bevor sie dachten. Möglicherweise kam deshalb so oft das Falsche dabei heraus, dachte er. Denn es war doch so: Wenn man sich zuerst aufregt und dann erst denkt, dann denkt man nicht mehr in alle Richtungen, sondern nur in die, bei der man vermutet, dass man sich nicht aufregen muss. Eine Weltverbesserung durch eine Auswechslung von Buchstaben. Denken sollte anken heißen und aufregen daufregen.

Karl merkte, dass hinter ihm ein Auto drängelte, die Straße war zu eng, als dass das Auto ihn überholen konnte. Er fuhr in eine Garagenzufahrt, bremste und blieb stehen, um das Auto vorbeizulassen. Hinter der Garage erblickte er das Netz eines Gartentrampolins. Es war bereits das vierte oder fünfte dieser Art, das ihm in den letzten Minuten aufgefallen war. Gartentrampoline mit Sicherheitsnetz waren es wert, sich über sie aufzuregen. Das stand für Karl außerhalb jeglicher Diskussion. Sie waren das Symbol für eine Welt, in der es immer weniger um die Wahrheit ging, stattdessen um den Anschein von Wahrheit. Die Wahrheit war: Kinder sollten quadratisch, praktisch, gut und mit möglichst wenig Keimen behaftet sein. Aber der Anschein der Wahrheit war: Kinder dürfen sich entfalten und toben. Dafür standen die Trampoline mit Sicherheitsnetz. Der Anschein der Wahrheit lautete: Kinder dürfen springen und toben und sind trotzdem sicher und behütet, aber die eigentliche Wahrheit hieß: Kinder sind Gefangene auf vier Quadratmetern und die Entdeckung der Welt darf nur in der Vertikalen stattfinden. Wie will man denken lernen, wenn man schon risikoarm spielen muss? Karl hatte mit Lydia noch nie über diese Trampoline gesprochen. Er wusste nicht, wie sie darüber dachte, insgeheim befürchtete er, dass sie die Dinger für eine gute Idee hielt. Sie arbeitete drei halbe Tage als Physiotherapeutin in einer Praxis, und Karl würde wetten, dass Trampolinspringen gut für den Bewegungsapparat war und von Ärzten und Apothekern empfohlen wurde.

Er erinnerte sich an eine Diskussion mit einem Gefangenen, der ihm mal gesagt hatte, dass es wahnsinnig viel Scheiße auf der Erde gäbe und dass es nicht das Problem sei, die Scheiße wegzuräumen, sondern dass es immer irgendein Arschloch gebe, das die Scheiße gut finde. Karl hatte im ersten Moment überlegt, ob er den Gefangenen bitten solle, eine andere Ausdrucksweise zu gebrauchen, sich dann aber dagegen entschieden, weil er befürchtete, dass der Gefangene genau das von ihm erwartete. Stattdessen hatte er gefragt, von welcher Scheiße er jetzt gerade rede, obwohl er insgeheim schon ahnte, dass damit wohl Rilkes Gedicht Der Panther gemeint war, das Karl in der Stunde behandelt hatte. Und genauso war es. Das Gedicht sei eine Poetisierung des Elends, meinte der Gefangene, etwas, das einen melancholisch auf die Welt blicken lasse, aber es mache einen nicht zornig, und deshalb sei es auch banal, belanglos, überflüssig.

Karl erinnerte sich an die Wut im Blick des Gefangenen, und mit einem Mal hatte er sich vorstellen können, zu welcher Gewalt der Mann fähig sein musste, denn schon der Zorn über dieses Gedicht hatte ihm die Halsschlagader hervortreten lassen. »Diese ganze Literaturkacke, mit der Sie uns immer kommen, das ist so falsch« hatte er gesagt, »das ist auch nur eine Droge, nicht besser als das, was die Jungs hier im Gefängnis nehmen, um sich zu betäuben. Diese Gedichte und Texte, das ist das Opium der Akademiker, die in ihre Sessel furzen und von einer besseren Welt träumen. Verstehst du, Lehrer, ein Gedicht hat die Welt noch nie besser gemacht. Du redest von Strophen, Versen, Wiederholungen, sagst Wörter wie bemerkenswert, erklärst, wie großartig Rilke dieses und jenes gemacht hat, aber steht einer auf und geht den Panther befreien? Steht einer auf?«

Seltsam, dachte Karl, dass ihm diese Geschichte, die bestimmt schon zwei Jahre her war, jetzt auf einmal bei dem Anblick der Gartentrampoline so deutlich in Erinnerung trat. Es war keine Begebenheit, an die er sich gern erinnerte, zumal ihm seine Entgegnung auf diesen Redeausbruch mehr als peinlich gewesen war.

»Aber auch nicht schlechter«, hatte er geantwortet und auf den fragenden Blick des Gefangenen wiederholt: »Ein Gedicht macht die Welt auch nicht schlechter.« Der Gefangene hatte ihn spöttisch angelächelt, als wäre er selbst überrascht über Karls selbsterniedrigende Antwort gewesen, war noch ein Stück näher an Karl herangetreten, so dass sich ihre Nasen fast berührten, und hatte süffisant gesagt: »Weißt du, was ihr Lehrer alle gemein habt? Ihr gebt euch mit so wenig zufrieden. Ihr habt immer Angst, dass jemand eine Tür aus den Angeln hebt, weil ihr meint, das sei Sachbeschädigung. Vielleicht ist das Pädagogik, das Licht im Allerkleinsten sehen. Ich weiß es nicht.«

 

Karl holte das Smartphone aus der Hosentasche und schaute auf die Uhr. Für einen Espresso würde die Zeit noch reichen. Er beschloss ins Stehcafé zu gehen. Er wusste gar nicht, wie das Café eigentlich hieß, auf jeden Fall nicht Stehcafé, aber weil es dort tatsächlich keine Sitzplätze gab, war es überall nur als Stehcafé bekannt. Karl fühlte sich jünger und auch attraktiver im Stehen. Obwohl er mit Mitte dreißig noch in keinem Alter war, das er mit einem alt versehen würde, so spürte er doch, dass das J der Jugend anfing, sich zu krümmen, um sich langsam, aber unabänderlich in ein a zu verwandeln.

Das Café war mit einer langen Fensterfront ausgestattet, vor dem ein schmales, dunkel geöltes Eichenbrett als eine Art Theke fungierte. Karl hatte einen Blick auf sein Fahrrad, auf dessen Gepäckträger er seine Tasche gelassen hatte. Es schien ihm nicht wirklich möglich zu sein, einen Kaffee zu genießen, wenn einem eine Tasche über der Schulter hing oder zwischen den Füßen abgestellt war. Kaffee ist ein ballaststoffreiches Getränk, weshalb man es nicht auch noch mit einer Tasche belastet trinken sollte, fand Karl. Ballastreich ohne Ballast, das bedeutete Kaffeegenuss. Er bestellte einen doppelten Espresso, schaute aus dem Fenster und beobachtete ein Paar, das Karl auf Mitte bis Ende vierzig schätzte und das gerade dabei war, sich voneinander zu verabschieden. Der Mann nahm das Gesicht der Frau zwischen seine Hände und küsste sie innig auf den Mund. Die Frau hielt die Augen geschlossen, und selbst als der Mann sich von ihren Lippen löste, blieb die Frau in der Haltung des Küssens. Die Augen geschlossen, die Lippen leicht gespitzt und den Kopf sehnsuchtsvoll nach vorne gestreckt.

Was für ein zauberhaftes Bild, dachte Karl. Ganz beseelt von der Gegenwart des Kusses, beschloss die Frau ihn nicht Vergangenheit werden zu lassen. Sie hielt einfach die Zeit an, um die Zukunft Gegenwart werden zu lassen. Obwohl Karl vermutete, dass die Trennung der beiden nur von kurzer Dauer wäre, vielleicht nur für Minuten, bis der Mann das Auto aus der Tiefgarage geholt hätte, trug der Kuss alle Zeiten mit sich und war ein Versprechen auf die Ewigkeit.

Karl überlegte, Lydia eine Nachricht zu schreiben. Stattdessen aber nahm er sein Smartphone und blätterte seine Kontakte durch. An dem Kontakt von Karoline Merlinger blieb er hängen. Einen kurzen Moment brauchte er, um sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Er hatte sie letztes Jahr bei einer Veranstaltung mehrerer Schulbuchverlage kennengelernt. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie miteinander ins Gespräch gekommen waren, geschweige denn, worüber sie gesprochen hatten, und auch nicht, was der Grund gewesen war, dass er ihre Mailadresse bekommen hatte. Er erinnerte sich, dass die Veranstaltung nicht besonders gut besucht gewesen war, sie hatte in einem Konferenzsaal eines nüchternen Hotelbaus aus den sechziger Jahren stattgefunden, der Kaffee war müder gewesen, als die, die ihn tranken, und die beigelegten Häppchen hatten den Eindruck erweckt, Überbleibsel einer anderen schlecht besuchten Veranstaltung zu sein. Aber Karoline Merlinger hatte gestrahlt. Karl hatte sich gewundert, weil ihr Gesicht in so großem Gegensatz zu den Gesichtern der anderen Verlagsvertreter gestanden hatte, die deutliche Enttäuschung über das mangelnde Besucherinteresse widergespiegelt hatten. Jetzt in der Erinnerung meinte er sich zu entsinnen, dass er sie gefragt hatte, ob ihre gute Laune Ausdruck professionellen Verhaltens sei oder tatsächlich einen Wahrheitsgehalt habe. Karl musste lächeln, als ihm ihre Antwort wieder in den Sinn kam: »Ich bin jetzt hier und kann nicht woanders sein«, hatte sie gesagt.

Seltsam, dachte Karl erneut, dass er das alles vergessen hatte. Der Kontakt in seinem Smartphone war jungfräulich. Es war nie eine Nachricht zwischen ihnen ausgetauscht worden. Er fing an zu tippen:

 

Hallo Karoline Merlinger,

ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Wir trafen uns letztes Jahr im April bei einer Veranstaltung, bei der Sie die neuen Schulmaterialien Ihres Verlages vorstellten. Sie mögen mir vielleicht recht geben, dass es insgesamt eine recht trostlose Unternehmung war. Nun ist es allerdings nicht so, dass es die Trostlosigkeit ist, deretwegen ich mich an Sie erinnere. Vielmehr ist es so, dass ich öfter daran denke, dass ich gerade jetzt hier bin, wo ich gerade bin und nicht woanders sein kann. Das ist eine recht schöne Erkenntnis, wie ich finde, und eine Erinnerung, dass die Sonne scheint, auch wenn man sie nicht sieht.

Karl Löffelhans

 

Karl nahm den letzten Schluck Espresso und lächelte still vor sich hin. In diesem Moment stand der Kellner neben ihm. Ihre Blicke trafen sich.

»Schmeckt Ihnen der Espresso?«, fragte der Kellner.

Karl nickte.

»Dann müssen Sie ihn leider auch bezahlen«, sagte der Kellner mit einem Lachen.

 

Während er zum Gefängnis radelte, riss tatsächlich der Himmel auf und die Sonne kam zum Vorschein. Verrückt, dachte Karl und fragte sich, ob Karoline Merlinger seine Mail vielleicht gerade las und auch mitbekam, was am Himmel vor sich ging.